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Jeder schreibt für sich allein (eBook)

Schriftsteller im Nationalsozialismus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
366 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75593-4 (ISBN)
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Wer als Autor im Dritten Reich publizieren wollte, musste sich offiziell registrieren lassen als Mitglied der Reichsschrifttumskammer. Aber was bedeutete das? Wieviel Anpassung wurde verlangt? Wie war das Verhältnis zum Staat und wie das Selbstverständnis als Repräsentant des deutschen Geisteslebens? Hielt man Kontakt zu emigrierten Kollegen? Und wie stellte man sich zur Verfolgung und Deportation der Juden? Anatol Regnier hat für dieses Buch Schriftstellernachlässe und Verlagskorrespondenz gesichtet und lässt die Protagonisten ausführlich selbst zu Wort kommen. Überzeugte Nazis sind darunter, andere glaubten, das Richtige zu tun und taten das Falsche. War man als Dagebliebener, wie man sich auch drehte und wendete, Teil des Systems? Oder war es möglich, als Schriftsteller im nationalsozialistischen Deutschland integer zu bleiben? Die Befunde sind oft überraschend ambivalent und sehr viel differenzierter, als die Schwarz-Weiß-Logik Nazi/Antinazi vermuten lässt.
Dieses Buch handelt von Schriftstellern im nationalsozialistischen Deutschland, ihrem Spagat zwischen Anpassung und künstlerischer Integrität unter den Bedingungen der Diktatur. Opportunisten und Konjunkturritter sind dabei, aber auch Autoren, die nur ihrer Arbeit nachgehen wollten und versuchten, moralisch sauber zu bleiben. Mit leichter Hand verknüpft Anatol Regnier die Biografien von Hans Fallada und Erich Kästner, Agnes Miegel und Ina Seidel, Gottfried Benn, Hanns Johst und Will Vesper. Es sind Geschichten von überraschender Widersprüchlichkeit, die das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens im Dritten Reich abbilden.

Anatol Regnier ist Klassischer Gitarrist, Chansonsänger und freier Autor. Er wurde 2005 mit dem Ernst Hoferichter Preis und 2012 mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet.

Einleitung


Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen befreit. Ich war damals 21 Tage alt. Fünf Monate später war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wir lebten auf dem Land, von Nachkriegsnot merkte ich nichts. Gemüse lieferte der Garten, Milch und Eier der Bauer nebenan. Auf Briefmarken alter Kuverts, mit denen ich spielte, war der Kopf eines Mannes zu sehen – «Hitler», sagte man mir.

Der erste Eindruck von München: zerstörte Häuser, Polizisten in weißen Mänteln, die den Verkehr regelten, Amerikaner in Jeeps, langsam und lässig vorbeirollend, unerreichbar für uns, wir bewunderten, ich möchte sagen: liebten sie. In den Geschäften gab es alles. Einmal herrschte Zuckerknappheit, man bekam ein paar Wochen lang nur eine begrenzte Menge, dann war alles wieder normal. Der Bundespräsident hieß Heuss, der Bundeskanzler Adenauer, ein Dollar war vier Mark wert, und wer in Läden der amerikanischen Army und Air Force, den sogenannten PX-Stores, einkaufen konnte oder echte amerikanische Zigaretten rauchte (man erkannte sie sofort an ihrer Länge), war etwas Besonderes. Amerika war das Maß aller Dinge, Inbegriff des Guten, Sanften, Helfenden. Solange die Amerikaner da waren, schien es, konnte nichts Schlimmes passieren. In den Zeitungen nur Erfolgsmeldungen: steigende Produktion, Vollbeschäftigung, immer neue Rekorde. Es gab nur eine Richtung: nach oben. Die Ruinen verschwanden nach und nach, die Wohnungsnot ebbte ab. Irgendwann hatten auch wir ein Auto, ein paar Jahre später ein zweites, besseres.

