Reise in die schwarze Haut (eBook)
438 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560672-8 (ISBN)
Gertraud Heise, geboren 1944, Ausbildung als Schauspielerin an der Folkwang-Hochschule, zwei Jahre Theater, ab 1968 freie Mitarbeiterin beim Rundfunk. Sie erhielt verschiedene Journalistenpreise.
Gertraud Heise, geboren 1944, Ausbildung als Schauspielerin an der Folkwang-Hochschule, zwei Jahre Theater, ab 1968 freie Mitarbeiterin beim Rundfunk. Sie erhielt verschiedene Journalistenpreise.
II
Du sagtest, als ich nach deiner Familie fragte:
– Ich bin geschieden.
– Und wie viele Kinder hast du?
– Drei. Das ist viel, nicht wahr? Ja, ich habe mich von meiner Familie getrennt, ich habe die Revolution gewählt.
– Wie ich.
Du sahst mich zweifelnd an, lächeltest mich aus.
Da erzählte ich diese Geschichte:
Ich war ein begabtes Mädchen. Dann wurde ich – nicht ganz ohne meinen Willen – kolonisiert von meinem Ehemann. Obwohl ich intelligent war wie er, wurde ich für inkompetent gehalten und mit Dingen beschäftigt, die meine Intelligenz verkümmern ließen. Während er die Welt eroberte, sich weitere Frauen kolonisierte, erstaunliche Sachen erfand und bewundert wurde, war ich vollauf mit seinem Wohlergehen beschäftigt, unseren Kindern, meinen Träumen und meiner Vergangenheit. Mein Mann beschenkte mich hin und wieder, ich genoß seinen Schutz, und niemand durfte mich schlecht behandeln, außer ihm, der das Recht dazu hatte.
Eines Tages sagte ich ihm: Ich will frei sein. Und er meinte, er liebte mich doch und schenkte mir tags darauf eine Kette; er konnte manchmal bestechend großzügig sein. Aber ich wollte dieses Geschenk nicht mehr. Ich wollte die Unabhängigkeit, streikte, rebellierte, und so ließen wir uns nach langen Verhandlungen scheiden. Die Kinder blieben bei mir, ich mußte beruflich von vorn anfangen, konnte sie unmöglich allein ernähren, ihr Vater sorgte weiter für sie, so daß ich gar nicht unabhängig war.
Ich wollte keinen anderen Mann heiraten, wollte die Kinder nicht verkommen lassen …
Du sagtest: Aber du hast keine Kinder.
– Nein, ich habe keine Kinder, und ich war nie kolonisiert. Wenn ich Kinder hätte, säße ich jetzt nicht hier.
Aber ihr habt Kinder.
Du sagtest: Du bist lustig, ich mag lustige Leute …
In dem Moment fiel die Elektrizität aus.
Die Ursache der Dunkelheit beunruhigte dich sehr.
Flug nach Ouagadougou im grellen Mittag. Die kleine Maschine fliegt niedrig, und ich kann besichtigen, wenn der grüne Niger, die wenigen grünen Quadrate an seinen Ufern verschwunden sind, eine von der Sonne ausgenagte, abgeblätterte Landschaft. Winzige Kringel, wie von Kindern ungeschickt in den Sand gemalt, die Dörfer, und die gerade rote Schnur, die Piste.
Ich fliege in ein Land, von dem ich kaum mehr weiß, als daß es den letzten Platz unter den ärmsten Ländern Afrikas abgelehnt hat. Das sogar genannt worden war als ärmstes Land der Erde. Das ärmste Land der Erde kann nicht in Afrika liegen. Von der Existenz Obervoltas erfuhr die Welt während jener Dürrekatastrophe, von der es wie Niger heimgesucht wurde. Ein Binnenland im Sahel zur Savanne hin, ohne Bodenschätze. Die Menschen sollen dort freundlicher sein und die Militärregierung liberal. Naturreligionen herrschen vor dem Islam. Ein Land, in dem ganze Flußniederungen entvölkert wurden durch eine zu Blindheit führende Wurmkrankheit, die Onchozerkose.
