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Wie Kinder fühlen -  Udo Baer,  Gabriele Frick-Baer

Wie Kinder fühlen (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
211 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86665-3 (ISBN)
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Dieses Buch führt besonders einfühlsam vor Augen, wie Kinder fühlen, worin sich ihr Fühlen von dem Erwachsener unterscheidet und welche Hintergründe es hat. Es zeigt, wie Kinder beim Fühlenlernen unterstützt werden können, damit sie lernen, ihre Gefühle als Wegweiser durchs Leben zu nutzen. In Kindern bewegt sich ein reiches und vielfältiges Gefühlsleben, von dem mehr zu wissen und daran teilzuhaben für Eltern eine Bereicherung sein kann. Dieses Buch führt einfühlsam vor Augen, wie Kinder fühlen, worin sich ihr Fühlen von dem Erwachsener unterscheidet und welche Ursachen oder Auslöser Gefühle haben. Beschrieben werden zahlreiche Gefühle, die großen Raum im Leben von Kindern einnehmen, wie Liebe, Schuld, Scham, Einsamkeit und Gerechtigkeit. Die Autor_innen zeigen, wie Kinder beim Fühlenlernen unterstützt werden können, damit sie ihre Gefühle als Wegweiser durchs Leben zu nutzen wissen. Und was Erwachsene im Umgang mit Kindergefühlen brauchen, damit sie diese ernst nehmen und besser verstehen. Eine Pflichtlektüre für Eltern und pädagogische Fachkräfte.

Dr. Udo Baer ist Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI), Vorsitzender der Stiftung Würde und Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin. Autor u.a. von »Das große Buch der Gefühle«, »Das Abc der Gefühle« und »Wie Kinder fühlen«. Udo Baer ist Mitinitiator der Kinderwürde-Plattform, die sich an alle wendet, die sich für die Würde der Kinder engagieren. Ganz gleich, ob Sie Eltern sind oder Erzieher*innen oder Lehrer*innen, Therapeut*innen oder andere pädagogische Fachkräfte. Zur Kinderwürde gehört, allem entgegenzutreten, was diese Würde verletzt und bedroht.

Begeisterung und Leidenschaft


Den Gefühlen der jüngeren Kinder mangelt es an Grautönen. Je jünger sie sind, desto entschiedener sind ihre Gefühle. Ja oder Nein, Zuneigung oder Ablehnung herrschen vor, Zwischentöne gibt es selten. Diese entwickeln sich erst mit zunehmendem Alter. Ein Ausdruck der Intensität kindlichen Fühlens ist ihre Begeisterung, ein wunderbares, ein schillerndes, ein leuchtendes Gefühl. Jede Begeisterung ist eine Begeisterung für etwas, also ein Gefühl, das nicht von etwas wegstrebt, sondern auf etwas hin. Begeisterung ist ein gerichtetes Fühlen beziehungsweise ein Fühlen, das das Gerichtetsein intensiviert. Ob sich Kinder für die christliche Weihnachtsgeschichte, eine Kampfsportart oder eine Modelleisenbahn begeistern – immer beinhaltet die Begeisterung ein Sichzuwenden. Sie ist ein über die Zwischenstufe Neugier gesteigertes Interesse, das zumindest zeitweise das ganze Kind in seinem Erleben erfasst und auf ein Objekt oder Ziel hin ausrichtet.

Die Leidenschaft ist eine nochmalige Steigerung, die zumindest zuerst einmal und zumeist nicht das sprichwörtliche Leiden schafft, sondern Freude, Intensität, Aktivität und Hingabe. Leidenschaft kann Flügel verleihen und Berge versetzen.

Werden Interesse und Neugier nicht gekappt, sondern unterstützt, wird Begeisterung bei Kindern zugelassen, wird Leidenschaft erlaubt, werden all diese Gefühle vorgelebt und nicht im Nebel emotionaler Dämpfung niedergehalten, dann können Begeisterung und Leidenschaft auch in Kindern höheren Alters lebendig bleiben und sie in das Erwachsenenleben hinein begleiten.

