Das rationale Tier (eBook)
550 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76977-5 (ISBN)
Kann man nichtmenschlichen Lebewesen Rationalität und Bewusstsein in einem anspruchsvollen Sinn zugestehen? Der international führende Kognitionsbiologe Ludwig Huber zieht in diesem grundlegenden Buch die Bilanz des gegenwärtigen Forschungsstands zum tierischen Denken. Huber will aber nicht nur zeigen, was wir heute über den Geist der Tiere wissen und wie wir es herausgefunden haben, sondern auch, wozu das gut ist. Neben der zweckfreien Befriedigung unserer Neugierde treibt ihn auch ein moralischer Imperativ: »Um sie zu retten, müssen wir uns kümmern, und kümmern können wir uns nur, wenn wir sie verstehen.«
Ludwig Huber ist Professor und Leiter des interdisziplinären Messerli Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. <em>Das rationale Tier </em>war nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022.
Vorwort
Ob Tiere rational sein können und ob sie Bewusstsein haben, zählt zu den spannendsten und umstrittensten Fragen der Biologie und vergleichenden Psychologie [1]. Und obwohl schon Charles Darwin [2; S. 488] prophezeite, dass sich die Psychologie auf ein neues Fundament stützen wird, nämlich das der notwendigen Aneignung jeder geistigen Kraft und Fähigkeit durch Abstufung (und dabei auch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte geworfen wird), haben Biologen und Psychologen lange Zeit das Problem des tierischen Bewusstseins außerhalb der seriösen Forschung verortet, es als etwas abgetan, über das man niemals etwas wissen kann und daher nicht weiter darüber nachdenken, geschweige denn forschen sollte. Selbst jene Wissenschaftler, die zu höheren Formen der Kognition bei Menschenaffen, Delfinen oder Rabenvögeln forschen, die ihnen Nachdenken über ihre physikalische und soziale Umwelt, Zeitgefühl, Werkzeugherstellung, Planhandlung und Perspektivenübernahme zugestehen, verweigern sich der Frage, ob wir Tieren Rationalität, Intentionalität und Bewusstsein zuschreiben können, und wenn ja, welchen Tierarten und in welchem Maß [3-5]. Das hat vorwiegend mit drei Problemen zu tun: Erstens ist noch immer nicht klar, was das Bewusstsein, welches mit den anderen genannten Fähigkeiten zusammenhängt, genau ist. Selbst über das Bewusstsein des Menschen, seinen neuronalen Mechanismus und seine Funktionen gibt es viele divergierende Meinungen. Damit sind wir auch schon beim zweiten, dem sogenannten »harten Problem«: dem subjektiven Erleben. Bewusstsein ist ein vielschichtiges Phänomen, subjektive Erfahrung ist sein rätselhaftester Aspekt. Es ist nicht nur so, dass unsere Gehirne Reize sammeln und mit Bedeutung versehen, sie erzeugen darüber hinaus einen lebendigen Reigen von Erfahrungen und Gefühlen: grün sehen, sich hungrig fühlen oder verblüfft sein über philosophische Fragen. Man selbst zu sein ist ein Gefühl; und niemand anders wird das je so direkt wissen wie man selbst. Drittens wirft die Erkundung des Bewusstseins von Tieren die Frage nach der Sonderrolle des Menschen auf.
Bereits im Jahre 1976 hat der amerikanische Biologe Donald Griffin mit seinem Buch The question of animal awareness [6] ein bis dahin herrschendes Tabu in Bezug auf die Erforschung des Bewusstseins bei Tieren gebrochen [siehe auch 7]. Angesichts rapide wachsenden Wissens ist heute, fünfundvierzig Jahre nach Griffins Buch, die Zeit reif, auch die strittigsten Fragen der Tierkognition, eben Rationalität und Bewusstsein, zu beleuchten. Bücher über tierisches Denken gibt es viele, aber oft sind sie anekdotenhaft und oberflächlich. Teilweise bieten sie hübsche Geschichten, die für den Laien schön illustriert sind, aber – mit einer großen Portion Anthropozentrismus garniert – zu unbegründeten oder nicht überprüfbaren Schlussfolgerungen verleiten. Die wirklich heißen Fragen und die aktuellen, auf solider wissenschaftlicher Erkenntnis beruhenden Ansätze zu ihrer Beantwortung werden dabei nicht behandelt. Sie bringen uns in der Frage des tierischen Denkens kaum weiter.
Im vorliegenden Buch sollen verschiedene Aspekte von Bewusstsein und von Rationalität behandelt werden, jedoch will ich von einem primär funktionalen Ansatz ausgehen. Bereits Griffin war davon überzeugt, dass die Gründe für die Spuren menschenähnlichen Bewusstseins bei Tieren im Evolutionsprozess zu suchen seien: Die These lautet, dass Bewusstsein nicht entstanden wäre, wenn es keine überlebensfördernden Funktionen hätte. Neueste Forschungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass die ursprüngliche Funktion von Bewusstsein die Ermöglichung von willentlichen Bewegungen ist. Mit diesen kann ein Organismus seine Aufmerksamkeit besser ausrichten und sich auf genau das fokussieren, was für seine Fitness und das Überleben wichtig ist. Mit dem Verfügen über Repräsentationen von Objekten und Ereignissen in der Welt, der Fähigkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Repräsentationen herzustellen (awareness), der Fähigkeit, sich auf eine davon auszurichten (intention), und der Fähigkeit zu planen, wie das von der Intention erfasste Ziel zu erreichen ist, würden manche Tiere einige der zentralen Funktionen von menschlichem Bewusstsein besitzen. Dass Menschen darüber hinaus noch weitere Fähigkeiten haben, etwa sich ihrer eigenen bewussten Prozesse gewahr zu werden, sich reflexiv selbst zu repräsentieren und dies detailreich anderen mitzuteilen, steht außer Frage.
