Heidemarie Brosche ermuntert Eltern, solche Zuschreibungen kritisch zu betrachten und sie mutig anders zu sehen. Schreibt ein Kind in den Augen seiner Lehrerin zum Beispiel zu langsam, kann das heißen, dass es ganz bei sich ist, sehr konzentriert arbeitet und keine Flüchtigkeitsfehler macht. Oder wird ein Kind als zu dominant und aggressiv beschrieben, kann das bedeuten, dass es auch durchsetzungs- und willensstark ist. Erkennen Eltern das Positive dieser Qualitäten, hilft dies dem Kind, Selbstbewusstsein und Ichstärke zu entwickeln und sein So-Sein zu akzeptieren.
Ein Mutmacher für alle Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder in Schubladen gesteckt werden.
Heidemarie Brosche, geboren 1955, ist Mittelschullehrerin in Augsburg und erfolgreiche Autorin von Kinder-, Jugend- und Sachbüchern. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrem Mann in Friedberg/Bayern.
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Mäkler und Schwächen-Finder
Ich würde gerne wissen, ob es überhaupt Eltern gibt, die niemals mit der – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Aussage konfrontiert worden sind, ihr Kind sei zu …
Verwandte, Freunde, Bekannte, erfahrenere Eltern, andere Eltern, Nachbarn, aber auch Zufallsbegegnungen – sie alle und noch viele mehr bringen gerne zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach das Kind nicht ganz so ist, wie es sein sollte. Später dann kommt derartige Kunde vor allem aus Kindergarten und Schule. Manche solcher Beanstandungen sind spürbar gut und hilfreich gemeint, viele werden mit unverhohlener Missbilligung bis Gereiztheit vorgetragen. Für die Eltern fühlt es sich in der Regel einfach nur schlecht an, wenn man sie wissen lässt, dass man ihr Kind für zu … hält.
Nun möchte ich nicht behaupten, jeder kritische Kommentar von außen, der sich auf das eigene Kind bezieht, sei zwangsläufig falsch, überflüssig oder übergriffig. Von außen werden manche Dinge viel klarer gesehen als von denen, die bis zum Hals im Beziehungsgeschehen stecken, die also befangen sind und den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Aber es ist eben auch sehr schwer, solche »Bemängelungen« als Unterstützung anzunehmen. Für mich zum Beispiel war es keine Hilfe, als mich der Zahnarzt wissen ließ, eines meiner Kinder sei für einen Jungen zu ängstlich und zu wehleidig, das andere sei super. Von mir wurde die gesamte Bemerkung als abfällig empfunden, sie hat mir nicht nur nicht geholfen, sie hat mir einen Stich versetzt. Denn ich wusste doch selbst, dass das unkompliziertere Kind es leichter hat, aber eben auch, dass das andere Kind im Moment eben so und nicht zu … war.
Leider hört das Mäkeln nicht auf, wenn die Schule zu Ende ist. Auch im Beruf, in der Freizeit, vor allem aber in der Partnerschaft schleichen sich gerne Bemängelungen à la zu … ein. Mit dem Unterschied, dass sie dann – wenn es gut geht – nicht mehr so hart treffen.
Verwandte, Freunde und Bekannte
Leider fehlen sie fast nirgends: Familienmitglieder, Verwandte, Freunde und Bekannte, die ihren besserwissenden, bemängelnden Kommentar zum Kind abgeben. Ohne Aufforderung unterziehen sie Enkel, Neffen, Nichten, Cousins, Cousinen, Freundes- und Bekanntenkinder ihrem kritischen Blick – und kommentieren.
