Landflucht der Wildtiere (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56851-8 (ISBN)
Dr. Sebastian Lotzkat, geb. 1981, beschäftigt sich als Biologe mit der Biodiversität von Reptilien und Amphibien. Im Rahmen seiner Promotion verbrachte er rund 12 Monate in den Regenwäldern Panamas, um die Vielfalt der dortigen Reptilien zu dokumentieren und dabei auch einige neue Arten von Echsen und Schlangen zu entdecken. Neben der reinen Wissenschaft konzipiert und realisiert er unter anderem im Senckenbergmuseum und im Palmengarten Frankfurt Führungen, Workshops, Vorträge und Exkursionen, arbeitet als freier Autor und ist preisgekrönter Science Slammer.
Dr. Sebastian Lotzkat, geb. 1981, beschäftigt sich als Biologe mit der Biodiversität von Reptilien und Amphibien. Im Rahmen seiner Promotion verbrachte er rund 12 Monate in den Regenwäldern Panamas, um die Vielfalt der dortigen Reptilien zu dokumentieren und dabei auch einige neue Arten von Echsen und Schlangen zu entdecken. Neben der reinen Wissenschaft konzipiert und realisiert er unter anderem im Senckenbergmuseum und im Palmengarten Frankfurt Führungen, Workshops, Vorträge und Exkursionen, arbeitet als freier Autor und ist preisgekrönter Science Slammer.
Stadtnatur – natürliche Stadt
Kurz nach halb drei: Kippenpause. Ich stehe im Hof neben dem Institutsgebäude des Senckenberg Forschungsinstituts in Frankfurt am Main, wo ich als Biologe arbeite. Direkt hinter dem gleichnamigen Naturmuseum, wo ich auch Führungen und Vorträge veranstalte. In der warmen Maisonne lasse ich meinen Blick gedankenverloren über den schmalen Grünstreifen gegenüber wandern, von dem aus der Wilde Wein das angrenzende Gebäude der Goethe-Universität bereits vollkommen überwachsen hat. Der Lärm der Stadt dringt nur leise hierher in den Hinterhof, irgendwo in der Nähe fiepen ein paar Meisen. Plötzlich ist die Hölle los: Laut kreischend knallt ein Knäuel Federn mitten in das wuchernde Grün vor mir, zwischen die Füße des Wilden Weins. Ich bin mit einem Schlag hellwach, aber erst so langsam erkenne ich, was genau da gerade passiert: Eine Amsel zetert und flattert um ihr Leben. Ihr dicht auf den Fersen ist ein kleiner Raubvogel, ein Sperber. Sozusagen ein Habicht in zierlich, nicht sehr viel größer als die Amsel, die er sich als Beute auserkoren und wohl zuerst im Flug gegriffen hat, dafür aber sehr hartnäckig: So oft sie seinen Fängen auch entkommt, er stürzt ihr nach und greift sie sich erneut oder versucht es wenigstens. Quer durch das Gestrüpp wirbeln die beiden hin und her, bis die Amsel es schafft, irgendwo unterzutauchen. Der Sperber wartet noch einen Moment, dann schaut er mich kurz an, als wollte er sagen: «Was guckst du?», und fliegt davon, als wäre nichts gewesen. Ich bin total perplex von dem Spektakel, das sich da innerhalb weniger Sekunden keine vier Meter vor mir abgespielt hat. Etwa einen Kilometer entfernt, im Botanischen Garten, wäre ich wohl nur halb so überrascht gewesen. Weil dieser Garten eben ein mehrere Hektar großes Stück Natur ist. Aber hier, mitten zwischen hohen Häusern und vielbefahrenen Straßen?
Frankfurt am Main, kurz nach Mitternacht im Februar. Ich sitze in einer U-Bahn der Linie U4 und bin auf dem Weg zum Südbahnhof, wo ich in einen Nachtzug nach Berlin steigen werde. Am Willy-Brandt-Platz muss ich umsteigen. Als ich gemächlich die Treppe zum richtigen Gleis hinaufsteige, muss ich mich plötzlich ducken: Trotz der späten Stunde sausen zwei Tauben im Tiefflug das Treppenhaus herab, als könnten sie das nicht auch oberhalb der Augenhöhe eines deutschen Durchschnittsbürgers tun. Am Bahnsteig Richtung Südbahnhof angekommen, wandert mein Blick langsam über die «Säulen der Eintracht», überlebensgroße Bilder von herausragenden Spielern dieser ehemals nahezu unschlagbaren Fußballmannschaft. Während ich angesichts von Bernd Hölzenbeins Hot Pants über den Wandel der Sportmode im Laufe der Jahrzehnte sinniere, bewegt sich unter seinen Füßen plötzlich etwas über die Gleise. Ich senke meinen Blick und muss nicht lange warten: Eine kleine Maus flitzt von Deckung zu Deckung, hält zusammengekauert still und flitzt wieder weiter. Kurz darauf folgt ihr eine zweite. Zumindest glaube ich, dass es nicht dieselbe war. Das Insekt, das beim Einfahren meiner U-Bahn noch schnell das Weite sucht, kann ich leider nicht genau erkennen.
