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Der Duft der Imperien (eBook)

"Chanel No 5" und "Rotes Moskau"

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26744-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Duft der Imperien - Karl Schlögel
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Kann ein Tropfen Parfüm die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählen? Karl Schlögel entwickelt einen ungewöhnlichen Zugang zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.
Kann ein Duft Geschichte aufbewahren? Zwei Parfums liefern Karl Schlögel den Stoff, die europäischen Abgründe des 20. Jahrhunderts neu zu erzählen. Durch die Turbulenzen der Revolution gelangte die Formel für einen Duft, der zum 300. Kronjubiläum der Romanows kreiert worden war, nach Frankreich. Er lieferte die Grundlage für Coco Chanels Nº 5 und für sein sowjetisches Pendant Rotes Moskau, das bis heute unter diesem Namen produziert wird. Verantwortlich für die Parfümindustrie war Polina Schemtschuschina, die Frau des Außenministers Molotow. Sie fiel später einer Säuberungskampagne zum Opfer - und Coco Chanel kollaborierte mit den deutschen Besatzern. Ein unscheinbarer Zufall führt Karl Schlögel zu erstaunlichen Entdeckungen in einer Epoche, die wir gründlich zu kennen glaubten.

Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2016 erhielt er für Terror und Traum (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs. Bei Hanser zuletzt erschienen: Der Duft der Imperien. 'Chanel No 5'und 'Rotes Moskau' (2020).

 

 

DER DUFT DES IMPERIUMS ODER WIE AUS DEM »LIEBLINGSBOUQUET DER KAISERIN KATHARINA II.« VON 1913 NACH DER RUSSISCHEN REVOLUTION CHANEL NO 5 UND DAS SOWJETISCHE PARFUM ROTES MOSKAU WERDEN

 

Alles sieht nach einem Zufall aus. Im Spätsommer 1920 traf Coco Chanel bei einem Ausflug nach Cannes den Parfümeur Ernest Beaux in dessen Labor. Das Treffen war vermutlich durch Dmitri Pawlowitsch Romanow arrangiert worden, dem damaligen Liebhaber der Chanel, seines Zeichens Großfürst und Mitglied der Zarenfamilie sowie Cousin des letzten Zaren. Seit seiner Verbannung lebte er in Frankreich.1 Wie Großfürst Dmitri Pawlowitsch, ein enger Freund von Fürst Felix Jussupow, der die Ermordung Rasputins im Winter 1916 in die Hand genommen hatte, gehörte auch Ernest Beaux der Welt des Luxus und der Moden der russischen Aristokratie an. Als Chefparfümeur des Moskauer Hoflieferanten Alphonse Rallet & Co. war er nach Revolution und Bürgerkrieg nach Frankreich zurückgekehrt und in die Niederlassung des französischen Parfumherstellers Chiris in Grasse eingetreten, der die Firma Rallet gekauft hatte. 1913 hatte er zum 300-jährigen Jubiläum der Dynastie der Romanows das Bouquet de l’Imperatrice Catherine II entwickelt, das 1914 in Rallet No 1 umbenannt worden war – in der Zeit des Krieges gegen die Deutschen war eine Hommage an die aus Anhalt-Zerbst stammende Zarin russischen Kundinnen nicht mehr zuzumuten. Das Rezept für dieses Parfum hatte er mit nach Frankreich gebracht und suchte dort die Formel des »Bouquets« den neuen französischen Verhältnissen anzupassen. Aus der Serie von 10 Proben wählte Coco Chanel die Nummer 5 aus, die später den Markennamen Chanel No 5 ergeben sollte.

 

 

Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina II. (1903)

 

Tilar J. Mazzeo, die Autorin eines Buches über »Die Geschichte des berühmtesten Parfums der Welt«, beschreibt die Szene wie folgt: »Und da standen sie, zehn kleine Glasphiolen mit den Zahlen Eins bis Fünf und Zwanzig bis Vierundzwanzig darauf. Die Lücke zwischen den Zahlenreihen zeigte an, dass es zwei unterschiedliche – wenn auch sich ergänzende – Duftserien waren, unterschiedliche ›Zugänge‹ zu einem neuen Duft. In jeder dieser kleinen Glasphiolen befand sich eine ganz neue Kreation, die im Wesentlichen auf Provence-Rose, Jasmin und den erst ein paar Jahre zuvor synthetisierten Duftmolekülen namens Aldehyde basierte. Der Legende nach soll eine unvorsichtige Laborassistentin für eine massive Überdosis dieser noch kaum erforschten Substanzen verantwortlich gewesen sein. Sie hatte sie, ob versehentlich oder nicht, pur statt in zehnprozentiger Verdünnung in eine der Phiolen gegossen.

