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Antisemitismus heute

Wie Hass und Vorurteile global erstarken
Buch | Softcover
304 Seiten
2020 | 1. Auflage
Piper (Verlag)
978-3-492-31622-4 (ISBN)
CHF 16,80 inkl. MwSt
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Wie antisemitisch sind wir?
lt;p>Achtzig Jahre nach der Reichspogromnacht steigt die Zahl antisemitischer Übergriffe nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an. Doch was genau ist Antisemitismus, wie zeigt er sich im täglichen Zusammenleben der Menschen? Die renommierte Historikerin Deborah Lipstadt geht einem Phänomen nach, das in jüngster Zeit wieder alarmierende Aktualität erfährt.

»Deborah Lipstadt setzt sich konsequent und unerschrocken für die historische Wahrheit und die Menschenwürde ein.«
Aus der Jury-Begründung zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises 2018

Deborah Lipstadt, geboren 1947 in New York, ist Historikerin und eine der renommiertesten Forscherinnen zum Holocaust weltweit. Seit 2014 lehrt sie Moderne Jüdische Geschichte und Holocaust-Studien an der Emory University in Atlanta. Große, internationale Aufmerksamkeit erlangte ihre Geschichte der Holocaustleugnung. Der britische Holocaustleugner David Irving verklagte Lipstadt wegen der ihn betreffenden Aussagen vor einem Londoner Gericht. Das Urteil des aufsehenerregenden Prozesses bestätigte, dass Irving die historischen Fakten systematisch manipulierte, und gab Lipstadt in allen wesentlichen Punkten recht. Im Mai 2018 wurde Deborah Lipstadt mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis ausgezeichnet.

Stephan Pauli, geboren 1967, studierte Philosophie und Spanisch. Er lektoriert und übersetzt aus dem Englischen und Spanischen, u. a. Deborah Lipstadt, Adam Alter sowie »Schotts Sammelsurium«. 

»Ihre Erkenntnisse formuliert Lipstadt kurzweilig in Form eines fiktiven E-Mail-Dialogs (...).« Der Tagesspiegel 20181106

»Ihre Erkenntnisse formuliert Lipstadt kurzweilig in Form eines fiktiven E-Mail-Dialogs (…).«

»Alarmierend aktuell«

»Ein echtes Erlebnis!«

»Lipstadt (…) hat ihr Buch (…) dialogisch aufgebaut. Dieses Frage-Antwort Muster über Ressentiments, Vorurteile, Unwissen und Verschwörungssuaden, analog wie digital, macht die Lektüre zugänglicher, auch und erst recht für Jüngere.«

»(…) ein mutiges und aufrichtiges Buch.«

Vorbemerkung Hinter mir liegt ein Projekt, das mir so einiges abverlangte. Ich war überrascht, auf welche Schwierigkeiten ich beim Schreiben dieses Buches stieß, schließlich hatte ich mich nicht zum ersten Mal auf ein Thema eingelassen, das schmerzhafte Aspekte birgt. Ich schreibe, unterrichte und spreche seit Jahrzehnten über die Shoah, eines der umfassendsten Beispiele für einen staatlich geförderten Genozid. Ich hatte einen Großteil meiner wissenschaftlichen wie privaten Zeit in der Kloake von Antisemitismus und Genozid verbracht, woher kamen denn plötzlich diese Schwierigkeiten? Warum sollte sich ausgerechnet dieses Projekt von den vielen anderen, die ihm vorangingen, unterscheiden? Die Antwort darauf fand ich während des Schreibens. So schrecklich der Holocaust auch war, so ruht er doch fest in der Vergangenheit. Wenn ich über ihn schreibe, schreibe ich über etwas, das vergangen ist. So sehr mich das Geschehene auch erschüttert, es bleibt Geschichte. Der zeitgenössische Antisemitismus dagegen ist nicht Geschichte. Hier geht es um die Gegenwart. Es geht darum, was Leute jetzt tun und sagen, womit sie sich heute auseinandersetzen. Das verleiht dem Thema eine Unmittelbarkeit, die kein historisches Ereignis je haben kann. Zudem geht es nicht nur um die Gegenwart. Es geht auch um die Zukunft. Doch auf was für eine Zukunft deuten die besorgniserregenden Phänomene, die ich hier untersuche? Diese Frage verweist auf eine weitere Schwierigkeit. Die meisten Historiker vermeiden es, über die Zukunft zu spekulieren. Wir machen um Vorhersagen einen großen Bogen, weil wir wissen, wie schnell sich die Dinge ändern können. Oft haben gerade jene Historiker, die sich bei Zukunftsprognosen auf ihr Wissen über die Vergangenheit verlassen haben, geirrt. Und doch fällt es, wenn man über aktuelle Probleme schreibt, schwer, nicht auch über die Zukunft zu reden. Dessen bin ich mir bewusst, und ich will dies, so gut es geht, vermeiden. Nachdem ich einige Grundlagen der Thematik angesprochen habe – wie lässt sich Antisemitismus definieren, wie lassen sich Antisemiten kategorisieren –, versuche ich aufzudecken, was das von uns Beobachtete eigentlich ausmacht. Ist der heutige Antisemitismus derselbe wie jener, den wir von früher kennen, oder unterscheidet er sich? Wo ist er verwurzelt: bei linken oder rechten Gruppierungen? Geht es, wie nicht wenige behaupten, nur um Israel? Erkennen wir Antisemitismus auch dort, wo gar keiner ist? Weigern sich andere, Antisemitismus dort zu sehen, wo er deutlich zutage tritt? Und was können wir dagegen tun? Können wir überhaupt etwas tun? Obwohl in den letzten Jahren sowohl physische als auch verbale Akte von Antisemitismus allem Anschein nach entschieden zugenommen haben, sollte unsere Unterhaltung weder auf Zahlen und antisemitischen Taten gründen, noch von ihnen motiviert werden. Denn das würde umgekehrt bedeuten, dass bei einem Rückgang der statistischen Zahlen unsere Besorgnis abklingen sollte. Ich erinnere mich, dass während des US-Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2000 viele Juden glaubten, Al Gores Nominierung von Joseph Lieberman als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft würde eine Zunahme des Antisemitismus zufolge haben. Das war nicht der Fall. Einige Experten schlossen daraus, dass der Antisemitismus vielleicht tot sei. Sie betrachteten das gesellschaftliche Gefüge in den USA und sahen Juden an der Spitze von Universitäten, die früher sehr strenge Zulassungsregeln hatten. Sie sahen Juden in den Vorstandsetagen der größten Unternehmen und als Wahlsieger in Wahlkreisen ohne nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil. Selbst der