Fünf Uhr früh, Leipzig Hauptbahnhof. Ich muss hier umsteigen, um nach Berlin zu kommen und nicht ungewollt in Prag aufzuwachen. Genervt von dieser Tatsache und sehr, sehr schlaftrunken schlurfe ich den Bahnsteig hinunter und traue meinen Augen kaum: Direkt vor dem Kopf des Gleises, nur durch den Prellbock von der Lokomotive meines bisherigen Beförderungsmittels getrennt, sitzt eine Waldschnepfe. Eine stinknormale Taube, ein Spatz oder eine Krähe wären ja nichts Besonderes und kaum der Rede wert, aber eine Waldschnepfe? Ein überaus scheuer und vorsichtiger Vogel, der – richtig geraten – im Wald zu wohnen pflegt und dort durch sein Flecktarngefieder optisch perfekt mit der Umgebung verschmilzt. Der deswegen den meisten Mitbürgern auch völlig unbekannt ist. Aber hier um fünf Uhr morgens vollkommen offen und weithin sichtbar mitten in der Leipziger Bahnhofshalle hockt, wo ihm das Flecktarnmuster gar nichts bringt. Was, um alles in der Welt, hat diese Schnepfe hierher verschlagen? Ich bleibe einige Meter von ihr entfernt stehen, reibe mir die Augen und kann mir immerhin schnell denken, warum sie nicht schon längst wieder in ihren Wald geflogen ist: Sie ist offensichtlich verletzt, denn Gesicht und Schnabel sind blutig. Wenn ich raten müsste, würde ich auf eine Raubtierattacke oder, hier wesentlich wahrscheinlicher, auf eine heftige Kollision mit einer Glasscheibe tippen. Weil ich die Ärmste nicht noch zusätzlich stressen möchte und sowieso keine Zeit für ernsthafte Rettungsaktionen habe, überlasse ich sie ihrem Schicksal. Das ist vielleicht schon wenig später entschieden worden: Ein offensichtlich besorgter und sicher sehr fürsorglicher Mitmensch hat die blutende Schnepfe ebenfalls entdeckt und nähert sich ihr. Sie tut, was Waldschnepfen in solchen Fällen gemeinhin tun: auffliegen und flüchten. Allerdings sehr unbeholfen und wackelig. Zwei Bahnsteige weiter kollidiert sie hörbar mit einer Glasscheibe und purzelt in den darunter befindlichen Treppenabgang. Ich steige in meinen Zug.
Berlin Hauptbahnhof, kurz vor acht: Nicht besonders ausgeruht schleppe ich mich aus dem Zug und mit zwei flugs erstandenen Croissants rein in die DB Lounge, um dort eine größere Menge kostenlosen Kaffee abzustauben. Die viele Bahnfahrerei muss sich ja auch mal lohnen. Bevor ich mich über das Gebäck hermache, gehe ich mit der ersten Tasse des schwarzen Goldes vor die Tür, um mit einer geballten Ladung meiner Lieblings-Alkaloide Koffein und Nikotin dem Zustand geistiger Wachheit ein wenig näher zu kommen. Die winterliche Kälte hilft dabei, während die Farben des sich ankündigenden Sonnenaufgangs meine Stimmung schlagartig verbessern. Über mir krächzen Krähen vom Lüftungsturm mit dem Logo des größten deutschen Verkehrsbetriebes, und einzelne Dohlen werfen ihr scharfes «Kjäh» dazwischen. Weiter hinten an der Spree streiten sich ein paar Möwen, während diverse Stockenten und ein einsamer Reiher bewegungslos am Ufer ausharren, als seien sie festgefroren. Für Füchse ist es wohl schon zu hell, zumindest ist keiner zu sehen. Zurück im warmen Wartesaal für Vielfahrer packe ich die Croissaints aus und lasse sie mir mit kleinen Schlückchen Kaffee auf der Zunge zergehen. Während ich abzuschätzen versuche, wie viel Prozent meines Frühstücks wohl als Blätterteigbrösel zwischen meinen Füßen landen, muss ich unvermittelt sehr breit grinsen: Ein Silberfischchen wuselt zwischen den Bruchstücken meines Croissants hindurch auf eine Lüftungsleiste im Boden zu und verschwindet darin. Ein stattliches Exemplar, auf jeden Fall das größte, an das ich mich erinnern kann – ein wahres, schönes, gutes Silberfischchen! Wohnhaft in Deutschlands modernstem Großstadtbahnhof.
