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Geburt von der Stange?

Warum Frauen weltweit außerklinisch gebären und wie man das Geburtshilfesystem verbessern kann
Buch | Hardcover
518 Seiten
2023 | 1. erste deutschsprachige Ausgabe
Magas Verlag
978-3-949537-03-5 (ISBN)
CHF 179,95 inkl. MwSt
Dieses Buch untersucht, warum Frauen sich gegen eine "Geburt von der Stange" entscheiden. Es stellt Verbindungen her zwischen der Entscheidungsfreiheit der Frau über den Geburtsort und der Verletzung von Menschenrechten innerhalb des Geburtshilfesystems. Die Entscheidung, zu Hause zu gebären, kann Frauen aus der regulären Schwangerenbetreuung drängen. Und das, obwohl die Forschung die Sicherheit von Hausgeburten für Frauen bestätigt, die unter geringen Risikofaktoren von Hebammen betreut werden. Wenn eine Frau keine Unterstützung für eine Hausgeburt erhält, wird sie entweder auf eine nicht zugelassene Betreuung ausweichen oder sich für eine Geburt ganz ohne Unterstützung entscheiden. Dieses Buch untersucht, warum Frauen sich dennoch für eine Hausgeburt entscheiden, indem es rechtliche und ethische Aspekte mit den neuesten Forschungsergebnissen verbindet. Es berücksichtigt die Erkenntnisse zu risikoreichen Hausgeburten (Steiß- und Zwillingsgeburten), freien Geburten, Geburten mit nicht zugelassenen Gesundheitsdienstleistern und die Unterdrückung von Hebammen, die unorthodoxe Entscheidungen unterstützen. Illustriert werden diese Forschungsergebnisse durch die Geschichten von Frauen, die sich in Australien, Europa, Russland, Großbritannien, den USA, Südamerika, Kanada, dem Nahen Osten und Indien Alternativen gesucht haben.

Hannah Dahlen ist Professorin für Hebammenwissenschaft und Forschungsleiterin für fortgeschrittene Studiengänge an der School of Nursing and Midwifery an der Western Sydney University in Australien. Hannah ist außerdem freiberufliche Hebamme in einer Gemeinschaftspraxis namens Midwives@Sydney and Beyond. Hannah hat sieben der Autor:innen dieses Buches bei ihren Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten betreut. Im Jahr 2012 wurde sie vom Sydney Morning Herald in die Liste der 100 führenden „Science and Knowledge-Thinkers“ (Denker:innen aus Forschung und Wissenschaft) aufgenommen. Im Jahr 2019 wurde sie für ihre Verdienste um die Ausbildung und Forschung in den Bereichen Hebammenwissenschaft, Krankenpflege und Medizinische Ausbildung und Forschung zum Mitglied der General Division of the Order of Australia ernannt.

Bashi Kumar-Hazard ist in Australien ausgebildete Anwältin für Wettbewerbs- und Verbraucherrechte und Vorstandsmitglied der Organisation Human Rights in Childbirth. Bashi hat in gerichtlichen Ermittlungsverfahren Familien und Krankenhaushebammen vertreten, gegen die von den Aufsichtsbehörden des Gesundheitswesens ermittelt wurde. Auf internationaler Ebene hat sie Amicus-Schriftsätze und UN-Menschenrechtsanträge zu Gewalt in der Geburtshilfe und zu den reproduktiven Rechten von Frauen verfasst. Zur Zeit der Erstveröffentlichung dieses Buches arbeitet sie an einer Doktorarbeit im Bereich Wettbewerbsrecht und Menschenrechte an der University of Sydney, in der sie wettbewerbswidrige Praktiken bei der Gesundheitsversorgung für Schwangere und Gebärende in Australien untersucht.

Virginia Schmied ist Professorin für Hebammenwissenschaft und stellvertretende Dekanin für Forschung und außer-universtitäre Kooperationen an der School of Nursing and Midwifery der Western Sydney University. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Übergang zur Mutterschaft und perinatale psychische Gesundheit. Dabei liegt ihr Fokus auf der Organisation der Gesundheitsversorgung, der Arbeitsplatzkultur sowie auf fördernden und behindernden Faktoren hochwertiger und einfühlsamer Schwangerschafts– und Geburtsbetreuung. In jüngster Zeit haben Virginia und ihre Mitarbeitenden die Erfahrungen von Frauen und Männern mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund in der Region Greater Western Sydney erforscht.