ansteigenden Zahl an Mischehen, innerhalb der jüdischen Gemeinden oft ein Grund zur Sorge, konnte etwas Positives abgewonnen werden. Wenn so viele Nichtjuden gewillt waren, Juden in ihre Familien aufzunehmen, wie verbreitet konnte Antisemitismus dann überhaupt sein? Doch heute ist der Antisemitismus »wieder da«. (Ich bin mir nicht sicher, ob er je wirklich weg war.) Statistiken über den Anstieg antisemitischer Vorfälle sind wichtig, weil sie die notwendige empirische Evidenz liefern. Dennoch sollten uns nicht vorrangig die Zahlen antreiben. Was uns wirklich wachrütteln sollte, ist die Tatsache, dass es immer noch Menschen gibt, die Verschwörungstheorien anhängen, Juden dämonisieren und sie für alles Böse verantwortlich machen. Antisemiten erhalten diese spezielle Variante uralten Hasses am Leben. Sie rechtfertigen ihn ebenso wie die Taten, die in seinem Namen verübt werden. Die historischen Konsequenzen dieser schändlichen Leidenschaft waren so desaströs, dass es unverantwortlich wäre, ihre aktuellen Erscheinungsformen zu ignorieren. Ein weiterer Grund, warum wir uns nicht von Zahlen leiten lassen sollten, liegt darin, dass Antisemitismus eine Weltanschauung, eine Verschwörungstheorie ist. Deshalb kann er nicht einfach durch die Anzahl an erfassten antisemitischen Straftaten oder die Menge der als antisemitisch einzustufenden Menschen gemessen werden. Eine neuere Studie zu Großbritannien nannte meinen Ansatz den »elastischen« Blick auf Antisemitismus. Wenn Judenhass eine Einstellung ist, so existiert er, wie alle Einstellungen, »innerhalb einer Gesellschaft in unterschiedlicher Intensität, mit unterschiedlichen Schattierungen … Einige Menschen mögen stark antisemitisch sein, andere in geringerer Ausprägung; und auch wenn wieder andere weder in die eine, noch in die andere Kategorie passen, könnten sie dennoch gewisse [antisemitische] Einstellungen in sich tragen – mögen diese auch in geringer Anzahl und schwacher Intensität auftreten.«1 Da Antisemitismus sich gegen Juden richtet, könnten einige Leser vielleicht denken, dass nur Juden etwas zu befürchten hätten. Doch das wäre ein Fehler. Juden, als das intendierte Ziel des Antisemiten, sollten vielleicht tatsächlich vorsichtiger darauf reagieren. Ein Gleiches gilt bei jedem Ausdruck eines bestimmten Hasses und Vorurteils. Doch schon die Existenz von Vorurteilen, in welcher Form auch immer, bedroht all jene, die eine inklusive, demokratische und multikulturelle Gesellschaft wertschätzen. Es liegt auf der Hand, dass sich auch andere Minderheiten nicht sicher fühlen sollten, wenn Juden mit hasserfüllten Parolen und Vorurteilen angegriffen werden; dass es bei den Juden bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Und umgekehrt sollten sich Juden nicht sicher fühlen, wenn andere Minderheitengruppen mit Hass und Vorurteilen überzogen werden; es ist genauso unwahrscheinlich, dass es bei diesen Gruppen bleibt. Antisemitismus gedeiht in einer Gesellschaft, die sich als intolerant anderen gegenüber erweist, sei es gegenüber Immigranten oder ethnischen und religiösen Minderheiten. Sobald Ausdrücke der Verachtung für eine bestimmte Gruppe zur Norm werden, ist es so gut wie unvermeidlich, dass ähnlicher Hass sich auch gegen andere Gruppen richtet. Wie das Feuer, das ein Brandstifter legt, schießen leidenschaftlicher Hass und verschwörungstheoretische Weltanschauungen weit über ihr ursprüngliches Ziel hinaus. Sie entbehren jeder Rationalität. Keine Vernunft hält sie in Zaum. Selbst wenn Antisemiten ihr Gift ausschließlich gegen Juden einsetzen, deutet die reine Existenz von Judenhass darauf hin, dass mit der gesamten Gesellschaft etwas nicht stimmt. Keine gesunde Gesellschaft gewährt umfassendem Antisemitismus – oder jeder anderen Form von Hass – Unterschlupf. Ich habe dieses Buch als einen Austausch mit zwei fiktionalen Personen konzipiert, die ich an der Universität, an der ich unterrichte, »kennengelernt« habe. Die erste ist »Abigail«, eine brillante jüdische Studentin, die mehrere meiner Seminare belegt hat und das Phänomen des Antisemitismus zu verstehen versucht. Die andere Person ist »Joe«, ein Kollege, der an der juristischen Fakultät der Universität unterrichtet. Als Nichtjude bekundet er höchste Anerkennung für die Erfolge und Mühen des jüdischen Volks. Er zählt einige seiner jüdischen Kollegen zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern an der Uni. Abigail und Joe tragen in sich Anteile von vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren an mich gewandt haben, um ihre Verwirrung, Sorgen und Bestürzung sowohl über den Antisemitismus im Allgemeinen als auch über Vorfälle, die sie in ihrem persönlichen Umfeld beobachten konnten, zum Ausdruck zu bringen. Sicher, sie sind fiktionale Charaktere, doch die Fragen, die sie aufwerfen, und die Ängste, denen sie sich stellen, stammen von sehr realen Menschen. Die E-Mails sind so konstruiert, dass sie die Situation im Sommer 2018 widerspiegeln. Während die Gegenwärtigkeit der diskutierten Ereignisse eine Herausforderung beim Schreiben dieses Buches darstellte, machte es ihre rasche Abfolge zu einem Buch, das eigentlich nicht zu beenden war. Es schien, als würden täglich neue Entwicklungen eine Analyse und Einbeziehung in diese Untersuchung verlangen – der Mord an einer Holocaust-Überlebenden in Paris, Wahlen in Ungarn, bei denen sich die Wahlsieger auf offen antisemitische Tropen verließen, ein Gesetz in Polen, das die Geschichte des Holocaust uminterpretiert, White-Power-Demonstrationen in den Vereinigten Staaten, Kampagnen an Universitäten gegen Israel, die nur allzu leicht in antisemitische Kundgebungen kippten, der Antisemitismus in der britischen Labour Party, die Empfehlung des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, wonach Juden in der Öffentlichkeit keine Kippa tragen sollten, und vieles mehr. So traurig es ist, bin ich mir angesichts der nicht enden wollenden Saga, die der Antisemitismus ist, sicher, dass bis zum Erscheinen dieses Buches neue Beispiele von Antisemitismus auftreten werden, die Teil dieser Schilderung hätten werden sollen. Einige Leser werden vielleicht feststellen, dass sie mir bei dem einen Argument zustimmen, während sie das nächste empört ablehnen. Unabhängig vom Standpunkt meiner Leser bei unterschiedlichen Themen bitte ich, das Buch möglichst differenziert zu lesen, wie auch ich versucht habe, es differenziert zu schreiben. Einige glauben vielleicht, ich habe den Ernst der Lage entweder über- oder untertrieben. Einige mögen mich beschuldigen, ich habe Antisemitismus am »falschen« Ende des politischen Spektrums ausfindig gemacht. Sollten einige glauben, ich neige zu sehr dazu, das Glas als halb leer anzusehen, während mir andere vorwerfen, ich sähe es immerzu halb voll, werde ich (wie immer die Querdenkerin) annehmen, dass meine Analysen gerade richtig sind. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie leicht man Behauptungen aufstellen und gleichzeitig die Meinung anderer für falsch erklären kann – vor allem dann, wenn das Thema so verstörend wie hier ist. Ich habe mich redlich bemüht, dieser Versuchung standzuhalten. Ich habe versucht, meine Leidenschaften so weit als möglich zu zügeln und die Sachverhalte mit der analytischen Brille der Akademikerin zu betrachten. Doch wir sind, wer wir sind. Ich kann daher nicht behaupten, dass ich gegenüber den Dingen, auf die ich stieß, völlig leidenschaftslos gewesen wäre. Ich habe es nicht darauf abgesehen, einen Aufruf zum Kampf oder Aufschreizu schreiben, gestehe aber, dass dieses Buch bis zu einem gewissen Grad doch genau das geworden ist. Es wurde mit der Überzeugung geschrieben, dass jede Handlung mit einer Erkenntnis einsetzt, die von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Umständen unterschiedlich angewandt wird. Mein Versuch, ein verwirrendes und verstörendes Geflecht von Umständen zu erforschen, wurde in der Hoffnung geschrieben, dass er zu Taten herausfordert. Wie genau diese Taten aussehen werden, liegt in der Hand des Lesers. Atlanta, Georgia, im Mai 2018 Antisemitismus: Ein Gespräch Die Ratlosen Liebe Frau Professorin Lipstadt, ich schreibe Ihnen, weil ich besorgt und verwirrt bin. Ich hoffe, Sie können mir diesen Schritt nachsehen. In den letzten Monaten hatte ich eine Reihe intensiver Gespräche über Antisemitismus mit Kommilitoninnen und Kommilitonen, von denen die meisten keine Juden sind. Ich habe sie gebeten, ihre Meinung offen zu äußern. Einer, wenngleich zögerlich, behauptete, die Juden müssten angesichts der Tatsache, dass Antisemitismus bereits seit so langer Zeit existiere, bis zu einem gewissen Grad selbst dafür verantwortlich sein. Ein anderer schlug in dieselbe Kerbe und fragte sich, durchaus zaudernd, ob ein Volk, das seit so langer Zeit gehasst werde, nicht etwas getan haben könne, das diesen Hass verursacht habe. Beide wiederholten mehrmals, dass sie mich als gute Freundin betrachteten und es nicht persönlich meinten. Das glaube ich ihnen auch. Und dennoch fühlte ich mich unwohl. Das Schlimmste an der Sache war aber, dass ich nicht wusste, was ich ihnen sagen könnte, ohne in eine Verteidigungshaltung zu geraten. Ich denke, ich bitte Sie um zweierlei: Ich möchte verstehen, was da vor sich ging, und ich möchte herausfinden, wie ich am besten darauf antworte. Beide haben mir aufmerksam zugehört, als ich ihnen erzählte, dass Juden in Brüssel, Paris, Berlin und einer Vielzahl anderer Städte vermehrt aufpassen müssten. Ich erklärte ihnen, wie ich während einer Europareise vor einigen Jahren jüdische Sehenswürdigkeiten ohne weiteres Nachdenken besucht hätte. Anders fühlt es sich bei der Reise nach Europa an, die ich diesen Sommer mit einer kleinen Gruppe jüdischer Studenten unternehmen werde. Ein Teilnehmer trägt Kippa, und er versicherte uns, ohne gefragt worden zu sein, dass er während der Reise stattdessen eine Basketballkappe tragen werde. Die anderen zeigten sich solidarisch und erklärten, sie würden ebenfalls Kappen tragen. Ich habe versprochen, meinen Rucksack, auf dem der Name meines jüdischen Jugendvereins prangt, zu Hause zu lassen. Dass man äußere Zeichen jüdischer Identität an vielen Orten der westlichen Welt inzwischen besser verbirgt, besorgt und verwirrt mich zugleich. Es gibt keinen Grund, warum ich hier auf dem Campus um meine physische Sicherheit besorgt sein sollte. Ich fühle mich als Jüdin wohl, wenn ich nicht gerade über Israel sprechen soll. Doch diese Begegnung mit meinen Freunden hat mich doch verwirrt und auch verunsichert. Ich weiß nicht genau, was ich mir von Ihrer Antwort verspreche, doch ich dachte, nachdem wir uns in Seminaren und Gesprächen nähergekommen sind, könnte ich Sie bitten, mir dabei zu helfen, besser zu verstehen, was hinter alldem steckt. Ihre Abigail Liebe Deborah, es war schön, dich, wenn auch nur kurz, auf dem Campus zu sehen! Deine Beobachtung, ich sei nicht ganz ich selbst, trifft den Nagel auf den Kopf. Denn obwohl das Semester für mich persönlich sehr produktiv gewesen ist, war ich dennoch anhaltend deprimiert, weil mich der Gedanke an die stetig wachsende Spaltung sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in so vielen anderen Ländern der Welt nicht losgelassen hat. Zwar bin ich mir der Ungerechtigkeiten in unserem Land schon länger sehr bewusst, doch glaube ich, dass die Verachtung, die einzelne Gruppen füreinander hegen, in den letzten Jahren immer deutlicher hervorgetreten ist und dies heute bereits zum Mainstream gehört. Vieles davon führe ich auf den Präsidentschaftswahlkampf von 2016 zurück. Der Wahlkampf und die nachfolgenden Ereignisse haben diese Anfeindungen zwar nicht geschaffen, mit Sicherheit jedoch ermöglicht. Rassistische, homophobe, islamophobe und natürlich antisemitische Äußerungen scheinen täglich mehr zu werden. Ich habe eine etwas seltsame Bitte an dich. Ich verabscheue Antisemitismus seit Langem, doch fürchte ich, ich habe ihn bis heute nicht vollständig verstanden. Ich weiß, du hast jede Menge zu tun, doch sollte es dir möglich sein, mich bei meinem Versuch, zu verstehen, zu