Eines der letzten Länder Afrikas, in das ein Journalist unangemeldet reisen dürfe, um dort seine Arbeit zu tun.
Ich habe das zentral gelegene und von Afrikanern geführte »Hotel Central« gewählt. Die Zimmer sind kleiner, schäbiger und nicht billiger, haben dafür Telefon und keine Kakerlaken. Das Telefon funktioniert nicht, im ganzen Haus heute nicht. Der Mann hinter der leeren Bar rät mir, zum nächsten Hotel zu gehen, zum RAN, das ist ein schönes, vornehmes Haus.
Ugo hat mir, mitsamt einem Stoß Briefen, die Nummer eines Freundes von der UNO gegeben. Das Nummernsystem hat sich geändert, die Büros sind geschlossen, im Telefonbuch steht der Name eines Mannes auf hohem Posten nicht. Der Mann an der Rezeption kann mir nicht helfen. Jemand, der ebenfalls telefonieren will, das Problem verfolgt hat, löst es ganz schnell, ein junger Mann mit tiefschwarzer Haut. Er hört das Gespräch, das ich mit einem Dänen auf deutsch führe, an und lädt mich zu einem Drink ein.
Ob er deutsch verstünde? – Nein, aber sechs andere Sprachen, er sei Linguistikprofessor, erst seit 18 Monaten wieder in seinem Land, habe die Hälfte seines Lebens in Frankreich verbracht, 18 Jahre. Ich sage: Dann sind Sie ja kein Afrikaner mehr. Er sagt: Schaun Sie mich doch an, dann sehen Sie, wie sehr ich Afrikaner bin.
Er ist jung, zierlich, elegant, sein Gesicht mit schmalen Augen, flacher Nase, einem strengen, fast europäischen Mund, spiegelt außerordentliche Intelligenz. Daß er 36 Jahre alt sein will, erstaunt mich. Sein Französisch, so schnell gesprochen, wie sehr schnelles Denken es diktiert, hat keinen afrikanischen Akzent.
In aller Öffentlichkeit artikulieren zu dürfen, was ich suche, keine Touristin mehr sein zu müssen, erscheint mir wie ein sozialer Aufstieg, so daß mir in diesem Moment alle Rettungsringe, die mir Charles und Ugo mitgegeben haben, wie überflüssiger Ballast vorkommen. Gilbert, der Linguistikprofessor, eröffnet mir Perspektiven, von denen ich in Niger kaum noch träumte. Fast überstürzt bietet er jede Hilfe an, hat das Dorf, in das ich reisen will, »zur Verfügung« und wäre, vertraut mit allen sinnlichen Nuancen afrikanischer Sprache, der ideale Übersetzer.
Ich kann seine Einladung zum Abendessen nicht annehmen, er gibt mir seine Adresse, mittags ab zwei läge er immer am Swimmingpool des Hotels.
Der wichtige Mann von der UNO schildert Obervolta als einen Tummelplatz von Journalisten, derer man in seinem Haus etwas müde sei. Journalisten (das sagt er nicht) wie Schmeißfliegen auf dem Aas, dem Elend, ihrer Nahrung für die westliche Berichterstattung? Zur politischen Lage könne er mir keine Information erteilen. Ki-Zerbo, den berühmten Historiker, belästige ich auch besser nicht; total überrannt, könne er sich kaum über meinen Besuch freuen. Wenn ich so schnell schon auf einen voltaischen Kontakt gestoßen sei, halte ich mich am besten an den.
Dieser Mann aus dem Norden, wie kalt, wie fremd.
Hingegen mache ich eine positive Erfahrung, als ich widerwillig meine Botschaft betrete. Unangemeldet hereingeschneit empfängt mich der Botschafter sofort. Zwar hat Seine Exzellenz das leicht überirdische Flair, das dieses Amt zu verleihen scheint, aber er bietet Hilfe an, sagt, daß ich mit meinem Vorhaben offene Türen einrenne. Herr Z. vom Landfunk fällt ihm ein, der Experte, und dessen fabelhafte Beziehungen zum Informationsministerium.