Trotzdem war ich nicht gerne deutsch, und die Erwachsenen, meinte ich zu spüren, waren es auch nicht. Ich empfand die Atmosphäre als bedrückt und belastet, ohne zu wissen warum. Es ging uns gut, wir hatten alles, dennoch hatte alles Deutsche, zumindest für mich, einen schlechten Klang. Das Land schien irgendwie schlecht gelaunt. Unser Wohlergehen war anscheinend Gottes Gebot, aber von Leichtigkeit und Eleganz keine Spur. Woran lag das? Ich hätte es nicht benennen können, aber merkte oder glaubte zu merken, dass Franzosen, Schweizer, Niederländer, Norweger, die gelegentlich zu uns kamen, ein anderes Selbstbewusstsein mitbrachten, aufrechter durchs Leben gingen als die Deutschen um mich herum, sogar als meine Eltern, die als Künstler bekannt und geachtet waren.

Wurde bei uns über Politik gesprochen? Ja und nein. Die Wiederbewaffnung war ein großes Thema, Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß eine Reiz- und Hassfigur, die Angst vor einem Atomkrieg durchaus präsent. Oma Goldi, die Mutter meines Vaters, trug eine Anstecknadel mit der Aufschrift «Pax» am Revers. Dass die deutsche Vergangenheit schlecht, sehr schlecht gewesen war, lag als Selbstverständlichkeit in der Luft, übrigens nicht nur im Elternhaus, sondern auch bei allen anderen, bei unseren Lehrern, der Frau im Kiosk, der Bäckerin, dem Schuster, dem Kohlenhändler. Gelegentlich sagte jemand: «Der Hitler war an allem schuld» oder: «Beim Hitler hätte es das nicht gegeben», letzteres aber geduckt, sozusagen abseits. Deutscher Nationalstolz existierte nicht. Ich fand das gut: Worauf sollte man als Deutscher stolz sein? Ich war es jedenfalls nicht.

Was diesem Gefühl zugrunde lag, wurde auch in meiner aufgeklärten Familie nicht besprochen. Es wurde nichts verheimlicht und nichts beschönigt, aber auch nichts analysiert. Dass meine Mutter Pamela Wedekind von 1934 bis 1942 an Gustaf Gründgens’ Preußischem Staatstheater gespielt hatte, war bekannt und galt nicht als ehrenrührig – war Gründgens doch immer noch Deutschlands erster Theatermann. Bekannt war auch, dass sich mein Vater Charles Regnier um den Krieg gedrückt hatte – keinen Tag seines Lebens habe er eine Uniform tragen wollen, das habe er sich als junger Mann geschworen, und er war stolz darauf, es geschafft zu haben. Er war 1935 ein paar Monate im KZ gewesen, auch das war bekannt, später erfuhr ich: wegen Homosexualität. Man habe seinen Schädel vermessen, um irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen, viel mehr sagte er nicht. Es gab Erzählungen über die Bombennächte in München, das Sitzen im Luftschutzkeller, das Radeln zu den Münchner Kammerspielen durch zerstörte Straßen, für uns klang das gruselig, aber auch romantisch, in jedem Fall faszinierend, vor allem im Vergleich zur langweiligen Gegenwart. Aber ernsthafte Gespräche über die Vergangenheit, ein Beleuchten des Nationalsozialismus, in dem man schließlich zwölf Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte, gab es nicht. Heute weiß ich: Es hätte eine Überprüfung auch der eigenen Rolle erfordert, unbedeutend wie sie gewesen sein mag. Dazu waren meine Eltern von sich aus nicht bereit, und wir haben sie nicht gedrängt. Vielleicht wollten sie ihre Kinder schonen. Oder sich selbst. Vielleicht hielten sie eine solche Diskussion auch einfach nicht für notwendig.

Das Erwachen kam für mich als Musikstudent in London mit sechzehn Jahren. Ich lernte jüdische Jugendliche meines Alters kennen, wie ich von Pubertätsnöten geplagt, von sexuellem Begehren getrieben. Sie mochten mich und beäugten mich: ein Deutscher. Und ich, ohne Schuldbewusstsein aufgewachsen, fühlte mich plötzlich schuldig. Die Zahl «sechs Millionen», seit langem bekannt und gedankenlos referiert, wurde zur furchtbaren Realität. War das wirklich geschehen? Hatte es das wirklich gegeben? Die fabrikmäßige Ermordung von Millionen Menschen durch das deutsche Volk, dem ich angehörte? Ja, das hatte es gegeben, und kein Deuteln half darüber hinweg. Waren meine Eltern daran beteiligt? Nein, unmittelbar nicht. Aber sie waren dabei gewesen, hatten erlebt, wie jüdische Nachbarn Wohnung und Arbeit verloren und plötzlich nicht mehr da waren, hatten es hingenommen, während sie morgens aufstanden, einkaufen gingen, Trambahn fuhren, Briefe schrieben, ihren Beruf ausübten. War ihnen das moralische Dilemma bewusst, in dem sie sich befanden? Ich denke, ja. Kein Wunder, dass sie nicht darüber sprachen. Meine Eltern, die ich als gute, großzügige Menschen kannte (und bis heute habe ich keinen Grund, sie anders zu sehen) hatten ihre Unschuld verloren, und ich mit ihnen.