unterstützen, wäre ich dir sehr dankbar. Dein Joe Lieber Joe, liebe Abigail, Joe, darf ich dir Abigail vorstellen? Eine Doktorandin, die in den letzten Jahren bei mir studiert und mehrere Kurse belegt hat, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten des Holocaust beschäftigten. Abigail, darf ich Ihnen Joe Wilson vorstellen? Er ist Professor an der Juristischen Fakultät und unterrichtet über Recht und Religion. Joe und ich tauschen uns regelmäßig über Vorurteile und Hass aus. Ihr habt euch beide aufgrund des anscheinenden Anstiegs von Antisemitismus in den USA und anderswo an mich gewandt, und ich frage mich, ob wir uns zu dem Thema nicht gemeinsam austauschen sollten. Ich würde mich glücklich schätzen! Nicht nur, weil zwei Menschen, die mir sehr wichtig sind, davon bestürzt sind, sondern auch, weil ich glaube, dass ein solches Gespräch uns allen dabei helfen könnte, mit dieser irritierenden Situation umzugehen. Da wir alle unterschiedliche Terminpläne haben, schlage ich vor, wir diskutieren in schriftlicher Form. Und falls ihr einverstanden seid, lasst uns alle unsere E-Mails teilen, damit wir alle Teil der laufenden Diskussion sind. Und weil ich glaube, dass Dinge einen Anfang, eine Mitte und ein Ende benötigen, sollten wir einen Zeitplan erstellen, der unseren Austausch auf dieses Semester begrenzt. Eure DEL Ein Wahn Liebe Abigail, lieber Joe, ihr sucht beide nach einer Möglichkeit, die Frage »Warum Antisemitismus?« zu beantworten. Und ihr wollt herausfinden, was wir dagegen tun können. Auf die Gefahr hin, euch zu enttäuschen, möchte ich euch zu Beginn dennoch caveat emptor zurufen, womit ich sagen will, dass ich nicht glaube, auch nur eine einzige eurer Fragen befriedigend beantworten zu können. Es ist unglaublich schwer, wenn nicht sogar unmöglich, etwas zu erklären, das in sich irrational, wahnhaft und absurd ist. Hierin liegt das Wesen aller Verschwörungstheorien, unter denen der Antisemitismus nur eine ist. Denkt einmal darüber nach: Warum bestehen manche Menschen darauf, dass die Mondlandungen vor Kulissen irgendwo im amerikanischen Westen stattgefunden hätten? Trotz einer Fülle gegenteiliger wissenschaftlicher Beweise und Berichte von Zeitzeugen glauben sie genau das, weil sie der Meinung anhängen, dass die Regierung und andere mächtige Entitäten in unüberschaubare Intrigen verwickelt sind, um die Öffentlichkeit in die Irre zu führen.1 Staatlich gelenkte Täuschungsmanöver sind das Prisma, durch das sie die Welt sehen. Wie irrational ihre Ideen uns auch erscheinen mögen, für sie ergeben sie absolut Sinn. Verschwörungstheorien verleihen Ereignissen, die manchen Menschen unerklärlich erscheinen, eine intentionale Erklärung. Eine zu erklärende Handlung wurde ausgeführt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Würden wir diese Verschwörungstheoretiker mit Belegen konfrontieren, die eindeutig beweisen, dass die Landung tatsächlich auf dem Mond stattgefunden hat, würden sie alles, was wir sagen, a priori zurückweisen und annehmen, wir seien Teil der Verschwörung. Der Versuch, irrationale Annahmen – besonders, wenn sie ihren Vertretern als unumstößlich gelten – mit rationalen Erklärungen zu entkräften, ist nahezu unmöglich. Jede Information, die nicht mit dem von Verschwörungstheoretikern bevorzugten sozialen, politischen oder ethnischen Narrativen übereinstimmt, ist ipso facto falsch. Sozialwissenschaftler attestieren solchen Theorien die Eigenschaft, »selbstabdichtend« zu sein, was sie »besonders immun gegen jede Infragestellung«2 mache. Verschwörungstheorien reduzieren komplexe Vorgänge auf ihren einfachsten Nenner und durchdringen sie mit hitzigen Übertreibungen, Verdächtigungen und Fantasien, die in keiner Weise mit den Tatsachen in Beziehung stehen. Einige neigen dazu, Verschwörungstheorien als relativ harmlos abzutun. Sie betrachten Menschen, die ihnen anhängen, als psychisch instabil, in einer Linie mit Leuten, die Hüte aus Alufolie tragen, um sich vor bösartigen Funksignalen zu schützen, die von der Regierung ausgestrahlt würden. Doch während man sich in der Tat fragen kann, wie vernünftig diese Menschen sind, können sie dennoch echten Schaden anrichten. Der wahnhafte Aspekt des Antisemitismus wurde mir 1972, während meiner ersten Reise in die Sowjetunion, mit einem Schlag klar. »Refuseniks«, also jene sowjetischen Juden, die offen gegen den Staat kämpften, um das Recht auf Ausreise zu erzwingen, wunderten sich, wie die Regierung es schaffte, so viele ihrer hausgemachten Probleme den Juden anzukreiden. Die Sowjetregierung verfolgte Juden und verbreitete Antisemitismus, und gleichzeitig glaubten viele jener Bürger, die das kommunistische Regime hassten, dieses sei eine Verschwörung von Juden. In einer für Juden nicht untypischen Reaktion auf Verfolgung schufen die Refuseniks eine eigene Form von Witzen, um ihren Schmerz zu lindern und gleichzeitig den Wahn ihrer Unterdrücker zu illustrieren. Einen habe ich bis heute in Erinnerung behalten. Ich teile ihn euch in der Hoffnung mit, unserem unvermeidlich ernüchternden Austausch zumindest einen humorvollen – oder, genauer, ironischen – Anfang zu verleihen. In der UdSSR herrscht ein chronischer Mangel an Konsumgütern. Eines frühen Morgens macht in Moskau das Gerücht die Runde, ein Warenhaus würde heute eine Ladung Schuhe erhalten. Vor dem Warenhaus bildet sich sofort eine Schlange, die exponentiell wächst. Nachdem die Menschen etwa eine Stunde gewartet haben, erscheint der Geschäftsführer und verkündet: »Wir werden nicht genügend Schuhe erhalten, um jeden zufriedenstellen zu können. Juden, verlasst die Schlange und geht nach Hause!« Was diese auch sogleich tun. Ein paar Stunden später erscheint er erneut und sagt: »Wir werden nicht genügend Schuhe erhalten, um alle zufriedenstellen zu können. Alle, die nicht am Krieg teilgenommen haben, geht nach Hause!« Was diese auch sogleich tun. Ein paar Stunden später erscheint er erneut und sagt: »Wir werden nicht genügend Schuhe erhalten, um alle zufriedenstellen zu können. Alle, die nicht in der Kommunistischen Partei sind, können nach Hause gehen!