»Mein lieber Brüdi!« (eBook)
360 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77395-6 (ISBN)
Brüdi - so wurde Martin, der jüngste Sohn Hermann Hesses, von der Familie genannt.
Als Hermann Hesse im April 1919 seine Familie verließ, um im Tessin auf der Südseite der Alpen ein ungebundenes Leben zu führen, kamen seine drei Söhne zu Pflegefamilien oder ins Heim. Ein Schock vor allem für Martin, gerade sieben Jahre alt. Wie Hesses erste Ehefrau Mia, die wegen einer manisch-depressiven Erkrankung immer wieder in Heilanstalten war, litt Martin unter dieser psychischen Erkrankung, die letztlich wohl auch zu seinem Freitod 1968 führte.
Der 1919 beginnende und sich bis zu Hermann Hesses Tod 1962 fortsetzende Briefwechsel ist das eindrucksvolle Dokument einer Annäherung von Vater und Sohn, der Versuch, verlorenes Vertrauen mittels Briefgespräch neu herzustellen.
Hier findet Hermann Hesse nach und nach zu seiner anfangs verweigerten Vaterrolle. Immer offener sprechen Vater und Sohn von ihren unerfüllten Hoffnungen und wachsenden Lebenszweifeln. Martin, der künstlerisch begabteste und zugleich labilste der Söhne, der Fotograf wird, gesteht: »Ich bin viel in der Dunkelkammer, mehr als mir lieb ist.« Martins Fotos des Vaters, über Jahrzehnte entstanden und zu Ikonen geworden, bezeugen wiedergefundene Nähe.
Der Briefwechsel ist nicht nur in biografischer Hinsicht ein Ereignis. Denn im Gespräch beider entsteht zugleich eine Alltagsgeschichte der Schweiz von 1919 bis 1962.
<p>Hermann Hesse, geboren am 2.7.1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen, starb am 9.8.1962 in Montagnola bei Lugano.</p> <p>Er wurde 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur, 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nach einer Buchhändlerlehre war er seit 1904 freier Schriftsteller, zunächst in Gaienhofen am Bodensee, später im Tessin.</p> <p>Er ist einer der bekanntesten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. </p>
50. Hermann Hesse an Martin in Thun, Typoskript mit Aquarell
[Montagnola] Juli 1929
Lieber Martin
… Das Leben bringt jedem Menschen allerlei Widerwärtiges, dem einen körperliches Leiden, dem andern andre Nöte, aber alles lässt sich ertragen, und alles Hübsche und Frohe im Leben wird doppelt froh und schön, wenn man eine Arbeit hat, die einen freut und der man sich gern hingibt.
Hier haben wir eine gewaltige Hitze, und die eidgenössischen Schützen aus Bellinzona, die man hie und da in Lugano herumlaufen sieht, haben violette Köpfe unter ihren Schützenhüten. Alles seufzt nach Regen, und schliesslich wird er ja auch einmal kommen. Mein Geburtstagsgeschenk wird Mutti Dir geben. Ich denke manchmal an so einem heissen strahlenden Sonntagmorgen, wie auch jetzt grade einer ist, an Dich und denke mir dann gern, dass Du einen Deiner Fischplätze an der Aare aufsuchst oder mit dem Boot ausrückst und deine Wasserfreuden suchst.
Leb wohl, Martin, ich schicke Dir einen Kuss und meine herzlichen Wünsche und Grüsse! Dein Vater
51. Martin an seinen Vater in Montagnola
Thun, den 19. August [1929]
Lieber Vater!
