Das Geheimnis von Wych Elm House (eBook)
480 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-180-6 (ISBN)
Simone St. James ist die Autorin einer Reihe von sehr erfolgreichen Thrillern. Ihre erste Geschichte über eine unheimliche Bibliothek schrieb sie schon als Teenager. Nachdem sie 20 Jahre in der Filmbranche gearbeitet hatte, widmete Simone sich ganz dem Schreiben. Bereits ihr Debüt The Haunting of Maddy Clare (2012) gewann mehrere Literaturpreise und wurde in diverse Sprachen übersetzt. Die nächsten Romane wurden noch erfolgreicher. Simone liebt Kaffee, Sushi und verregnete Tage. Sie lebt mit ihrem Mann und einer verwöhnten Katze in der Nähe von Toronto, Kanada.
1
ENGLAND, 1921
Als wir Calais verließen, dachte ich, dass ich Dottie Forsyth vielleicht hasste.
Für Außenstehende gab es dafür keinen Grund, denn Dottie hatte mich durch die Anstellung als ihre Gesellschafterin sowohl vor der Armut als auch vor einem farblosen Leben in meiner Mietwohnung bewahrt, dem Leben, das ich ohne Alex zu führen versuchte. Allerdings hätten diese Außenstehenden auch nicht die letzten drei Monate damit verbringen müssen, mit ihr durch Europa zu reisen und ihr dabei zuzusehen, wie sie nach Kunst stöberte und diese so billig wie möglich erwarb, während sie ihre Zigaretten in dem langen schwarzen Halter rauchte.
»Manders«, sagte sie zu mir – ich hieß zwar Jo, aber eine ihrer Liebenswürdigkeiten war die Angewohnheit, mich beim Nachnamen zu nennen, als wäre ich das Hausmädchen – »Mrs. Carter-Hayes möchte meine Fotos sehen. Hol doch bitte mein Fotobuch aus meinem Gepäck, ja? Und frag den Dienstmann, ob sie Sherry servieren.«
Sie sagte es, als wären wir auf einem luxuriösen, transatlantischen Ozeandampfer und nicht auf einem einfachen Schiff, das die nächsten drei Stunden über den Ärmelkanal fuhr. Trotzdem erhob ich mich, um das Gepäck, das Fotobuch und den Dienstmann zu suchen, und mein Magen vollführte mehrere unruhige Saltos, während ich über das Deck ging. Der Kanal war heute nicht ganz ruhig, und das neblige Grau in der Ferne ließ den nahenden Regen erahnen. Die anderen Passagiere an Deck warfen mir nur kurze Blicke zu, als ich an ihnen vorbeiging. Ein Mädchen in einem Wollrock und einer Strickjacke war ein unauffälliger und äußerst englischer Anblick, auch wenn sie einigermaßen hübsch war.
Mithilfe des Dienstmanns, dessen überraschter Blick in Mitleid umschlug, als ich nach dem Sherry fragte, fand ich den Gepäckraum, und dort durchstöberte ich Dotties viele Taschen und Kisten auf der Suche nach dem schmalen Fotobüchlein mit den vergilbten Seiten. Ich glaubte nicht, dass Mrs. Carter-Hayes, die Dottie erst seit 20 Minuten kannte, ein wirkliches Interesse daran hatte, die Fotos zu sehen, aber vielleicht lag es an der Sinnlosigkeit der Mission, dass ich länger als nötig in der Ruhe und Abgeschiedenheit des Gepäckraums verweilte. Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, atmete aus und setzte mich mit dem Rücken zu einem von Dotties Koffern auf den Boden. Wir fuhren zurück nach England.
Ohne Alex hatte ich dort nichts. Ich hatte nirgendwo etwas. Ich hatte meine Wohnung aufgegeben, als ich mit Dottie weggegangen war, und den letzten Rest meines Besitzes mitgenommen. Es war nicht viel. Etwas Kleidung sowie ein paar Päckchen mit geliebten Büchern, ohne die ich nicht leben konnte. Ich hatte bis dahin alle Möbel verkauft und sogar das meiste von Alex’ Kleidung, was mir immer noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bereitete. Ich hatte keine Angst vor Armut; bevor Alex mich in das große Abenteuer unserer Ehe hineingezogen hatte, war Armut alles gewesen, was ich kannte, und sie war mir inzwischen so vertraut wie die alte Strickjacke, die ich trug. Wenn man arm war, gab es keinen Platz für Sentimentalitäten.