Eine junge Kollegin erzählt, dass selbst ihre geliebte Oma sie immer wissen ließ, sie verhalte sich nicht ihrem Alter angemessen. Sie sei für viele damals zu vernünftig gewesen und habe sich zu reif benommen. »Ich hatte sehr wohl Freundinnen und Freunde«, berichtet sie, »aber wenn die am Abend ausgingen und ewig lange rumhingen und Alkohol tranken, blieb ich lieber zu Hause. Das gefiel mir einfach besser. Sehr früh hatte ich auch schon einen festen Freund, mit dem ich immer noch zusammen bin und den ich heiraten werde. Ich finde heute, ich habe überhaupt nichts versäumt.« Noch immer hält sich die junge Frau im Vergleich zu Gleichaltrigen für sehr vernünftig. Sie sagt, sie habe konsequent für ihr Studium gelernt und arbeite nun hart im Beruf. »Aber das ist doch kein Manko!«, stellt sie fast empört fest.
Auch im folgenden Beispiel geht es interessanterweise um negative Bewertungen eines Verhaltens, das man gemeinhin als positiv bewerten würde. Aber wenn sich im Verwandtschaftskreis alle einig sind …
Ich dachte, Erwachsene meinen es gut mit mir. Ich dachte, ich lerne von ihnen, ich dachte, vor allem meine Familie und meine nächsten Verwandten, das sind die Personen, denen ich grenzenlos vertrauen kann.
Als Kind war ich erfolgreich. Schnell. Klug. Neugierig. Fühlte mich getragen von meinen Stärken, von meiner unbändigen Fröhlichkeit und meinem offenen, neugierigen Wesen. Aber: Ich kannte die Gesetze der Erwachsenen nicht. Ich hörte meine Onkel sagen: »Du Streber!«, »Dein Hosenanzug sieht aus wie ein Kasperle-Kostüm«, »Bist du in den Farbkasten gefallen?«, »Deine Bissen sind zu groß – eine Dame is(s)t anders!«, »Das Besteck liegt nicht auf 16 Uhr«, »Och, schon wieder eine Eins – wie langweilig!«
In manchen Momenten dachte ich, ich könne rein gar nichts recht machen. Egal, wie sehr ich mich bemühte – oder vielleicht gerade deswegen –, war doch immer irgendwas, was ihnen nicht passte und missfiel. Ich fühlte mich falsch und mein gesundes Selbstbewusstsein bröckelte. Wie habe ich mich angestrengt, in der Schule schlechte Noten zu schreiben – nur um das Wort »Streber« nicht mehr hören zu müssen! Auf die Idee, dass meine Verwandten nur ihre eigenen Kinder in den Vordergrund rücken wollten und ich ihnen schlichtweg deswegen zu erfolgreich war, kam ich gar nicht – schließlich sah ich nur das Gute und Ehrliche in jedem Menschen.
Um es vorwegzunehmen: Meine Ziele, die ich mir setzte, habe ich in späteren Jahren allesamt erreicht. Allerdings wäre der hohe Preis – mein Selbstbewusstsein so zu demolieren – sicher nicht nötig gewesen, hätte ich mich in meinem Wesen unterstützt und nicht bemängelt gefühlt. Statt Leichtigkeit und Freude bestimmte das implizierte Mangeldenken mein Unterbewusstsein.
Regine Wolf, 49, Dipl.-Oec. (Wirtschaftswissenschaften)
Zufallsbegegnungen
Auch weit weg von Verwandten, Bekannten und Freunden sind Eltern und Kinder nicht sicher vor wertenden Kommentaren. In öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Kinderarzt, im Supermarkt, im Restaurant – überall treffen Menschen mit Kindern auf andere, die sich bemüßigt fühlen, das Verhalten von Kindern, die nicht ihre eigenen sind, zu taxieren.
»Die ist aber sehr schüchtern!« So ausgesprochen, dass man das Zu schon greifen kann.
»Der ist aber lebhaft!« Könnte auch zu lebhaft heißen.
»Ihr Sohn hängt aber sehr an seiner Mutter!« Der Unterton macht ein »Zu sehr« draus.
Eltern können dann denken: Was weißt du schon von meinem Kind?, Was geht dich mein Kind an?, Ich weiß selbst, dass mein Kind schüchtern ist – und es macht mir überhaupt nichts aus.