Begeisterung und Leidenschaft der Kinder brauchen Spielräume. Leiden schaffen sie nur dort, wo Depression vorherrscht, wo der Gegenstand, auf den sich Begeisterung und Leidenschaft richten, sich ihnen entzieht oder ihnen entzogen wird – durch Verbote oder Abwertung. Greta entdeckte als Neunjährige während eines Urlaubs ihre Begeisterung für das Kanufahren. Die Eltern hielten dies für einen Spleen und nahmen ihre Begeisterung nicht ernst. Sie wiegelten ab: »Ach, das wird sich schon wieder legen. Es hat sich schon so vieles wieder gelegt.« Doch die Begeisterung ihrer Tochter war keine Eintagsfliege. Greta blieb hartnäckig und schließlich gelang es ihr, einem Kanusportverein beizutreten, bei dem sie begeistert mitmachen und ihrer Kanuleidenschaft nachgehen konnte. Inzwischen war sie zwölf Jahre alt geworden – es hatte drei Jahre gedauert, drei Jahre, in denen sie hartnäckig der Spur ihrer Begeisterung gefolgt war, bis sie endlich ihre Leidenschaft leben konnte.

Oft flackern Begeisterungsstürme und Leidenschaften bei Kindern auf, halten sich aber nicht lange. Sind sie deshalb weniger wertvoll? Verdienen Sie deshalb weniger Beachtung? Wir meinen nicht – auch wenn es uns zugegebenermaßen ein oft gehöriges beziehungsweise ungehöriges Maß an Flexibilität und sogenannter Frustrationstoleranz abverlangt.

Vielleicht hilft es uns Erwachsenen, bei jeder Entscheidung für ein Interesse des Kindes, das mit Aufwand, Geld, Verantwortungsübernahme (zum Beispiel für Tiere) verbunden ist, diese Tatsache einzubeziehen. Das erspart uns, ein Interesse abzuwerten und moralische Appelle ans Durchhaltevermögen zu halten, ohne dass wir unsere eigenen Interessen aus den Augen verlieren müssen.

Sehnsucht


Eine Besonderheit kindlichen Erlebens äußert sich in seiner Unbekümmertheit. Sich unbefangen der Gegenwart hinzugeben, im Hier und Jetzt zu leben – das ist ein Grundmerkmal des Kindseins. Wo soll da noch Platz für Sehnsucht sein? Oh ja, es ist Platz, und nicht nur das, das kindliche Sehnen birgt eine gewaltige Kraft.

Um diese Kraft zu verstehen, ist das Sehnen zuerst einmal vom Wünschen zu unterscheiden. Die Wunschzettel der Kinder sind oft lang. Dass sich manche Wünsche erfüllen und andere nicht, ist Alltagserfahrung und gilt nicht nur zu Weihnachten. Sehnen ist tiefer, ausholender und weiter gerichtet als Wünschen. Sehnen richtet sich auf ein Objekt, das nicht in Reichweite ist. Um das ersehnte Ziel zu erreichen, entfalten Kinder Aktivitäten oder, wenn dies nicht möglich ist beziehungsweise sich erschöpft, sie verzehren sich innerlich.

In der Therapie begegnet uns rückwärts gewandtes Sehnen, zum Beispiel danach, dass die Zeit wiederkommt, in der »die Mama nur mich lieb hatte« oder in der »der Papa noch bei uns wohnte«. Dieses rückwärtsgewandte Sehnen kann Kinder vollständig gefangen nehmen und ihr Tun und Fühlen bestimmen.