« Was diese auch sogleich tun. Als der Abend dämmert, erscheint er ein letztes Mal und sagt: »Wir werden heute überhaupt keine Schuhe erhalten. Geht alle nach Hause!« Zutiefst enttäuscht, schleichen zwei erschöpfte und frierende, loyale Mitglieder der Kommunistischen Partei, beide Veteranen des Zweiten Weltkriegs, von dannen. Auf ihrem Weg nach Hause dreht sich einer zum andern und verkündet bitterlich: »Diese Juden, immer haben sie das Glück auf ihrer Seite.« Wahnhaft? Irrational? Antisemitisch? All das zugleich? Lasst es uns gemeinsam herausfinden. Eure DEL PS: Abigail, ich musste schmunzeln, als ich von dem Vorschlag las, die Jungs sollten während Ihres Europatrips Baseballkappen statt der Kippot tragen. Als ich vor Kurzem in Berlin war, erklärte mir ein Freund, wie ich zu einer abseits gelegenen Synagoge gelange. Nach einer etwas komplizierten Beschreibung meinte er noch: »Wenn du in der Straße bist, in der sich die Synagoge befindet, halte einfach nach den Polizisten mit den Maschinenpistolen Ausschau; sie stehen direkt davor. Und wenn du die Straße gar nicht erst findest, schau dich nach Männern mit Baseballkappen um und folge ihnen. Sie werden dich zur Synagoge führen.« Ich musste lächeln. Kurze Zeit später begegneten mein Freund und ich einer Touristengruppe. Die Männer trugen alle Baseballkappen. Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Juden.« Ich musste wieder lächeln, weil er sich so sicher war. Am nächsten Tag sah ich dieselbe Gruppe in einer Synagoge. Ihre Kappen hatten sie durch Kippot ersetzt. Wie Sie vielleicht wissen, haben viele Juden ihre Glaubensbrüder darin ermutigt, in Berlin und anderen größeren deutschen Städten keine Kippot zu tragen. Doch wenn Sie denken, dies sei lediglich ein deutsches Phänomen, muss ich Sie enttäuschen. Während einer Reise nach Italien war ich zuletzt auf der Suche nach einem angesagten koscheren Restaurant. Ich geriet in ein Labyrinth aus verschlungenen Straßen und Gassen. Doch dann sah ich plötzlich ein paar Jungs mit Baseballkappen. Aus einer Laune heraus bin ich ihnen gefolgt und tatsächlich, sie haben mich genau zu dem Restaurant geführt. Baseballkappen allein werden wohl nicht ausreichen. Aber vielleicht hilft ein fruchtbarer Gedankenaustausch. Ihre DEL Eine Definition Liebe Frau Professorin Lipstadt, vielen Dank für Ihre Antwort. Ihr Blick auf die wahnhaften, irrationalen und konspirativen Aspekte des Antisemitismus hat mir geholfen. Ich habe Sie so verstanden, dass Antisemitismus unlogisch ist und deshalb nicht erklärt werden kann. Das sehe ich ein. Doch wenn wir ihn schon nicht erklären können, können wir ihn wenigstens definieren? Ist alles Negative, das je über Juden geschrieben oder gesagt worden ist, ein Ausdruck von Antisemitismus? Ich weiß, dass nicht alles Negative, das über Israel geschrieben oder gesagt wird, notwendigerweise antisemitisch ist, doch wo genau sollte man nun die Grenze ziehen? Ist Antisemitismus immer intentional? Oder kann jemand ohne Absicht Antisemit sein? Ich schäme mich ein wenig, diese Fragen zu stellen. Meine Mitbewohnerin, die mir gerade über die Schulter blickt, meint, dass ich mir diese Fragen doch auch selbst beantworten könne, schließlich sei ich doch in Ihren Seminaren gewesen und selbst Jüdin. Sie hat recht. Ich denke auch, ich sollte die Antworten kennen. Tu ich aber nicht. Ich erinnere mich, wie Sie in einem Seminar den alten Witz erzählt haben, wonach ein Antisemit jemand ist, der Juden mehr hasst, als absolut notwendig sei. Doch jetzt freue ich mich auf eine gehaltvollere Antwort. Ihre Abigail Liebe Deborah, wie von dir vorhergesagt, habe ich bereits etwas von Abigail gelernt. Sie wird vielleicht darüber überrascht sein, dass ich, obwohl ich wahrlich schon einiges über Vorurteile geschrieben habe, noch nie systematisch über die bestmögliche Definition von Antisemitismus nachgedacht habe. Man könnte meinen, dass es mir möglich sein sollte, etwas zu definieren, worüber ich mir so viele Gedanken mache. Handelt es sich einfach um Hass gegen Juden? Ich glaube, es ist komplizierter. Aber »jemand, der Juden mehr hasst, als absolut notwendig« ist sicherlich ein faszinierender Ausgangspunkt für unser Gespräch. Dein Joe Liebe Abigail, lieber Joe, ich darf euch beiden versichern, dass ihr euch nicht im Geringsten unwohl oder entmutigt fühlen solltet, weil ihr Antisemitismus nicht so einfach definieren könnt. Ihr seid sicher nicht allein. Ein Großteil der Öffentlichkeit kann ihn nicht definieren. Selbst Experten gelingt es nicht, sich auf eine präzise Definition zu einigen. Und in der Tat gibt es Menschen, vor allem Juden, die Definitionen ganz aus dem Weg gehen und behaupten, Juden könnten Antisemitismus instinktiv erspüren, ähnlich wie Afroamerikaner Rassismus und Schwule Homophobie erkennen würden. Diesen Standpunkt beleuchtet am ehesten Potter Stewarts berühmter Kommentar vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, in dem er 1964 Louis Malles Film Die Liebenden gegen den Vorwurf der Hardcorepornografie verteidigte. Nach damaliger Gesetzeslage hätte man den Film, wäre der Vorwurf gerechtfertigt, verbieten können, denn als pornografisches Werk wäre er nicht durch das Recht auf »Meinungsfreiheit« geschützt gewesen. Um zu begründen, warum der Film nicht pornografisch und also durch die Meinungsfreiheit geschützt sei, formulierte Stewart einen der meistzitierten Sätze in der Geschichte des Obersten Gerichtshofs: Ich werde heute davon absehen, genauer zu definieren, welche Art von Material von dieser knappen Beschreibung [Hardcorepornografie] umfasst wird, und vielleicht könnte mir das auch gar nicht auf klare Art und Weise gelingen. Aber ich erkenne es, wenn ich es sehe, und der Film, über den hier verhandelt wird, gehört nicht dazu.1 Wir sollten Stewart nicht nur dafür dankbar sein, die Grenzen der künstlerischen Ausdrucksfreiheit verschoben zu haben, sondern auch dafür, uns ein höchst nützliches Prinzip an die Hand gegeben zu haben: Zuweilen mag es uns unmöglich erscheinen, Antisemitismus präzise zu definieren, und doch werden wir ihn sicher erkennen, wenn wir ihn hören oder sehen. Ähnlich nützlich, wenn auch nicht ganz so elegant, ist Jane O’Reillys aus der ersten Nummer der Zeitschrift Ms. stammende Formulierung: »Klick!