Dieses Buch beschreibt in eindrücklicher Weise die Situation und die Erfahrungen von Frauen in verschiedenen Ländern, die aus Frustration und Verzweiflung die schwierige Wahl getroffen haben, ihr Kind alleine/ohne professionelle Betreuung zur Welt zu bringen, oder trotz erheblicher Risikofaktoren (Zwillinge, Beckenendlage) einen nicht empfohlenen außerklinischen Weg zu gehen. Ein besonderer Blick gilt auch den dabei beteiligten Hebammen und Geburtshelferinnen. Diese Entscheidung wird, auch aufgrund wenig frauzentrierter Strukturen, in einigen Ländern häufiger getroffen, insbesondere im hier prominent vertretenen Australien. Die einschlägigen Wissenschaftler:innen von dort und aus einer Reihe weiterer Länder haben sich tief eingearbeitet in die Problematik, die auch eine von Menschenrechten und Grenzüberschreitungen ist. Für ein deutschsprachiges Publikum eröffnet das Buch deshalb eine Diskussion, die hierzulande bisher nur in Einzelfällen geführt wurde; für die geschilderte Problematik findet sich im Text kein Beispiel aus deutschsprachigen Ländern. Die Rahmensituation hier ist grundsätzlich komfortabler: In Deutschland hat jede Versicherte gemäß § 24f SGB V einen Anspruch auf ambulante oder stationäre Geburt. Diese kann ambulant in einem Krankenhaus, in einer von einer Hebamme geleiteten Einrichtung, in einer ärztlich geleiteten Praxis oder im Rahmen einer Hausgeburt stattfinden. Es gibt somit ein breites Spektrum an Wahlmöglichkeiten ohne primäre gesetzliche Einengung – sofern diese kapazitär verfügbar sind. Das Buch zeigt am Beispiel der außerklinischen Geburten auch den weltweiten Bedarf an humaner, frauzentrierter Geburtshilfe auf, wie ihn der Deutsche Hebammenverband erst unlängst in seinen 12 Thesen auch hierzulande einfordert (www.unsere-hebammen.de). Verwirklicht ist dies auch in Deutschland längst nicht überall – da der Bedarf aber von vielen eingefordert wird, haben sich Zirkel wie der »Runde Tisch Elternwerden« des Arbeitskreises Frauengesundheit (AKF) gebildet. Verbesserungsvorschläge für die Geburtshilfe wie die Erreichung des inzwischen formulierten Nationalen Gesundheitsziels 13 »Gesundheit rund um die Geburt« haben sogar 2021 Eingang in den derzeitigen Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung gefunden. Zum zugehörigen Maßnahmenkatalog gehören Forderungen nach interventionsarmer, frauenzentrierter Geburt und die bessere Zusammenarbeit zwischen den Professionen. Dies erscheint sinnvoll, denn klinische Geburtshilfe in Deutschland ist seit mehr als zwei Generationen eine auch im unkomplizierten Fall ärztlich dominierte Geburtshilfe, die zudem kontinuierlich, und seit 1990 in hohem Ausmaß angestiegene Raten von medizinischen Interventionen aufweist, genau wie im Einführungskapitel von Dahlen als weltweite Entwicklung beschrieben. Zwar sind die Raten der »harten« Outcome-Ergebnisse wie die kindliche und mütterliche Sterblichkeit in den Kliniken enorm niedrig und die geburtshilfliche Praxis kann sich somit rühmen, gute Ergebnisse abzuliefern. Doch ist dies in Verbindung einerseits mit den hohen Interventionsraten zu sehen (Sicherheit hat ihren Preis?) und andererseits mit der unzuverlässigen Statistik zu mütterlichen Todesfällen sowie Sterblichkeit von Neugeborenen nach Verlassen der Geburtsklinik zu diskutieren. Auch die außerklinische Geburtshilfe in Deutschland hat ihren Sicherheitsnachweis erbracht, und führt diesen kontinuierlich fort. Die nun seit mehr als 23 Jahren im Rahmen der Qualitätssicherung außerklinischer Geburten erhobenen bundesweiten Zahlen (www.quag.de) sprechen eine eindeutige Sprache: Außerklinisch zu gebären ist in Deutschland sicher. Natürlich nur für die „unkompliziert zu erwartenden“ Geburten, die von den außerklinisch arbeitenden Hebammen in Betreuung genommen werden – aber es kann doch nachdenklich stimmen, dass das grundsätzliche Kaiserschnitt-Risiko für eine Schwangere, die die Geburt von vornherein