Du wirst nicht gerade entzückt sein, dass ich dir so lange nicht geschrieben habe. Für dein Geburtstagsgeschenk danke ich dir vielmal. Das Geld konnte ich gut gebrauchen, da ich einen Kahn aus Deutschland bestellte, wie du keinen gesehen hast. Die Form entspricht dem Eskimo-Kajak. Er ist 5½ Meter lang und 40 Centimeter breit. Heute holte ich ihn auf dem Güterbahnhof ab. Er ist einfach wunderbar. Der 1. in der Schweiz. Der Bootsbauer bezeichnet ihn als »reinrassigen Kajak«. Ich baue jetzt selbst einen zum Falten. Er kommt mir auf rund Fr. 150.–, und verkaufen kann ich ihn ca. für Fr. 220.–.
In meinem Zweiplätzer fuhr ich neulich mit der Mutter nach Bern und passierte in Bern (allein!) die Schwellen. Anfangs Juli kam ich in einigen Zeitungen als erster Bezwinger der Aarefälle im Faltboot. Die Fälle sind nicht ungefährlich, aber mit etwas Mut bringt man viel fertig.
Der neue Kahn ist sehr labil, was jedoch nicht viel zu sagen hat, da er ganz wasserdicht abschliesst, man soll ganz mit dem Boot verwachsen sein. Man kann sogar kentern und sich wieder aufrichten, sogar unten durch drehen. Du wirst die schematische Zeichnung schon verstehen! Dazu gehört natürlich viel Technik. Aber mit Zeit und Geduld wird es schon zu machen sein. …
Letzthin habe ich in der Aare meinen 2. Hecht gefangen, mit diesen schlauen Kerlen habe ich den Kniff noch nicht ganz draussen …
Viele Grüsse, Martin, Grüsse von Mutti
52. Hermann Hesse an Martin in Thun, Typoskript
Montagnola, 29. August 1929
Lieber Martin
… Da du in so grosse Unternehmungen verwickelt bist, Kauf jenes prächtigen Kajaks und zugleich Bau eines eigenen Faltboots, schicke ich dir hier nochmals einen kleinen Geldbeitrag dazu. …
Der Bericht über dein neues Boot und über deine letzten Aarefahrten hat mich lebhaft interessiert. Hoffentlich gelingt es dir auch noch, das neue Boot völlig dicht anzupassen, sonst hat es ja keinen grossen Wert. Dass die grosse Labilität ein Reiz mehr sein kann, begreife ich zwar sehr gut, aber wenn bei einem sehr labilen Boot jedes Kippen bedeutet, dass man den Kahn voll Wasser kriegt, dann ist der Zweck des Ideal-Kajaks halt doch nicht erreicht.
Nun, du wirst das schon herauskriegen. Ich freue mich über das, was das Boot und die Fahrten dir bedeuten, und bin froh darüber, dass du diese Freude am Wasser, an den Fischen und am Rudern hast. Ich habe gar kein Verständnis und Mitgefühl für alle jene Arten von Sport, die im Grund bloss auf Mechanik hinauslaufen, wie alles Motorfahren etc., aber bei deinem Sport gefällt mir das sehr, dass er dich ein Stück Natur sehr genau kennen lehrt. Natürlich gehört auch die Übung und das Selbstgefühl bezwungener Schwierigkeiten dazu. …
Vielleicht erlebe ich es noch, dass du mir später einmal für meine alten Tage ein nettes kleines Häuschen baust, das wäre hübsch! …
Es grüsst dich herzlich
Dein Vater H. H.
53. Hermann Hesse an Martin in Thun, Typoskript mit Aquarell
[Zürich] November 1929
Lieber Martin
Danke für deinen Brief, ich bin froh darüber, dich in Bern sehen zu können. Billette für die Vorlesung für dich und Mutti habe ich bestellt.
Was du über Brunos Landkauf sagst, finde ich ganz richtig. Ich bin sehr dafür, dass Bruno noch mehr Land erwirbt, vielleicht sprichst du mit Mutti noch drüber, welche Stücke noch besonders in Betracht kämen. Ich gebe Bruno für diese Sache gern das Geld, und gebe gern nochmals oder noch mehrmals den gleichen Betrag wie neulich.