« In ihrem wegweisenden Essay beschreibt O’Reilly jene Momente am Arbeitsplatz, in denen eine Frau begreift, dass ihre Meinung ignoriert wird, einem Mann ihre Ideen zugeschrieben werden oder in denen von ihr erwartet wird, etwas zu tun – Erfrischungsgetränke zu servieren oder die Kinder des Chefs zu betreuen –, worum man einen Mann nie gebeten hätte. Würde sie sich jedoch bei ihren männlichen Kollegen beschweren, wären sie völlig verdattert. Blind gegenüber der üblichen Geschlechterdiskriminierung, würden sie sie als überempfindlich, wenn nicht gar als leicht paranoid bezeichnen. O’Reilly gab diesen Momenten der Erkenntnis den Namen »Klick!«.2 Abigail, ich freue mich, dass Sie sich an die Bemerkung erinnern, wonach »ein Antisemit jemand ist, der Juden mehr als absolut nötig hasst«. Sie bringt uns zum Lachen, sie sollte uns aber auch nachdenklich stimmen. Diese prägnante Beobachtung, die oft dem verstorbenen Philosophen und intellektuellen Riesen Isaiah Berlin zugeschrieben wird, gibt uns ein so einfaches wie nützliches Werkzeug an die Hand, um Vorurteile ausfindig zu machen.3 Stellen Sie sich vor, eine Person hat etwas getan, was Sie als unangenehm empfinden. Dann können Sie ihr dies aufgrund ihrer Handlungen oder Einstellungen berechtigterweise übel nehmen. Wenn Sie es ihr aber auch nur einen Deut übler nehmen, weil diese Person Jude ist, dann handelt es sich um Antisemitismus. Betrachten wir diesen Fall genauer, indem wir ein hypothetisches Beispiel heranziehen. Stellen Sie sich einen Autofahrer vor, der von einem unberechenbaren Fahrer, der zufällig schwarz ist, absichtlich von der Fahrbahn gedrängt wurde. Derjenige, der beinahe gerammt worden wäre, darf sich berechtigterweise bei seinen Mitfahrern über diesen Verkehrsrowdy beschweren. Sobald er ihn allerdings als »diesen schwarzen Typen«, der ihn beinahe gerammt hätte, verunglimpft, hat er die rote Linie zum Rassismus überschritten. Die Hautfarbe des Fahrers hat nichts mit seinem Fahrstil zu tun. Sie zu erwähnen kann als rassistische »Hundepfeife« angesehen werden – nur für die zu hören, die ein Ohr dafür haben, wird unterschwellig die Verachtung des Sprechers gegen Schwarze im Allgemeinen transportiert. (Dennoch ist es selbstverständlich nicht rassistisch, wenn die Hautfarbe des Fahrers in einer Zeugenaussage Erwähnung findet; es handelt sich dann lediglich um eines von mehreren physischen Merkmalen, um einen zur Fahndung ausgeschriebenen Fahrer zu identifizieren und wenn möglich festzusetzen.) Jetzt stellen Sie sich vor, jemand erzählt einem Freund von einer Person, die ihn seiner Meinung nach bei einem Geschäft übervorteilt hat. Sich über diesen »korrupten Immobilienhai« aufzuregen ist eine Sache. Sich über diesen »korrupten jüdischen Immobilienhai« zu beschweren ist – Klick! – antisemitisch. Doch dieses Beispiel über die Notwendigkeit, zwischen einem zu rechtfertigenden privaten Groll und einem eine Bevölkerungsgruppe diffamierenden Vorurteil zu unterscheiden, bringt uns vielleicht nicht wirklich weiter. Ich jedenfalls glaube, dass es wichtig ist, obige Formulierung als den jüdischen Witz zu begreifen, der in ihr steckt – mitsamt seiner impliziten Herabsetzung von Juden inmitten ihrer Verteidigung. »Mehr als absolut nötig« bedeutet unter Juden: »Natürlich nerven wir, aber lasst euch nicht gleich dazu hinreißen, uns umzubringen.« Doch »ich erkenne es, wenn ich es sehe« und »Klick!« helfen nur, wenn wir die wesentlichen Elemente des Antisemitismus, seine Bausteine, bereits verstanden haben. Wir müssen die Inhalte dieses Hasses auf den Tisch bringen. Sobald wir ihn identifizieren können, dürfen wir es unseren Instinkten erlauben, sich zu beteiligen. Solange etwas nicht definiert werden kann, solange kann es auch nicht angesprochen oder bekämpft werden. Wenden wir uns deshalb formaleren Definitionen zu. Die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die mittlerweile vom Europaparlament und auch von der deutschen Bundesregierung übernommen wurde,4 kennzeichnet ihn als: Eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.5 Also auch Nichtjuden? In der Tat. In Arthur Millers Roman Fokus (1945) erleidet ein Mann, der selbst latent antisemitisch ist, eine Sehtrübung und muss plötzlich eine Brille tragen. Sein Chef und seine Nachbarn glauben aufgrund seines veränderten Aussehens, dass er Jude sein müsse, und machen ihn zum Opfer ihrer Vorurteile und schließlich körperlicher Gewalt.6 Obwohl er kein Jude ist, wird er paradoxerweise das Opfer von Antisemitismus. Die amerikanische Soziologin und Historikerin Helen Fein steuert in ihrer Definition einige weitere wichtige Elemente bei: Ein dauerhafter latenter Komplex feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als einem Kollektiv. Diese Überzeugungen äußern sich beim Einzelnen als Vorurteil, in der Kultur als Mythen, Ideologie, Folklore und in der Bildsprache sowie in Form von individuellen oder kollektiven Handlungen – soziale oder gesetzliche Diskriminierung, politische Mobilisierung gegen Juden und kollektive oder staatliche Gewalt –, die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten.7 Die Betonung liegt auf dauerhaft. Antisemitismus verschwindet nicht; er ist kein einmaliges Ereignis. Obwohl sich seine äußere Form mit der Zeit durchaus verändern kann, bleibt er seinem Wesen nach derselbe. Man kann ihn mit einer hartnäckigen Infektion vergleichen. Medikamente können die Symptome lindern, doch der eigentliche Infekt brütet im Hintergrund weiter und kann zu gegebener Zeit in einer neuen Inkarnation, einer veränderten »äußeren Schale« wieder auftauchen. Während die Form des Hasses sich biegsam und anpassungsfähig zeigt, bleiben seine Grundideen, oder besser die Illusionen, die seinen