Aber sogar die Selbst-Überwachung, in der Fachterminologie »Metakognition« genannt, kommt nicht nur schon bei Kindern vor, sondern auch bei einigen Tierarten. Auch haben manche Tiere die Fähigkeit, über das Wissen anderer nachzudenken, ihre Handlungen zu antizipieren und damit zum Teil deren Perspektive zu übernehmen. Einige Tiere können innovativ und kreativ sein – sie finden spontan Lösungen für völlig neue Probleme, indem sie frühere Erfahrungen rekombinieren oder Artgenossen selektiv kopieren. Manche können Werkzeuge nicht nur effizient einsetzen, sie können die Wirkung durch gezielte Modifikation steigern oder sogar neue Werkzeuge herstellen. Nicht nur beim Werkzeugeinsatz können Tiere vorbereitend handeln, manche können generell zukünftige Ereignisse vorausdenken und entsprechend ihre Handlungen planen, wobei sie ihr aktuelles Bedürfnis zu Gunsten eines zukünftigen Bedürfnisses unterdrücken. Manche Tiere treffen Entscheidungen durch Abwägen von Zielen, durch Auswahl der effizientesten Wege dorthin und unter Berücksichtigung aktueller und zukünftiger Motivationen. Mit diesen Fähigkeiten erfüllen sie (einige, wenn auch nicht alle) Kriterien praktisch-rationalen Handelns.
In diesem Buch sollen die großen und zugleich schwierigsten Fragen der vergleichenden Kognitionsforschung – ich nenne sie das Sextett tierischer Intelligenz – anhand von guten Beispielen präsentiert, in all ihren Facetten diskutiert und abschließend mit der gebotenen Vorsicht beantwortet werden. Ausgehend von der Frage der menschlichen Rationalität, die eingangs historisch beleuchtet und als Rahmenkonzept vorgestellt wird, sollen neueste Forschungsergebnisse behandelt werden, die entweder bevorzugte Interpretationsschemata infrage stellen oder neue einfordern. Besonders wichtig ist dabei, voreilig gefasste, oft von der menschlichen Spezies und von alltagspsychologischen Vorstellungen abgeleitete Kategorisierungen kritisch zu hinterfragen und tierische (Fehl-)Leistungen aus dem Blickwinkel der artspezifischen, natürlichen Erfordernisse zu betrachten. Ich werde mich auch ausführlich mit der Sprache beschäftigen, sowohl mit ihren evolutiven Ursprüngen und diversen Kommunikationsformen als auch mit den komplexesten bisher gefundenen Ausprägungen im Tierreich. Und schließlich werde ich Formen, Ursprünge, Grade und Kriterien von Bewusstsein beleuchten, dessen zugrunde liegende neuronale Prozesse skizzieren und mit der Fähigkeit des Menschen enden, sich seines Bewusstseins bewusst zu sein.
Warum ist es überhaupt wichtig zu wissen, ob Tiere rational, intentional oder bewusst handeln können? Die Antwort lautet: weil es sowohl von theoretischer als auch praktischer Relevanz ist. Theoretisch relevant ist es in doppelter Hinsicht: weil es an sich gut ist, Tiere besser zu verstehen, aber dieses Wissen dann auch für die Einschätzung unserer selbst von großer Bedeutung ist. Damit ergibt sich die praktische Relevanz: Wir sind nicht nur von Tieren umgeben, wir leben mit Tieren, wir leben von Tieren. Dennoch sehen wir uns von ihnen in wichtigen Dingen getrennt. Bewusstsein, Sprache und Rationalität sind wesentliche Charakteristika, mit denen wir unsere menschliche Einzigartigkeit und damit unsere Überlegenheit und letztlich unser Recht begründen, Tiere in vielfältiger Weise zu dominieren und zu nutzen. Wenn ein Tier Schmerzen verspüren kann, fühlen wir uns verpflichtet, zu vermeiden, dass ihm unnötiger Schmerz zugefügt wird. Aber dennoch sprechen wir ihm nicht den besonderen Eigenwert und die Würde zu, die mit Bewusstsein und Rationalität assoziiert wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen für menschliches Handeln und das Zusammenleben von Mensch und Tier.
Schon die Kontrastierung zu dem Tier (im Singular) ist oft ein Zeichen menschlicher Überheblichkeit. Denn natürlich gibt es nicht nur eine, sondern etwa 9 Millionen Tierarten. Im Titel dieses Buchs heißt...
Erscheint lt. Verlag | 13.12.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Biologie ► Zoologie |
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ISBN-10 | 3-518-76977-4 / 3518769774 |
ISBN-13 | 978-3-518-76977-5 / 9783518769775 |
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