Herr Z. ist ein vornehmer Herr. Meine Adresse mißfällt ihm, so daß, als er fragt, wieso ich in einem so miesen Hotel logieren könne, ich es sofort verteidige. Außerdem bezöge ich nicht das Gehalt eines Experten. (Das monatliche Gehalt eines Experten, berücksichtigt man alle Vergünstigungen, liegt kaum unter meinem gesamten Reisebudget, also 12000 Mark für sechs Monate.) Obwohl ich so arm bin, will Herr Z. tun, was er kann, allerdings müsse man Pfingsten abwarten.
Um in ein Dorf zu kommen, dort wohnen zu können, ohne auf Mißtrauen zu stoßen, mit Bauern zu reden, bin ich auf fremde Hilfe angewiesen. Bevor ich das Dorf nicht erreicht habe, kann ich nicht nach Benin gehen.
Ich habe eine deutsche Expertin aufgesucht, eine amerikanische, Leute, die immer wieder Dörfer besuchen, für den »Fortschritt der Bauern« arbeiten. Ihre Bedenken waren, es sei Pflanzzeit, und eine offizielle Erlaubnis in jedem Fall geboten.
Wie verabredet, finde ich mich nachmittags am Schwimmbecken des RAN-Hotels ein, wo Gilbert, der Linguistikprofessor, zwischen den Schwimmpausen seine Arbeit erledigt. Selbst er, meint er, doch einer von ihnen, brauche, wolle er mit Bauern reden, das Einverständnis eines Präfekten, Distriktchefs, also eine Autorisation vom Ministerium.
Wieder spricht er von seinem Dorf, in das wir fahren könnten, und ich erzähle ihm von meinem Traum: Eine gemeinsame Reise mit einem Afrikaner zu unternehmen, der diese Reise beschreiben würde aus seiner Sicht wie ich aus meiner. Um vergleichen zu können, wer was wie sieht. Denn ich wolle lernen.
Er sagt, das könne er tun, mehr als eine Skizze liefern allerdings nicht.
Ich sage: Nein, ich will einen journalistischen oder literarischen Bericht.
Er sagt: Du kommst hierher und fragst nach Schriftstellern, das ist, als ginge ich nach Deutschland, um Griots zu finden. Dieses Land hat keine Verwendung für Literatur, ein Land, in dem zig Sprachen gesprochen werden. Ein für Europa veritabler Schriftsteller ist jemand, der französisch schreibt, aber ist das noch ein afrikanischer Schriftsteller? Genauso die Frage nach Philosophen. Du triffst sie in jedem Dorf, denn weder unsere Literatur noch unsere Philosophie wird aufgeschrieben; sie wird gesungen, getanzt, erzählt von den Griots.
In Nigers »Le Sahel« stand der Ausspruch des Griots Kongaté: »Andere Völker bedienen sich des geschriebenen Wortes, um die Vergangenheit festzuhalten, aber diese Erfindung hat bei ihnen das Gedächtnis getötet. Sie spüren die Vergangenheit nicht mehr, weil die Schrift nicht die Wärme der menschlichen Stimme besitzt.«
Gilbert sagt: Europa, dieses kranke Europa mit all seinen menschlichen Katastrophen, war und ist voll von persönlichen und allgemeinen Tragödien, die danach schreien, beschrieben zu werden. Das vereinzelte, vereinsamte Individuum,...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2016 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Afrika • Alltag • Benin • Burkina Faso • Entwicklungspolitik • Forschungsbericht • Kolonialismus • Leninismus • Niger • Obervolta • Postkolonialismus • Reisebericht • Togo |
ISBN-10 | 3-10-560672-6 / 3105606726 |
ISBN-13 | 978-3-10-560672-8 / 9783105606728 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 856 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich