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Die Landshuter Fürstenhochzeit 1475 -  Stephan M. Bleichner

Die Landshuter Fürstenhochzeit 1475 (eBook)

Immaterielles Kulturerbe und Re-Inszenierung - ein axiologisches Phänomen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
228 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-7067-6 (ISBN)
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Das im Jahre 2003 verabschiedete und 2006 in Kraft getretene UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes erweitert das Kulturverständnis von gebautem Kulturerbe gemäß der Konvention aus dem Jahre 1972 durch gelebtes Kulturerbe. Das Buch zeigt beispielhaft, wie sich Bürger/innen einer Stadt und einer Region mit ihrer historischen Vergangenheit befassen und dass es lohnenswert ist, sich mit ihrem ererbten immateriellen Kulturerbe auseinander zu setzen. Sie bezeugt, dass eine moderne populäre Kultur die Pflege des immateriellen Kulturerbes voranbringt, dass personalisierte und vergesellschaftete Individuen die Sorge um den drohenden Kulturverlust ernst nehmen und diesem aktiv, eigenständig und unpolitisch entgegen treten. Ausgehend von der wertphilosophischen und kulturtheoretischen Annäherung werden im zweiten und dritten Kapitel beispielhaft die Ur-Inszenierung im Jahre 1475 und die Re-Inszenierung im 21. Jahrhundert gegenübergestellt. Die Ergebnisse aus der Untersuchung werden im vierten Kapitel diskutiert. An Hand der Schrift wird versucht, Antworten auf folgende Fragen zu finden: - Hat die Re-Inszenierung der "Landshuter Hochzeit 1475" des 21. Jahrhunderts das Potential eines immateriellen Welt-Kulturerbes? - Kann sie den negativen Begleiterscheinungen des Generationswechsels und der Globalisierung entgegentreten? - Ist sie eine zeitgenössische Transformationsmethode von (Denkmal-)Werten? - Was sind die Schutzkomponenten? - Trägt die Re-Inszenierung zu der kulturellen Identität einer Stadt an authentischem Ort bei und hat sie Einfluss auf die Gestaltung der baulich-räumlichen Umwelt? -

1.5.3. Wertträger


Wertträger im Allgemeinen sind Elemente der Außen- und der Innenwelt des Wertsubjektes.34 Die Außenwelt lässt sich abstrakt in eine natur-räumliche und die sozial-räumliche Komponente gliedern. Die letztere ist wiederum zu separieren in einen Teil, der die Gesellschaft in ihren räumlichen Bindungen und geographisch lokalisierten sozialen Verhältnissen aufgrund ihrer historischen Vergangenheit selbst repräsentiert (hier: durch Re-Inszenierung geschaffene sozial-räumliche Umwelt), und in einen künstlich gegenständlichen, mit baulichen Mitteln geschaffenen Teil (baulich-räumliche Umwelt).

Bei der Re-Inszenierung der „Landshuter Fürstenhochzeit 1475“ sind als erstes die „temporären Wertträger", die axiologisch relevanten, kostümierten personalen Individuen zu nennen, welche, zeitlich auf die Dauer der Aufführung beschränkt, durch ihre Pantomime historische Persönlichkeiten darstellen, eine künstlerische Rolle (als Schauspieler, Musiker, Tänzer) übernehmen oder eine sportlich-artistische Funktion (bei Reiter- und Ritterspielen, Gaukeleien) ausüben. Nach Abschluss der Re-Inszenierung vollzieht sich der Wandel: Sie legen ihre Wertträgerschaft ab, behalten aber ihre Funktion als Wertsubjekt. Die Transformation des Wertträgers erfolgt von der körperlichen Darstellung des personalen Individuums z.B. auf Papier (Zeichnung, Druck und Photographie), in den Film, schließlich in elektronische Visualisierungen. Die „permanenten Wertträger“ bleiben weiterhin existent; diese bestehen auch während der aufführungsfreien Zeiten aus der baulich-räumlichen Umwelt mit ihren auf die Re-Inszenierung beschränkten Projektionsflächen, aus zwischengelagerten Kostümen, Waffen, Gerätschaften, Fahrzeugen und Zubehör, schließlich aus vorliegenden und archivierten Dokumentationen der Ur-Inszenierung und den bereits erfolgten Re-Inszenierungen. Die wertträgerschaftlichen Qualitäten bleiben unberührt. Eine Sonderstellung haben die temporär errichteten Siedlungsbauten auf der sogenannten Ringelstecherwiese und die baulichen Applikationen an den Toren der Stadt inne, welche das Spätmittelalter darstellen und die gegenwärtige baulich-räumliche Umwelt ergänzen sollen.

1.5.4. Gedankenkette Mangel – Bedürfnis – Zweck – Wert – Sinn


Im Zusammenhang mit der Re-Inszenierung von historischen Ereignissen ist die Grundsätzlichkeit der abstrakten Gedankenkette „Mangel – Bedürfnis – Zweck – Wert – Sinn“35 der Diskussion wert. Der Begriff „Bedürfnis“ setzt einen physiologischen oder psychologischen Mangel voraus; dieser Erlebniszustand erzwingt üblicherweise die Befriedigung durch materielle oder ideelle Mittel. Materielle und ideelle Bedürfnisse treten nur in Kombination mit wechselnden Anteilen auf, nicht aber getrennt voneinander. Angeborene (Grund-)Bedürfnisse (nach Stillung des Hungers, des Durstes usw.) und soziale Bedürfnisse (Streben nach sozialer Anerkennung, Integration) sowie kulturell bedingte Bedürfnisse unterscheiden sich zum einen durch die quantitative Sättigung mittels materieller und zum anderen durch die qualitative Befriedigung mittels ideeller Komponenten. Dem Bedürfnis der Gesellschaft nach Identität, nach Orientierung, nach Übersicht und nach Erinnerung an historische Ereignisse trägt eine Re-Inszenierung ganz besonders Rechnung.

Die Funktion der Re-Inszenierung von kulturellen Sachverhalten ist, analytisch betrachtet, in eine überwiegend ideelle und in eine wachsende materielle Komponente zu scheiden. Der Zweck besteht in der Befriedigung ideeller Bedürfnisse der Gesellschaft, von Gruppen oder personalen Individuen durch die ideell-funktionelle Komponente. Differenzierungen ideeller Komponenten können im Einzelnen je nach Fokussierung durch Gesellschaft, Gruppe oder Individuum vorgenommen werden: zum einen z.B. durch die Befriedigung von Bedürfnissen nach Identität, Unikalität, Reproduktion von historischen Situationen, Wissensvermittlung und Kommunikation, zum anderen z.B. nach Anerkennung, Bedeutung, Einfluss, Selbstachtung, Gruppenzugehörigkeit, Wertschätzung und Respekt durch andere, Prestige, Status.

Ideelle Funktionen enthalten einen kulturellen Anspruch: Durch ihn wird die Re-Inszenierung zu einem Identitätsträger. Diese allgemeine Aussage in Bezug auf das Verhältnis von ideeller Funktion und ideeller Bedürfnisbefriedigung ist für die Betrachtung dieser verkörperten, rational und emotional wahrnehmbaren Darstellung von Geschichte nicht unbedingt zutreffend und hat nur eingeschränkte Gültigkeit. Die Begriffspaare "ideelle Funktion – ideelle Bedürfnisbefriedigung", "materielle Funktion – materielle Bedürfnisbefriedigung" können nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Kritisch-analytische Funktionserörterungen lassen eine Scheidung in materielle und ideelle Komponenten zwar grundsätzlich zu, jedoch treten einzelne ohne Wertverluste nie solitär auf. Die Funktion der Re-Inszenierung der „Landshuter Fürstenhochzeit 1475“ ist durch ihre bislang überwiegend ideelle und nunmehr zunehmende materielle Doppelseitigkeit gekennzeichnet. Die ideellen Funktionen haben ihre Entsprechung in ideellen Werten; materielle Werte können hingegen nur aus der Befriedigung von materiellen Bedürfnissen hergeleitet werden.

Die Re-Inszenierung der Landshuter Fürstenhochzeit 1475 wird zum immateriellen Denkmal, wenn die Schwelle, auf der ein elementares Bedürfnis in ein kulturelles umschlägt, dauerhaft überschritten und sowohl dauernd als auch intervallweise neu gesetzt wird. In diesem Zusammenhang können folgende kulturell bedingte ideelle Bedürfnisse benannt werden: das Bedürfnis nach Zeichen des Denkens oder Gedenkens, nach Anschauung und Dokumentation sowie nach Vermittlung von Wissen und dessen Weitergabe. Im Laufe der Zeit verändert sich das dem fortwährenden Wandel unterliegende „gelebte kulturelle Erbe“. Demzufolge ist auch die Befriedigung von ideellen Bedürfnissen einem Wandel unterworfen.

Die axiologische Kategorie „Re-Inszenierung von immateriellem kulturellen Erbe“ bezeichnet sowohl die Methode der Wertträgertransformation als auch das Ergebnis. Der Wert entsteht hier aus einer gedanklichen, in Intervallen durch Vergegenständlichung stattfindenden Schöpfung. Mittels temporärer und permanenter Wertträger befriedigt sie ideelle Bedürfnisse. Um den sich ändernden Ansprüchen der Gesellschaft entsprechen zu können, ist auf den differenzierten Funktionswandel durch Anpassung, durch Erweiterung und durch Um- und Neugestaltung, auch auf der Grundlage der Ergebnisse einer historiologischen Analyse, zu reagieren. Die ehemals funktionellen Absichten oder geplanten Zielstellungen der Initiatoren vergangener Re-Inszenierungen machen die subjektive Beschränktheit bzw. die objektiven Grenzen bei ursprünglichen Konzipierungen offenkundig. Trotz Einsicht in die Notwendigkeit weiterer fortwährender Funktionsanpassung bei zukünftigen Re-Inszenierungen an die gegenwärtigen und zukünftigen kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft, der Gruppen und der Individuen finden erforderliche Veränderungen bislang nur unzulänglich statt. Die Funktionsunfähigkeit von einzelnen Elementen tritt allerdings nie gleichzeitig ein. Durch Versagen der entsprechenden Maßnahmen, z.B. der Vermittlung von Wissen und von Denkmalwerten an die gegenwärtig aktive junge Generation und Weitergabe an die nachfolgende, werden Voraussetzungen für eine reduzierte kulturelle Bedürfnisbefriedigung geschaffen; als Folge entsteht ein Event auf niedrigerer kultureller Ebene mit der Konsequenz, dass Werte verloren gehen, welche durch andere nicht mehr ersetzt werden. Durch eine axiologische Krise im Bewusstsein der Öffentlichkeit wird diese Tendenz zusätzlich gefördert. Provisorien, welche mittelbar überschaubare Zeiträume nicht überdauern können, verhindern den funktionellen Ersatz durch Neuwertschöpfung, verursachen eine Wertverschleierung und können zum Identitätsverlust führen.

Sinnexistenz setzt die Existenz von ideellen (Denkmal-)Werten im Bewusstsein voraus. Die „Landshuter Fürstenhochzeit 1475“ ist als solches ein ideelles Gebilde. Die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung durch Re-Inszenierung liegt darin, dass diese verkörperte Darstellung von historischen Ereignissen in der Lage ist, überwiegend ideelle Funktionen zu erfüllen. Dem drohenden wachsenden Wunsch um Befriedigung materieller Bedürfnisse kann durch bislang noch untergeordnete materielle Funktionen nicht ausreichend entsprochen werden. Die Ursache liegt an der Spezifikation der Trägerschaft von (Denkmal-)Werten im Transformierten im Unterschied zu körperlich-gegenständlich werttragenden Strukturen.36 Immaterielles Kulturerbe ist gleichzeitig der Kontinuität und dem Wandel unterworfen; es unterliegt dem Prozess zwischen Tradition und Innovation. Der Sinn liegt in der fortwährenden Erhaltung des Denkmalwertes durch temporäre körperliche Darstellung des...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2023
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7578-7067-0 / 3757870670
ISBN-13 978-3-7578-7067-6 / 9783757870676
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