Schnuppernd brachte Coco Chanel den Tag in jenem Raum zu, umgeben von Apothekerwaagen, Messbechern und Medizinfläschchen, und überlegte. Bedächtig ließ sie jede Duftprobe unter ihrer Nase kreisen, und man hörte, wie sie langsam ein- und ausatmete. Ihr Gesicht verriet nichts. Das war etwas, an das sich jeder erinnerte, der sie kannte – wie unbeteiligt sie wirken konnte. Und dann erzeugte eines jener Parfums in ihrer Sinneswelt einen Widerhall, denn sie lächelte und sagte schließlich ohne jedes Zögern: ›Nummer fünf.‹ – ›Ja‹, bestätigte sie später, ›das war es, worauf ich gewartet hatte. Ein Parfum wie kein anderes. Ein Parfum für Frauen mit dem Duft einer Frau.‹« Auch was die Namensgebung – die No 5 – betraf, schien sie selbstsicher und frei von Zweifeln. »Ich präsentiere meine Kollektion am 5. Mai, dem fünften Monat des Jahres«, antwortete sie Ernest, »und deshalb soll die Probe Nummer fünf den Namen behalten, den sie bereits hat. Das wird uns Glück bringen.«2

 

 

Ernest Beaux, Portrait um 1921

 

Ernest Beaux selbst hat viele Jahre später jenen Moment, in dem das legendäre Parfum in die Welt kam, in einer Rede am 27. Februar 1946 so beschrieben: »Man fragt mich, wie es mir gelungen ist, Chanel No 5 zu schaffen. Erstens habe ich dieses Parfum im Jahre 1920 geschaffen, als ich aus dem Krieg zurückgekehrt war. Ein Abschnitt meines militärischen Einsatzes verlief in den nördlichen Ländern Europas, jenseits des Polarkreises, in der Zeit der Polarsonne, wenn Seen und Flüsse eine besondere Frische ausstrahlen. Diesen charakteristischen Geruch habe ich in meinem Gedächtnis behalten, und nach großen Anstrengungen und Bemühungen ist es mir gelungen, ihn wieder zu erzeugen, obwohl die ersten Aldehyde instabil waren. Zweitens, warum dieser Name? Mademoiselle Chanel, die ein sehr gut gehendes Modehaus hatte, bat mich, für sie ein Parfum zu schaffen. Ich habe ihr eine Serie von den Nummern 1 bis 5 und von 20 bis 24 gezeigt. Sie hat einige ausgewählt, darunter auch die No 5. ›Wie soll man dieses Parfum nennen‹, fragte ich sie. Mademoiselle Chanel antwortete ›Ich stelle die Kleider-Kollektion am Fünften des fünften Monats vor, das heißt im Mai. Das heißt, wir lassen dem Parfum die Nummer, die es trägt. Diese Nummer 5 bringt ihm Erfolg.‹ Ich gestehe, sie hat sich nicht geirrt. Diese neue Duftnote erfreut sich eines großen Erfolges, kaum ein Parfum hat so viele Verehrer gefunden, kaum ein Parfum hat man so sehr versucht nachzumachen wie Chanel No 5.«3

 

 

Chanel No 5

 

No 5 war abstrakt, hatte nichts mehr mit der Assoziation mit den luxuriösen traditionellen Aromen wie Rose, Jasmin, Ylang-Ylang und Sandelholz zu tun, sondern spielte auf etwas Neues an, die chemische Produktion von Duft, die Arbeit mit Aldehyden, auf Ingredienzien, die die »olfaktorische Welt eines ganzen Jahrhunderts verändern und Chanel No 5 zum vielleicht größten Parfum dieser Epoche« werden ließen. Aldehyde wurden hier nicht zum ersten Mal eingesetzt, aber zum ersten Mal bei einem bekannten Parfum und in so großen Mengen, »wodurch eine ganz neue Duftfamilie ins Leben gerufen wurde: die sogenannten Floral Aldehyde, bei denen der Geruch des Aldehyds genauso wichtig ist wie das Blumenbukett4«.