Diesen Winter gehe ich wieder zum Skilaufen, und zwar nach St. Moritz. Ein Freund hat mich eingeladen, er bezahlt mir das, was St. Moritz mehr kostet als Arosa, aber auch so wird es sehr teuer werden, ich habe das ganze Jahr dafür gespart.
Mit der Gesundheit geht es mässig, und mit den Augen recht schlecht. Heiner hat streng zu tun, und jetzt beschäftigt ihn am Feierabend das Einrichten seiner neuen Bude. Sie ist ganz in meiner Nähe.
Also am 5. [Dezember] sehen wir uns. Viele Grüsse von
Deinem Vater H.
54. Martin an seinen Vater in Zürich, Handschrift
Thun, 6. Januar 1930
Lieber Vater!
… Hoffentlich kann ich jetzt dann noch meinen 1 Plätzer Faltkahn verkaufen, dann baue ich vielleicht wieder einen Zweier. Ich werde jetzt dann mit Wassmer[31] Hans unterhandeln. In letzter Zeit war ich einige Male auf dem Wasser und habe mir einen Schnupfen geholt, was zwar jeden Winter obligatorisch ist. Sonst erkälte ich mich nie, wenn ich schon bei 10 Grad unter null in die Aare falle, wie letztes Jahr beim Fischen.
An Weihnachten waren Hellen, Heiner und Bruno hier. Ich selber hatte am 1. und 2. Januar frei. Ich arbeitete an meinem Fischzeug für den 1. Februar. Ich ging in letzter Zeit mit meinem Fischerfreund aus Kirchdorf, der jetzt verheiratet ist und ein nettes Mädchen hat, einige Male an die Aare. Ich fing in 1 Stunde 9 Forellen, während ihm ein Hecht 2 Mal an die Angel kam, jedoch nur den Köder wegriss …
Im Geschäft haben wir ziemlich viel Arbeit. Bei Rechtsanwalt Ohse aus Berlin, welcher die Villa am See bauen liess, endet es jetzt mit einem Prozess. Ich war heute den ganzen Tag auf dem Schloss und mit dem Gerichtspräsidenten und anderen Leuten auf dem Bauplatz; das ist auch interessant. Sonst zeichne ich meistens, morgen werde ich abwesend sein, um eine Geländeaufnahme zu machen …
Jetzt wirst du dann wohl nach Arosa gehen zum Skifahren und Sonnen. Geht es dir jetzt mit den Augen besser?
Viele Grüsse
dein Martin
55. Martin an seinen Vater in Zürich, Handschrift
Thun, 25. März 1930
Lieber Vater!
… Du hast doch so viele Bekannte, könntest du mir keine Bestellungen verschaffen? Die Boote sind 1a, da wir nur erstklassiges Material verwenden, ohne Rücksicht auf die Selbstkosten. Eschenholz, Kupfer, Messing, 7-faches Gummituch etc. Zubehör liefern wir auch, wie Segel, Ruder usw. Der 2er kommt auf Fr. 350.–, der 1er auf Fr. 320.–, ohne Zubehör, d. h. ohne Segel.
Eine gute und billige Reklame wäre es, wenn man in einer Illustrierten einen Artikel mit Bildern veröffentlichen könnte mit...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2023 |
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Illustrationen | Martin Hesse |
Mitarbeit |
Stellvertretende Herausgeber: Sibylle Siegenthaler-Hesse, Hanspeter Siegenthaler, Martin Siegenthaler, Matthias Siegenthaler |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Berühmter Vater • Briefe • Briefwechsel • bücher neuerscheinungen • Heinrich-Mann-Preis 2016 • Hermann Hesse • Kinder berühmter Eltern • Korrespondenz • Martin Hesse • Neuerscheinungen • neues Buch • Nobelpreis für Literatur 1946 • Söhne von Hermann Hesse • Vater-Sohn-Beziehung |
ISBN-10 | 3-518-77395-X / 351877395X |
ISBN-13 | 978-3-518-77395-6 / 9783518773956 |
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