in der Klinik plant, seit mehr als 25 Jahren kontinuierlich angestiegen ist auf etwa die doppelte Wahrscheinlichkeit (von 15% auf ca. 30%), während sie in der außerklinischen Betreuung weiterhin ein nur sehr geringes, meist unter 10% liegendes allgemeines, individuelles u. v. a. paritätsabhängiges Risiko für eine Verlegung unter der Geburt mit nachfolgender Schnittentbindung eingeht. Zurück zu den hier vorliegenden Kapiteln mit Erfahrungsberichten aus Amerika, Australien, Großbritannien, aber auch Einblicken in die Verhältnisse in den Niederlanden, Ungarn, Kroatien, Russland, Indien und Jordanien, häufig im Vergleich zu Erfahrungen in Australien oder den USA: Die der Problemanalyse gewidmeten Kapitel 1 – 11 dieses Buchs beschreiben mit vielen Beispielen die Situation vorwiegend in englischsprachigen Ländern, bzw. Ländern, die von der UK/USA Medizin geprägt sind. Besonders interessant gerade für deutsche Leser:innen ist sicherlich das niederländische Kapitel 4, das das besonders hebammenzentrierte Versorgungsmodell mit seinen Begrenzungen durch die immer umfangreichere Indikationsliste für Klinikgeburt in den Blick nimmt, und auch die ökonomische Seite möglicher Systemverbesserung aufgreift. In diesem ersten Teil des Buches wird die Problematik übergriffiger, traumatisierender klinischer Geburtshilfe geschildert, aus der professionellen Sicht von forschenden Hebammen und aus der Perspektive einzelner Gebärender, etliche von ihnen ausgebildete Hebammen. Hier kommen Frauen zu Wort, für die nicht nur die freie Wahl des Geburtsortes extrem eingeschränkt war, sondern die zum Teil unter größten eigenen Anstrengungen dem Routine-Kaiserschnitt und anderen Eingriffen zu entkommen versuchten, die selbst die Wahl haben wollen (und die ist selbst in den Niederlanden bspw. bei Zustand nach Kaiserschnitt von Seiten des Systems eingeschränkt sind, da VBAC zu Hause nicht vorgesehen ist). Zu den positiven Beispielen zählt der Bericht von Lernprozessen in Indien, wo sich an bisher offenbar wenigen Orten eine stärker an den Wünschen der Frauen orientierte Praxis zu etablieren beginnt. Doch solche Hoffnungszeichen sind rar. Kapitel 12 des Buchs thematisiert die juristische Verfolgung von Hebammen als »moderne Hexenjagd« mit Beispielen aus vielen Ländern. Die strafrechtliche Verfolgung von außerklinisch tätigen Hebammen ist vor dem Hintergrund des bestehenden Systems in Deutschland selten. Kapitel 12 widmet sich der traumatischen Geburt – weltweit kein seltenes Phänomen – mit der möglichen Auswirkung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die anschaulichen Erfahrungsdarstellungen machen deutlich, wie gravierend diese Belastungen sein können. Prävention ist hier allerdings in allen Bereichen geburtshilflicher Praxis gefordert – klinisch wie außerklinisch. Die Problemanalyse ist breit, zeigt aber viele Gemeinsamkeiten in den repräsentierten Ländern: Schlechte Erfahrungen mit weiterhin starren, die Vorstellungen der Frauen missachtenden, sie immer wieder sogar traumatisierenden klinischen Geburtsorten; weite Wege und Verbote bzw. Unerreichbarkeit von Hebammen. So werden Frauen (gerade auch in UK durch die NHS-Politik) in dieses Dilemma gedrängt, u.U. außerhalb des Betreuungsangebots zu gebären, sogar (oder gerade) in kompliziert zu erwartenden Situationen. Nach dieser Problemanalyse werden in den Kapiteln 14 – 22 Lösungsansätze dargestellt, ausgehend von der rechtlichen Situation schwangerer Frauen im australischen und US-Amerikanischen System. So wenig vergleichbar die Rechtssysteme sind, so interessant ist dennoch für die deutschsprachige Leser:in insbesondere die Auseinandersetzungen in diesen Ländern über »Birth Rights« von Frauen im Lichte der Menschenrechte zu betrachten. Der Gerichtsbarkeit wird hier ein blinder Fleck attestiert. Die folgenden Kapitel zeigen und fordern frauzentrierte Geburtshilfe, die bspw. Geburtspläne der Frauen respektiert, den