Kern ausmachen, konstant. In der Antike und im Mittelalter war der Antisemitismus religiöser Natur. Juden wurden gehasst, weil sie sich weigerten, zum Christentum, und später zum Islam, zu konvertieren. Im 18. Jahrhundert kamen zu den religiösen Begründungen ethnische und politische hinzu. Voltaire schätzte die hierarchischen Strukturen der Kirche gering, doch genauso herablassend äußerte er sich über Juden. Im 19. Jahrhundert beschuldigte die politische Rechte alle Juden, sie seien Sozialisten, Kommunisten und Revolutionäre. Die politische Linke wiederum beschuldigte alle Juden, sie seien von Eigentum besessene Kapitalisten, die sich dem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Armen und der Arbeiterklasse entgegenstellten. Um die Sache noch zu verkomplizieren, verkündete die Pseudowissenschaft der Rassenkunde, Juden seien aufgrund ihres Erbguts minderwertig. Unter jenen, die diese pseudowissenschaftlichen Behauptungen aufstellten, gab es wiederum einige, die behaupteten, Juden besäßen nicht nur negative Merkmale, sondern auch Eigenschaften, die ihnen anderen gegenüber Vorteile verschafften. Juden seien etwa bösartig intelligent, und indem es ihnen leichtfalle, mit Nichtjuden Kontakte zu pflegen, setzten sie diese Eigenschaft ein, um in den Leben von Nichtjuden verheerende Schäden anzurichten. Dass dies einen Widerspruch in sich darstellte – gleichzeitige Überlegenheit und Unterlegenheit –, war für Antisemiten völlig unproblematisch. Dieses giftige Gebräu aus Rassismus, Religion, Politik und Pseudowissenschaft wurde zum Grundstein des nationalsozialistischen Antisemitismus und ist heute einer der Grundsteine der US-amerikanischen White-Power- beziehungsweise White-Supremacy-Bewegungen.8 Antisemitismus als Komplex zu bezeichnen bedeutet, ihn nicht lediglich als eine Anhäufung inkonsistenter Ideen zu verstehen. Er kann, wie Fein hervorhebt, zu Handlungen führen – zu »sozialer oder rechtlicher Diskriminierung, politischer Mobilisierung … und kollektiver oder staatlicher Gewalt«. Zudem ist ihm eine innere Stimmigkeit zuzugestehen. Diese Stimmigkeit mag wahnhaft und absurd sein – wie die Logik des Kommunisten, für den es ganz klar war, dass die Juden Glück hatten, weil sie als Erste aus der Warteschlange vertrieben wurden und deshalb nicht so lange in der Kälte hatten warten müssen –, sie ergibt aber für den Antisemiten durchaus Sinn. Unabhängig davon, ob die jeweiligen antisemitischen Erscheinungsformen religiöser, politischer, gesellschaftlicher oder ethnischer Natur sind oder eine krude Mischung aus allen, sie enthalten doch immer aufs Neue dieselben Themen oder Tropen. Wir kennen sie nur allzu gut: Zahlenmäßig deutlich unterlegen, verstünden es Juden, weitaus mächtigere Entitäten zu zwingen, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Zu ihren Zielen gehöre dabei stets, andere Juden auf Kosten von Nichtjuden zu unterstützen. Juden hätten im Laufe der Jahrtausende und unabhängig davon, ob sie auf engstem Raum zusammen- oder durch Kontinente getrennt lebten, einen kosmopolitischen Zusammenhalt herausgebildet, der ihre bösen Taten überhaupt erst möglich mache. Die historische Schablone für diese Vorwürfe findet sich in den Beschreibungen von Jesus’ Tod im Neuen Testament. Ungeachtet der Tatsache, dass alle, die an diesen Ereignissen beteiligt waren, jüdisch waren – mit Ausnahme der Römer, die die eigentliche Kreuzigung durchgeführt haben –, haben sie Generationen von Kirchenführern immer so erzählt, als hätten »die Juden« Jesus getötet und damit der Menschheit seine Weisheit, Göttlichkeit und Herrlichkeit vorenthalten. Sie hätten es getan, weil er verlangt habe, dass die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben würden, was wiederum eine Bedrohung des Einkommens der Tempeloberen bedeutet habe. Dieser christlichen Doktrin zufolge wurde Jesus gekreuzigt, weil er unter anderem die Macht der Juden und ihren Wohlstand bedrohte. Die Kirche hatte institutionelle Gründe, die Juden verantwortlich zu machen und sie heftig zu tadeln. Judentum und Christentum waren konkurrierende Religionen. Das Christentum war ein »Sprössling« des Judentums, und sein Erfolg wurde von der Tatsache bedroht, dass es Juden gab, die sich weigerten, die neue »Wahrheit« zu akzeptieren. Ein historischer Baustein in der Entwicklung dieser Feindseligkeit war die Erklärung des Apostels Paulus, wonach ein »Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«, und für Jesus »weder Beschneidung noch unbeschnitten sein etwas« bedeute. Mit anderen Worten ersetzt der Glaube an Jesus und seine Lehren jüdisches Recht und jüdische Tradition. Enterbungs- oder Substitutionstheologie – Paulus’ Erklärung, dass das Christentum der eine wahre Glaube sei und deshalb das Judentum sowohl im Glauben als auch in der Tat verdränge oder ersetze – wurde zu einem wesentlichen Lehrsatz des neuen Glaubens. Die Paulinische Doktrin marginalisierte Juden, vor allem jene, die weiterhin jüdischen Traditionen treu blieben, und stellte sie als wahrheitsblind dar. Juden, so argumentierten die Anhänger Paulus’, lehnten aufgrund ihrer angeborenen Bösartigkeit den neuen Glauben ab. Diese Formulierung machte aus dem Judentum mehr als nur eine konkurrierende Religion. Sie stempelte es zur Quelle des Bösen. Genau hierin liegt der große Unterschied zwischen Antisemitismus und anderen Vorurteilen. Antisemitismus ist nicht einfach der Hass auf etwas »Fremdes«, sondern der Hass auf das immerwährende Böse in der Welt. Die Juden sind nicht ein Feind, sondern der ultimative Feind.9 Dieser Hass ist allgegenwärtig. Er hat über Jahrtausende und in unterschiedlichen Kulturen überlebt. Er zeigt sich bis heute in vielen Regionen der Welt – selbst in solchen, in denen keine Juden leben. Er hat eine ganze Reihe von Ideologien infiltriert, selbst den entschieden atheistischen Marxismus. Es ist wichtig zu verstehen, das der Antisemitismus, und so ist es bei allen Vorurteilen, unabhängig jeglicher Handlungen von Juden existiert. Es kann durchaus vorkommen, dass Vorwürfe gegen einen bestimmten Juden, oder auch gegen eine Gruppe von Juden, berechtigt sind. Es gibt einige Juden, die von Geld besessen sind oder ihre Angestellten schlecht behandeln. Doch dasselbe kann man auch über einzelne Nichtjuden sagen. Zu sagen: »Natürlich ist X von Geld besessen, er ist doch Jude, oder etwa nicht?«, ist antisemitisch. Antisemitismus ist nicht Hass auf Menschen, die zufällig Juden sind. Er ist Hass auf sie, weil sie Juden sind.10 Doch wie können antisemitische Anschuldigungen angesichts ihrer Absurdität überhaupt an Boden gewinnen? Eine Erklärung könnte sein, dass sie aufgrund ihrer jahrtausendealten Einbettung in der Gesellschaft eine Beharrlichkeit entwickelt haben, der schwer beizukommen ist. Antisemitismus wurde zu einem Mittel, um eigentlich nicht zu erklärende Situationen doch zu erklären. Als etwa im 14. Jahrhundert die Pest Europa versehrte, wurden Juden bezichtigt, Brunnen zu vergiften und die Krankheit zu verbreiten. Für Menschen, die über Jahrtausende einem kirchenbasierten Antisemitismus aufgesessen waren, stellte das eine einfache, überschaubare und logische Erklärung für eine scheinbar unerklärliche Krankheit dar. Wirtschaftskrisen, politische Spannungen, erfolglose militärische Aktionen und eine Unzahl weiterer Desaster wurden wegerklärt, indem man sie auf den Einfluss von Juden zurückführte. Diese Schuldzuweisungen an die Juden, die für das Leid anderer verantwortlich seien, dienten lediglich dazu, die Macht des Antisemitismus weiter zu verstärken. Einige allerdings argumentieren, der Antisemitismus sei in sich nicht kohärent. Jean-Paul Sartre etwa bestand darauf, dass der Antisemitismus eine »Leidenschaft« sei, und lehnte die Vorstellung, wonach er eine empirische Idee sein könne, ab. Antisemitismus ergibt nach Sartre keinen Sinn und solle nicht dadurch gewürdigt werden, dass man ihn als »Idee« bezeichne.11 Sartres Begriff des Irrationalen scheint die historischen und religiösen Ursprünge des Judenhasses zu ignorieren. Anthony Julius ist sich der historischen Linie dieses Hasses zwar voll bewusst, wiederholt und erweitert aber letztlich Sartres Position, wenn er behauptet, Antisemitismus müsse gesehen werden als ein »diskontinuierlicher, zufälliger Standpunkt innerhalb einer Reihe unterschiedlicher Mentalitäten und Milieus … Er ist ein heterogenes Phänomen, ein Ort des kollektiven Hasses, aber auch der kulturellen Ängste und Verstimmungen.«12 Indem sie die Vorstellung, wonach der Antisemitismus einen intellektuell glaubwürdigen Rahmen oder eine einheitliche Feldtheorie besitze, ablehnen, lenken Sartre und Julius die Aufmerksamkeit sowohl auf die irrationale Natur dieser Animosität als auch auf die Gründe, warum sie so schwer zu bekämpfen ist.13 Julius bringt aber noch etwas Neues in unsere Diskussion ein. Er weigert sich, die Statur und Wichtigkeit des Antisemiten zu vergrößern. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Julius, der mein Anwalt war, als ich von David Irving wegen Verleumdung verklagt wurde, weil ich ihn einen Holocaustleugner, Antisemiten und Rassisten genannt hatte. Kurz vor Beginn des Prozesses, fassungslos angesichts der persönlichen Last dieses Rechtsstreits, sagte ich zu Julius, ich wolle Irving vernichtet sehen. »So wichtig ist er nun auch wieder nicht«, antwortete mir Julius. Ich war bestürzt. Er und seine Kanzlei hatten sich zwei Jahre pro bono für meinen Fall eingesetzt. Er verachtete Irvings Methode, Geschichte zu erfinden und Antisemitismus zu verbreiten. Wie konnte er nur sagen, er sei nicht so wichtig? Als er meine Verwirrung wahrnahm, erklärte er, was er gemeint hatte. Nicht Antisemitismus sei unbedeutend, sondern der Antisemit selbst. »Stellen Sie sich vor, Ihr Kampf gegen Irving entspräche den Vorkehrungen, die unternommen werden müssen, um die eigenen Schuhe von dem Schmutz zu säubern, den ein Hund auf der Straße zurückgelassen hat«, sagte er (wobei er einen weitaus plastischeren Begriff als »Schmutz« gebrauchte). »Der Schmutz hat an sich keinen Wert. An ihm ist nichts Interessantes. Dennoch muss man seine Schuhe gründlich von ihm reinigen, bevor man mit ihnen nach Hause geht. Versäumt man dies und bringt den Schmutz mit in die Wohnung, hat man ein echtes und langwieriges Problem am Hals. Genauso verhält es sich mit dem Antisemiten.« Julius hatte recht. Er wusste, dass die Lügen und Vorurteile, die Irving ausspie, unerbittlich bekämpft werden mussten. Unsere Herausforderung besteht bis heute darin, den Antisemiten zu bekämpfen, ohne dass er (oder sie) an Statur gewinnt.14 Antisemiten müssen bekämpft werden, besonders dann, wenn die Gefahr besteht, dass ihre Leidenschaft oder Ideologie von Regierungen übernommen werden könnte. Und doch sind sie Menschen ohne Bedeutung. Kann etwas eine in sich stimmige Struktur besitzen, während es sich gleichzeitig aus disparaten Leidenschaften zusammensetzt? Ich würde denken, dass dies möglich ist. Das ist Teil der »elastischen« Eigenschaften des Antisemitismus. Manchmal zeigt er sich als Leidenschaft. In anderen Fällen präsentiert er sich als normativ. Doch welche Form auch immer er annimmt, wir müssen darauf bestehen, dass Antisemitismus noch nie Sinn ergeben hat und es auch nie tun wird. Bekämpft ihn. Doch erhebt ihn oder seine Diener nicht zu einer Größe, die sie nicht verdienen.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Piper Taschenbuch
Übersetzer Stephan Pauli
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Antisemitism: Here and Now
Maße 120 x 187 mm
Gewicht 288 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Schlagworte alt-right • Anschlag • Antisemitismus • Antizionismus • David Irving • Denial • Halle • Holocaust • Israel • Juden • Judenhass • Judenverfolgung • Judenvernichtung • Linker Antisemitismus • Lipstadt • Neonazis • Rassismus • Rechtspopulismus • Rechtsradikalismus • Synagoge • Trump • Verleugnung
ISBN-10 3-492-31622-0 / 3492316220
ISBN-13 978-3-492-31622-4 / 9783492316224
Zustand Neuware
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