Manchmal aber erwischt der wertende Kommentar Vater oder Mutter kalt. Wenn sie selbst gerade am Zweifeln sind, wenn sie sich in ihrer Erzieherrolle gerade unsicher sind, wenn sie einfach überhaupt gerade schlecht drauf sind – dann bohrt die Bemängelung in die Wunde: Vielleicht ist das eigene Kind ja tatsächlich zu wehleidig. Vielleicht ist es zu unruhig. Vielleicht hat man zu schlecht erzogen.
Kita und Kindergarten
In Kita und Kindergarten ist das Kind auf einmal mit einer Vielzahl gleichaltriger Wesen zusammen. Wenn die Eltern dann zu hören bekommen, das Kind sei zu …, hat dies wesentlich mehr Schlagkraft, als wenn die Bemängelung aus dem Munde von Onkel oder Nachbarin kommt – aus zwei Gründen:
- 1.Die Erwachsenen, mit denen das Kind zusammentrifft, sind Erziehungsprofis.
- 2.Das Vergleichen in einer festen Gruppe beginnt.
Und schon mischt sich in das Unbehagen Sorge: Was, wenn die Fachleute recht haben? Was, wenn das eigene Kind wirklich motorisch zu ungeschickt ist? Was, wenn es im Vergleich zu allen anderen zu unselbstständig ist?
Zu Beginn meiner Schulzeit bin ich als zu ruhig und leicht ablenkbar definiert worden. Ich war eher schüchtern und das hat sich eine Zeit lang hingezogen. Außerdem hatte ich eine Schwäche in Rechtschreibung und war in einem Förderkurs für Deutsch. Dadurch ist einem Kind auch in der 1. Klasse schon klar, dass es nicht so gut ist wie die anderen. Mich hat das natürlich verunsichert. Noch lange habe ich mich als nicht gut genug gefühlt. Das kommt auch heute immer mal wieder durch.
Bis ich die Schwächen nutzbar machen konnte, hat es lange gedauert. Der Besuch eines Vertreters des Arbeitsamtes in der Realschule hat mich angespornt. Danach habe ich Ehrgeiz entwickelt und wurde zum fleißigen Lerner. Heute weiß ich sehr gut, wie ich mir Wissen aneignen kann. Ich bin dadurch, denke ich, sehr strukturiert und fokussiert geworden.
Was mich heute als zweifache Mutter bewegt: Bereits in Kinderkrippe und Kindergarten herrscht eine regelrechte Frühförderungskultur. Ich finde den Umgang damit schwierig, denn man möchte sein Kind nicht schon früh stigmatisieren. Die Kinder haben ja eine gewisse Persönlichkeit und ich frage mich, wo hört Persönlichkeit auf und wo fängt ein »Problem« an. Aus vielen Eigenarten wachsen Kinder ja auch heraus. Andererseits kann spielerische Unterstützung nicht verkehrt sein. Und natürlich sollte man rechtzeitig »eingreifen«, wenn es nötig ist.
Dr. Larissa Drescher, 38, Ökotrophologin
Dieses Beispiel zeigt:
- 1.Bewertung wird leicht als schmerz- und dauerhafte Stigmatisierung empfunden.
- 2.Schwächen können nutzbar gemacht werden.
- 3.Die Frühforderungsbemühungen in Kita und Kindergarten können sich abwertend anfühlen.
Institution Schule
Jeder, der noch einen Hauch von Erinnerung an seine eigene Schulzeit hat, kennt sie. Jeder, der ein Kind in der Schule hat, kennt sie noch viel besser, und wer gleich mehrere Kinder durch...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Ablehnung • eBooks • Eltern • Elternabend • Erziehung • Erziehungsratgeber • Gerald Hüther • Gesundheit • Jedes Kind ist hochbegabt • Kindererziehung • kindliche Schwäche • kindliche Stärke • Mobbing • Pädagogik • Ratgeber • Schulangst • Schulprobleme • Selbstwert • Sitzenbleiben |
ISBN-10 | 3-641-21074-7 / 3641210747 |
ISBN-13 | 978-3-641-21074-8 / 9783641210748 |
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