Rückwärts gewandte Sehnsüchte haben die Eigenschaft, meist unerfüllbar zu sein. Wenn Kinder der Unerfüllbarkeit begegnen, aber vom Sehnen nicht lassen wollen, dann kann sich die ungestillte Sehnsucht in Melancholie verwandeln, kann der Schleier der Depression das Kind einhüllen. Es zieht sich nach innen zurück und wird innerlich eng und starr. Spätestens dann brauchen Kinder Hilfe, möglichst aber schon vorher. Die rückwärts gewandte Sehnsucht verhindert zweierlei: sowohl das Trauern und Loslassen als auch die Chance, dass sich die Sehnsucht nach vorn, auf die Zukunft richtet. Wer sich mit aller Kraft nach dem Vater sehnt, der vor drei Jahren die Familie verlassen hat, kann ihn nicht wieder herbeiholen. »Eigentlich« stünde Loslassen an: Der Vater ist weg und das Kind kann ihn nicht zurückholen. »Eigentlich« müsste das Kind loslassen und trauern. »Eigentlich« ist die Sehnsucht nach dem vergangenen Familienglück unsinnig und unvernünftig. Doch die Sehnsucht ist wie alle Gefühle unvernünftig im Sinne der Logik, nichtsdestotrotz stimmig und sinnvoll. Solche Sehnsüchte der Kinder kann man ihnen nicht ausreden. Es gilt vielmehr, sie ernst zu nehmen und herauszufinden, welche Kraft und welches Bedürfnis in ihnen stecken. Wir fragten einen Jungen, der sich stumm nach seinem »verschwundenen« Vater verzehrte, was er denn gern mit dem Papa gemacht habe. Und der Junge begann zu erzählen, vom Fußballspielen, vom Besuch in der Eisdiele im Sommer, immer samstags vor der Sportschau, und davon, dass er oft mit dem Vater gekämpft habe. »Papa war der Wolf und ich war der Jäger. Ich hatte mein Gewehr verloren, war aber so stark, dass ich trotzdem immer gegen den Wolf gewonnen habe.«

Wird das Sehnen konkretisiert, dann wird es greifbar und handhabbar. Es bleibt nicht mehr außer Reichweite, sondern rückt näher, und das Kind kann dann mit der Unterstützung Erwachsener differenzieren zwischen dem, was nicht mehr geht, und dem, wonach es lohnt, sich zu sehnen. Der Vater kommt nicht wieder. Das ist traurig, aber da hilft alles Sehnen nichts, und es lohnt sich für den Jungen, sich Menschen zu wünschen, mit denen er Fußball spielen und er selbst Jäger und der andere Wolf oder umgekehrt sein kann, mit denen er Eis essen und vieles andere von dem machen kann, was er mit seinem Vater verbindet. Wenn das Sehnen so konkret ist und differenziert werden kann, dann kann auch die Trauer ausgesprochen und der Schmerz lebendig werden, dann kann die Kraft freigesetzt werden, die in dem Sehnen steckt, und ermöglicht, dass das Verlangen die zu kurz gekommenen Bedürfnisse stillt.

Das vorwärts gewandte Sehnen der Kinder beinhaltet immer Lebensträume und Lebensenergie. Von seinen zahlreichen Aspekten, die zu beleuchten den Rahmen dieses Buches sprengen würde, ist uns vor allem einer wichtig. Wir haben häufig beobachtet, dass die Sehnsüchte der Kinder viel weniger kompliziert und großartig sind als die Sehnsüchte vieler Erwachsener. Ja, oft erscheinen sie im besten Sinne »einfach«: die Sehnsucht, sich mit anderen zu unterhalten, die Sehnsucht, gemeinsam Mittag zu essen, die Sehnsucht, umarmt zu werden, die Sehnsucht, gesehen und gehört zu werden, die Sehnsucht, zu spielen, gemeinsam zu spielen, die Sehnsucht, mit einem Gegenüber zu ringen, die Sehnsucht, am Samstagabend zusammen einen Film zu schauen, die Sehnsucht, ein Haustier haben zu dürfen, und Ähnliches.. Ein 14-jähriges Mädchen, Ellen, lebt allein mit seiner Mutter. Der Vater ist schon lange weg und die Mutter psychisch krank und überfordert. Das Mädchen läuft häufig von zu Hause weg, möchte gern im Heim unterkommen. Dort wird es nicht genommen, weil es keine Schläge oder sonstige Aufnahmegründe vorweisen kann. Gefragt, was sie sich denn sehnlichst wünscht, antwortet Ellen: »Dass immer etwas im Kühlschrank ist und dass einmal am Tag gekocht wird und wir zusammen essen und dass ich...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
ISBN-10 3-407-86665-8 / 3407866658
ISBN-13 978-3-407-86665-3 / 9783407866653
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