Das einzig Unnötige, was ich behalten hatte, war Alex’ Kamera, für die ich ein paar Pfund bekommen hätte, von der ich mich aber nicht trennen konnte. Die Kamera hatte mich auf all meinen Reisen begleitet, auf jedem Schiff und in jedem Zug, obwohl ich die Tasche nicht ein Mal geöffnet hatte. Falls Dottie es bemerkt hatte, kommentiert hatte sie nichts.
Und so lag mein Leben in England nun wie eine absolute Leerstelle vor mir. Wir würden zu Dotties Haus in Sussex fahren, einem Ort, den ich noch nie gesehen hatte. Ich sollte weiterhin auf Dotties Gehaltsliste stehen, obwohl sie nicht mehr auf Reisen war und mir meine weiteren Aufgaben nicht erklärt worden waren. Als sie mir zum ersten Mal geschrieben und knapp erklärt hatte, dass sie Alex’ Tante sei, dass sie gehört habe, dass ich in London sei, und dass sie eine weibliche Begleitung für ihre Reisen auf den Kontinent benötigte, hatte ich mir vorgestellt, das freundliche Kindermädchen einer anspruchslosen alten Dame zu spielen, ihr Tee zu servieren und Dickens und Collins vorzulesen, während sie einnickte. Dottie mit ihrem streng zurückgestriegelten Haar, ihren harten Urteilen und ihrem gierigen Streben nach Geld war ein ziemlicher Schock.
Ich versuchte, mir Schlüsselblumen, Hecken und sanften, kühlen Regen vorzustellen. Keine Hotels mehr, keine rauchgeschwängerten Speisewagen, keine mürrischen Kellner und keine Suche nach dem richtigen Tonicwater oder Magenmittel in fremden Städten. Keine schwülen Tage mehr im Kolosseum oder auf dem Eiffelturm, keine Touristen, die fröhlich ihre Kinder umherführten und Fotos schossen, als hätten wir nie einen Krieg gehabt. Ich würde nicht mehr ständig die Namen von Schlachtfeldern auf den Abfahrtstafeln der Züge sehen und mich fragen, ob auf diesem, jenem oder einem anderen die Leiche von Alex irgendwo unter dem frisch gewachsenen Gras vergessen lag.
Ich würde Mutter besuchen müssen, wenn ich zurück war; es gab kein Entrinnen. Und es gefiel mir nicht, von der Wohltätigkeit einer anderen Frau zu leben, etwas, das ich nie zuvor getan hatte. Aber wenigstens würde ich in Dotties Haus London und all den Orten aus dem Weg gehen können, an denen Alex und ich gewesen waren. Seit er das letzte Mal in den Krieg gezogen war, hatte mir alles in und an London einen Stich versetzt. Ich wollte es nie wieder sehen.
Schließlich gab ich die muffige Stille des Gepäckraums auf und kehrte mit dem Fotoalbum in der Hand an Deck zurück. »Was hat so lange gedauert?«, fragte Dottie, als ich mich ihr näherte. Sie saß auf einem hölzernen Klappstuhl, hatte ihre Cloche gegen den Wind heruntergezogen und die Füße in ihren praktischen Oxfords an den Knöcheln gekreuzt. Sie sah mich stirnrunzelnd an, und obwohl das trübe Licht die harten Kanten ihrer Gesichtszüge abschwächte, ließ ich mich nicht täuschen.
»Hier gibt es keinen Sherry«, antwortete ich und reichte ihr das Album.
Dotties Augen verengten sich zusehends. Ich glaube, sie war häufig davon überzeugt, dass ich sie anlog, obwohl sie nicht genau wusste, wann und warum. »Sherry wäre ausgesprochen angenehm gewesen«, sagte sie.