Die altehrwürdige Parfümeriekunst, die ihren Ursprung aus Alchemie und Seifensiederei noch nicht ganz verleugnen konnte, traf auf die Chemie des Industriezeitalters. Es handelt sich bei Aldehyden um Moleküle mit einer sehr speziellen Anordnung ihrer Sauerstoff-, Wasserstoff- und Kohlenstoffatome. Sie sind ein Stadium in dem natürlichen Prozess, der abläuft, wenn sich bei Oxidation, also unter dem Einfluss von Sauerstoff, Alkohol in Säure verwandelt. Aldehyde sind synthetische Moleküle, Moleküle, die in einem Labor entstanden sind. Sie werden von Chemikern abgespalten und sind stabilisierte Moleküle, die eine Vielzahl von Gerüchen erzeugen – Zimtaldehyd, die säuerliche Frische von Orangenschale, Zitronengras u.a. Aldehyde allerdings sind flüchtige Stoffe, sie verblassen schnell, um schließlich ganz zu verschwinden. Sie verstärken die Aromen eines Parfums und setzen so Reaktionen im Nervensystem in Gang. »Es kommt zu kribbelnder Frische oder zu einem kleinen Schauder durch einen elektrisierenden Funken. Deshalb wirke Chanel No 5 auf die Sinne wie kühle perlende Champagnerbläschen, die zerplatzen.« Dieser Effekt entsprach dem Wunsch von Ernest Beaux, einen Duft zu kreieren, den er auf seiner Flucht aus dem russischen Bürgerkrieg, auf dem Weg über die Halbinsel Kola, in der Schnee- und Tundrenlandschaft jenseits des Polarkreises, empfunden hatte. »Im Schnee alpiner Hochgebirgslandschaften und der öden polaren Tundra kommen Aldehyde heute in Konzentrationen vor, die zehnmal höher sind als in anderen schneebedeckten Regionen unserer Welt, sodass Luft und Eis dort klarer und intensiver wahrgenommen werden.« Beaux fügte dem strengen Geruch von Schnee und Schneeschmelze in Chanel No 5 eine große Menge exquisiten Jasmins, den er in der Blumen- und Parfummetropole Grasse vorfand, hinzu, um einen opulenten und süßen Duft zu erzeugen, der allerdings auch einen exquisiten Preis mit sich brachte. »Der essenzielle Kontrast zwischen dem sinnlichen Blumenduft und den asketisch anmutenden Aldehyden ist Teil des Geheimnisses von Chanel No 5 und seines enormen Erfolgs.«5

Es existieren mehrere Hypothesen zur Entstehung von Chanel No 5. Gegen die Hypothese vom Mischfehler der Assistentin spricht, dass der Rosen-Jasmin-Akkord perfekt gegen den Aldehyd-Komplex ausbalanciert war, also Ergebnis systematischer Studien. Gegen die These von der extrem frischen polaren Luft spricht, dass Beaux selbst schon 1913 Aldehyde in seinem Bouquet préferé de l’Impératrice eingesetzt hatte, inspiriert durch den Erfolgsduft Quelques Fleures des französischen Parfümeurs Robert Bienaimé (1876–1960), sodass am wahrscheinlichsten die Annahme zutrifft, dass es sich bei Chanel No 5 um ein (modifiziertes) Remake von Le Bouquet préféré de l’Impératrice von 1913 handelte, das Beaux ein Jahr später umbenannt und als Rallet No 1 vorgestellt hatte.6

Die Komposition soll sich aus 31 Parfum-Rohstoffen zusammengesetzt haben. In der elaborierten Sprache der Parfümerie-Experten, die dem Gegenstand angemessen sein will, wird das Register der Düfte wie folgt beschrieben (oder verklausuliert): »Die Kopfnote wird geruchlich vom strahlend-frischen, leicht metallisch-wachsig-rauchigen Aldehyd-Komplex C-10/C-11/C-12 (1:1:1,06 %) dominiert, mit seinen typischen Anklängen an wachsige Rosenblätter und Orangenschalen. Die hesperidisch-zitrusartigen Facetten werden durch Bergamottöl, Linalool und Petitgrainöl aufgenommen und unterstrichen. Die Herznote wird von den Dufteckpfeilern Jasmin, Rose, Maiglöckchen (Hydroxycitronellal), Iris-Butter und Ylang-Ylang-Öl aufgespannt … Da Mademoiselle Chanel auf der Intensität der...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Coco Chanel • Duft • Frankreich • Geschichte • Mode • Moderne • Moskau • #ohnefolie • ohnefolie • Parfum • Paris • Polina Schemtschschina • Rotes Moskau • Russland • Sowjetunion • Stalin
ISBN-10 3-446-26744-1 / 3446267441
ISBN-13 978-3-446-26744-2 / 9783446267442
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