Transfer von außerklinischer zu klinischer Geburt mit qualitätssichernden Leitlinien versieht, die in der Lage ist, der Unterschiedlichkeit der Frauen auch dann zu begegnen, wenn sie mit Kulturen wie denen der Aborigines konfrontiert ist, und die insgesamt die Begleitung von Frauen, die andere Wege als die vom jeweiligen Gesundheitssystem angebotenen einschlagen, ermöglicht. Im abschließenden Kapitel werden entsprechend universell anwendbare Maximen guter Geburtshilfe formuliert, aber auch Michael Kleins Dystopie einer Zukunft (fast) ohne vaginale Geburt dargestellt. Der auch feministisch hergeleitete Anspruch, das (Gesundheits-) System stärker auf die Bedürfnisse wie Bedarfe von Frauen auszurichten, trifft sicherlich ebenso auf Deutschland zu. Und dazu gehören auch die impliziten Botschaften der Frauen, die sich für eine »freie» Geburt außerhalb des Systems entscheiden. In Deutschland treffen Gebärende solche Entscheidungen nur sehr selten (bspw. wurden 2020 vier Zwillingsgeburten außerklinisch dokumentiert, siehe www.quag.de). Sie finden ein weniger eng geregeltes System vor, welches einer steigenden Zahl von Frauen erlaubt, bspw. nach einem Kaiserschnitt es bei der nächsten Geburt außerklinisch zu versuchen (978 Frauen 2020 lt. QUAG). Hebammen, die außerklinische Geburtshilfe anbieten, müssen u. U. aufwendig gesucht werden, aber es gibt sie hierzulande (noch), und sie können auch weiterhin ein niedrigschwelliges Angebot für alle Frauen bereithalten; eine wesentliche Forderung in den Erfahrungsberichten, aber auch den Problemanalysen des Buchs. Aus geburtshilflicher Sicht gilt auch: Hebammen sollten nicht gezwungen werden, vermehrt Frauen mit »höheren Risiken«zu betreuen, nur weil das Klinikangebot nicht als menschenwürdig erlebt wird und Schwangere abschreckt. Kliniken haben in etlichen Ländern viel Vertrauen verspielt – sie müssen dies durch die Änderung ihrer finanziellen, personellen und medizintechnischen Strukturen wiedergewinnen, diese Problematik ist uns auch in Deutschland, gerade in Zeiten des Hebammenmangels, wohl vertraut. Das Vorwort zur englischsprachigen Originalausgabe dieses Buchs zitiert am Ende das Bostoner Frauen-Kollektiv, das mit dem Buch: »Unser Körper, unser Leben« 1971 Geschichte schrieb (1. Dt. Ausgabe Rowohlt 1980) – das Buch wurde zu einem der 100 einflussreichsten Bücher des vergangenen Jahrhunderts gewählt und hat zahllose Auflagen und Übersetzungen in viele Sprachen bis in die letzten Jahre hinein erfahren (2021 erschien eine brasilianische Ausgabe). Sein einzigartiger Ansatz ist die Verbreitung von Wissen und eigener Körpererfahrung in Verbindung miteinander. Wissen, das zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung noch den meisten Frauen nicht zugängliches Hegemonialwissen war; Körpererfahrung, die öffentlich nicht ausgesprochen werden durfte, die vielfach tabuisiert war (insbesondere im Bereich Sexualität, aber auch Menstruation und Empfängnisverhütung). »Unser Körper, unser Leben« vermittelte Freiheit, neue Möglichkeiten, in vielem glichen die Erfahrungsberichte auch Verzweiflungsschreien, und ähnelten hierin den im vorliegenden Buch mitgeteilten Erfahrungen. Am Ende stellen die Autor:innen des Buches Fragen, die sicherlich zur Entwicklung von neuen Ideen und frauzentrierter Geburtshilfe beitragen können. Insofern hoffe ich, dass die nun vorliegende deutsche Ausgabe Diskussionen anregt, die auch hierzulande systemverbessernd wirken.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Bonn
Sprache deutsch
Original-Titel Birthing outside the system
Maße 177 x 254 mm
Gewicht 1260 g
Themenwelt Recht / Steuern Allgemeines / Lexika
Schlagworte Feminismus • Geburtshilfe • Hebammenwissenschaft • Menschenrecht • Patientenwürde • Prävention • PTBS • Selbstbestimmung
ISBN-10 3-949537-03-1 / 3949537031
ISBN-13 978-3-949537-03-5 / 9783949537035
Zustand Neuware
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