»Ja«, stimmte ich zu. »Ich weiß.«
Sie wandte sich an ihre Begleiterin, eine Frau um die 40 mit einem breitkrempigen Hut, die auf dem Klappstuhl neben ihr saß und bereits aussah, als wollte sie am liebsten fliehen. »Das ist meine Gesellschafterin.« Ich erkannte an ihrem Tonfall, dass sie ihrem Hohn mir gegenüber Ausdruck verleihen wollte. »Sie ist die Witwe meines lieben Neffen Alex, das arme Ding. Er ist im Krieg gefallen und hat sie ohne Kinder zurückgelassen.«
Mrs. Carter-Hayes schluckte. »Ach, herrje.« Sie sah mich an und schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln; ein Ausdruck, der so echt und freundlich war, dass ich sie fast bemitleidete für die nächsten drei Stunden, die sie in Dotties Gesellschaft würde leiden müssen. Wenn Dottie in dieser Stimmung war, machte sie keine Gefangenen – und sie war immer öfter in dieser Stimmung, je näher wir England kamen.
»Können Sie sich das vorstellen?«, rief Dottie aus. »Es war ein schrecklicher Verlust für unsere Familie. Er war ein wunderbarer junger Mann, unser Alex, wie ich nur allzu gut weiß, da ich ihn mit aufgezogen habe. Er hat einige Jahre seiner Kindheit bei mir in Wych Elm House verbracht.«
Sie richtete den Blick auf mich, und im triumphierenden Schimmer ihrer Augen sah ich, dass sich mein Schock auf meinem Gesicht abzeichnete. Dottie lächelte süßlich. »Hat er dir das nicht erzählt, Manders? Meine Güte, Männer sind so vergesslich. Aber so lange wart ihr dann ja auch nicht zusammen.« Sie wandte sich wieder an die verwirrte Mrs. Carter-Hayes. »Kinder sind die größte Freude im Leben, finden Sie nicht auch?«
Ich wusste, dass es so weitergehen würde, bis wir angedockt hatten: Dottie würde in Andeutungen und Doppeldeutigkeiten sprechen, getarnt als höflichen Small Talk. Ich entfernte mich, stellte mich an die Reling – es gab keinen Klappstuhl für mich – und überließ es dem Rauschen des Windes, die Worte wegzuwehen. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, einen Hut aufzusetzen, und ich spürte, wie sich meine Locken aus ihrem Knoten lösten und mein Gesicht berührten, wie sich mein Haar verhedderte und meine Wangen rissig wurden, während ich auf das Wasser blickte, ohne etwas zu sehen.
Sie war nicht immer in dieser Stimmung, es war nur eine ihrer Launen, wenn auch die bösartigste und unglücklichste. In den vergangenen drei Monaten hatte ich gelernt, mich im Labyrinth von Dotties Höhen und Tiefen zurechtzufinden, eine Aufgabe, die ich mit Leichtigkeit erfüllte, da ich mich selbst gut mit dem Unglücklichsein auskannte. Sie war um die 50, ihr Körper schlank und seltsam muskulös, ihr Gesicht mit seinem graubraunen Rahmen aus sorgfältig zurückgestecktem Haar von Natur aus glatt, mit einem spitzen Kinn. Sie sah Alex überhaupt nicht ähnlich, obwohl sie die Schwester seiner Mutter war. Sie war nicht eitel und griff nie zu Puder oder Lippenstift, was auf ihrer gebräunten Haut und dem schmalen Strich ihres Mundes auch absurd ausgesehen hätte. Sie aß wenig, ging viel spazieren und hielt ihr Haar stets ordentlich und ihre Kleidung auf geheimnisvolle Weise makellos, selbst wenn sie auf Reisen war. Umso besser konnte sie ihre Beute jagen und verschlingen.
Ich blickte zu ihr zurück und stellte fest, dass sie Mrs. Carter-Hayes gerade die Fotos zeigte. Sie bewahrte sechs oder sieben davon in dem schmalen Fotobuch auf, für Gelegenheiten, bei denen sie eine Fremde in die Enge...
Erscheint lt. Verlag | 22.11.2024 |
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Übersetzer | Claudia Rapp |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-180-2 / 3986761802 |
ISBN-13 | 978-3-98676-180-6 / 9783986761806 |
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