Vier mal fünf Minuten, drei Städte, dreizehn verschiedene Arten tierischer Darsteller. Manche dieser Tiere sind so gewöhnlich, dass sie nicht weiter überraschen und eigentlich kaum der Rede wert wären. Tauben kennt man ja aus der Fußgängerzone, Amseln aus dem Park, und Enten schnattern schließlich überall herum, wo es ein paar Quadratmeter Wasserfläche gibt. Die alle waren schon immer da und könnten schon fast als kollektive Haustiere der urbanen Bevölkerung durchgehen. Aber wilde, freie und am besten noch solch eher seltene Tiere wie Sperber und Waldschnepfe, die man als Stadtmensch, wenn überhaupt, eher aus Naturdokumentationen kennt? Quasi vor der Haustür mitten in der Großstadt, ist das nicht unnatürlich? Sind Städte nicht grundsätzlich etwas Unnatürliches, nämlich das Gegenteil von Natur, quasi Un-Natur, und werden deshalb von cleveren Tieren gemieden? Nicht wirklich. Oder besser: ganz im Gegenteil!
In Städten pulsiert das Leben. Hier konzentriert sich mittlerweile der größte Teil menschlichen Daseins und Schaffens. Weltweit lebt längst mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten. Sehr, sehr viele von ihnen wohnen wiederum in Großstädten – riesigen, aus Beton, Stein, Stahl und Glas geformten Superorganismen mit mehr als 100000 Einwohnern, die zig Meter tief in die Erde und oft hunderte Meter hoch in den Himmel ragen. Hier ist alles organisiert, elektrisiert, kanalisiert, asphaltiert, alles im rechten Winkel. Menschen gehen, radeln, fahren von A nach B, um dort irgendetwas zu tun, und dann wieder zurück nach A, oder sie nehmen den Umweg über C, um dort erst noch etwas anderes zu tun. Manche haben auch kein A, aber alle sind sie unterwegs. Zeitweise. Und machen etwas. Zeitweise. Und hinterlassen Müll. Ständig. Und bewegen sich dabei durch Straßen, Gänge, Treppen, Aufzüge, Türen, über Plätze, Korridore und Bahnsteige – durch lauter menschgemachte Strukturen, die ohne uns nicht da wären. Die nur da sind, weil wir uns ein effizientes und bequemes System aus Infrastrukturelementen geschaffen haben. Unsere urbanen Zentren haben mit der ursprünglichen Natur, die sich vor ihnen hier befand, auf den ersten Blick nichts mehr gemein. Aber in Städten pulsiert das Leben! Sie sind keine Nuklearwüste und auch nicht der Mond. Denn so sehr wir auch Schlaglöcher stopfen und Unkraut mit dem Gasbrenner aus Pflasterritzen verbannen – das Leben braucht Raum und nimmt ihn sich auch. Dabei kann es schon mal passieren, dass es diesen Raum in einer Stadt findet. Angesichts der immer größeren Fläche, die Städte weltweit beanspruchen, lässt es sich eigentlich kaum vermeiden. Das wilde Tierleben der Umgebung pulsiert ständig in die Städte hinein, und zumindest Teile davon pulsieren dort weiter. Tatsächlich sind unsere Städte bis an den Rand voll mit Tieren, und sie waren es schon...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2016 |
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Zusatzinfo | 4-farb.; zahlr. Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Artenvielfalt • Fuchs • Marder • Stadt • Stadtentwicklung • Stadtnatur • Tier • urbanes Leben • Wildnis |
ISBN-10 | 3-644-56851-0 / 3644568510 |
ISBN-13 | 978-3-644-56851-8 / 9783644568518 |
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