Mein Trauma verfolgte mich. Ich packte meine Gitarre und fuhr nach Israel. Man nahm mich wohlwollend, geradezu liebevoll auf. Ich hatte Erfolg als Musiker und Glück als Mensch. Aber zu meiner Herkunft zu stehen, zu sagen: «Ich bin Deutscher, nehmt mich, wie ich bin», traute ich mich nicht. Ich redete mich heraus, erlog eine Schweizer Abstammung, erfand diffuse jüdische Angehörige, war also genauso feige wie meine Landsleute, die sich im Dritten Reich wegduckten und den Mund hielten, genauer gesagt: noch feiger. Denn was hätte mir in Israel passieren können? Ganz genau gar nichts. Ich heiratete Nehama Hendel, Israels berühmte Sängerin, hatte jüdische Kinder, Israel wurde meine zweite Heimat. Alle wussten inzwischen, dass ich Deutscher bin, und wer sich an meine Schwindeleien erinnerte, vergab generös.

Ich versöhnte mich mit der Bundesrepublik, sie war nun einmal mein Land. Denn eines war klar: So furchtbar die Vergangenheit war, sie würde nie wiederkehren. Die Bundesrepublik, so schien es mir, war als Demokratie unerschütterbar, das aufrichtige Bemühen um Veränderung und Sühne, Ausgleich, Völkerverständigung und Freiheit ihr nicht abzusprechen. Niemals, glaubte ich, würde sich hier rechtsextremes Gedankengut wieder ausbreiten können. Nach einem solch tiefen Fall, einer solchen Katastrophe, einer solchen Schmach war das schlichtweg unvorstellbar.

Ich habe mich getäuscht, mit vielen anderen. Gerade als Europa sich einte und Deutschland wieder zusammenwuchs, als Grenzen fielen und eine nie gehabte Freiheit sich auftat, kehrten Nationalismus und Rechtsextremismus zurück, erstaunlicherweise auch in ehemals sozialistischen Gebieten, wo ich sie nach vierzig Jahren antifaschistischer Erziehung am wenigsten vermutet hätte. Auch in den Niederlanden, Frankreich und anderen europäischen Ländern erschallten plötzlich nationalistische, antidemokratische Töne, oft unter Jubel der Bevölkerung, als ob es Nationalsozialismus, Holocaust, Zweiten Weltkrieg und sechzig Millionen Tote nie gegeben hätte. Hat der Frieden zu lange gedauert? Ist uns die Freiheit nichts mehr wert? Haben wir aus der Vergangenheit nichts gelernt? Eine Demokratiemüdigkeit schien um sich zu greifen, wie sie auch die letzten Jahre der Weimarer Republik geprägt hat – dabei wissen wir, wie die Demokratie zerbrach und der Nationalsozialismus an die Macht kam. Meine Eltern und alle, die in meiner Kindheit erwachsen waren, haben es erlebt. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus wurde mein Lebensthema, wie für viele aus der unmittelbaren Nachkriegsgeneration. Aber Lebensgefühl und Lebenswirklichkeit dieser dunklen Zeit zu packen, in die Menschen ...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Historische Romane
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Reisen Reiseführer Europa
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte Anatol Regnier • Anpassung • Autoren • Deutschland • Drittes Reich • Erich Kästner • Gottfried Benn • Hanns Johst • Hans Fallada • Ina Seidel • Judenverfolgung • Literaturgeschichte • Nationalsozialismus • Reichsschrifttumskammer • Ricarda Huch • Schriftsteller • Will Vesper
ISBN-10 3-406-75593-3 / 3406755933
ISBN-13 978-3-406-75593-4 / 9783406755934
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