Werkschau (eBook)
300 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-3595-2 (ISBN)
Irène Elisabeth Böhm
FRAUEN
WOLLEN IMMER
REDEN
Erzählung
Irène Elisabeth Böhm *1962 in Zürich, 1981 kaufmännische und 1991 landwirtschaftliche Ausbildung mit Abschluss, Arbeit auf beiden Berufen, seit 2006 freie Journalistin für verschiedene Zeitungen.
FRAUEN
WOLLEN IMMER
REDEN
Erzählung
Teil I
Kapitel 1
Die Rhätische Bahn ist pünktlich. Noch ein letzter Blick aus dem Fenster ins Landwasser hinunter, bevor der Zug wieder im Tunnel verschwindet und kurz darauf anhält. Esther freut sich auf zwei Monate Einsamkeit in den Bergen, allein mit zwei Ställen voll Vieh, auf die Ruhe und auf die 40 Bücher, die sie hat schicken lassen.
Sie hat noch nie die Herbstmonate auf einem Maiensäss verbracht. Immer wieder hat sie mit einer Stelle auf einer Alp geliebäugelt, sich aber vor der anstrengenden Arbeit gefürchtet: 16 Arbeitsstunden am Tag sind ihr zu viel. Aber ausfüttern in einem Maiensäss, den Rindern und Kälbern das Heu verfüttern, bis es aufgebraucht ist, das würde ihr gefallen. Diese Tradition wird nicht mehr von vielen Bauern gepflegt, seit sie grosse Traktoren haben.
Doch bei Padrutt Casutt, einem bärtigen Bergler, und seiner Frau Barblina geht dieser Wunsch in Erfüllung: sich in die Einsamkeit zurückziehen, mit sich selbst auseinandersetzen und lernen, sich auszuhalten. Aber auch lesen, Zeit haben und die Tiere betreuen.
Der Zug hält, sie steigt mit ihrem umfangreichen Gepäck aus. Ah, die Berge, die frische Luft. Tief saugt sie diese Luft in ihre Lungen ein, als gälte es, sie zu trinken. Padrutt steht am Bahnhof, winkt ihr zu.
«Gut gereist?», fragt er und nimmt ihr den Koffer ab. Das Essen steht bereits auf dem Tisch, als die beiden das mächtige, im Engadiner Stil erbaute Haus betreten. Die Kinder rennen durch den Korridor.
Barblina und Esther begrüssen sich herzlich, alle setzen sich an den Tisch und lassen es sich schmecken. Danach fahren Padrutt und Esther mit dem kleinen Jeep die acht Kilometer lange Strecke nach Falein. 23 Haarnadelkurven winden sich serpentinenartig den Berg hoch. Barblina hat frische Lebensmittel mitgegeben, ein grosser Vorrat an Teigwaren, Kartoffeln und Süssigkeiten ist bereits oben.
Padrutt zeigt Esther alle Arbeiten und den Ablauf in den beiden Ställen. Er geht mit raschen Berglerschritten voraus in den Many-Stall mit sechs Rindern und zwei Ziegen, dann rüber in den Barandun-Stall mit acht Kälbern, erklärt, dass Esther dem Vieh pro Fütterung drei Mal je einen Armvoll Heu geben soll, dass sie genügend Zeit zum Fressen brauchen und dass sie sie jeweils zu zweit am Brunnen tränken soll.
«Übrigens haben Sonja und Stephan gefragt, ob sie heute Abend das Länderspiel Schweiz – Rumänien bei dir ansehen dürfen.»
«Wer sind Sonja und Stephan?», fragt Esther irritiert.
«Ach so, du kennst sie ja noch gar nicht. Sie füttern für Paul Clobatt in Curtins draussen aus. Wirst sie dann kennenlernen.»
«Die können offenbar nicht ohne Fussball sein», schmunzelt Esther. Na ja, sollen sie halt kommen.
Nachdem Padrutt sich verabschiedet hat, inspiziert Esther die Hütte. Sie ist für alpine Verhältnisse recht nobel, vor allem, wenn sie an ihr Mansardenzimmer in der Stadt denkt, ohne Dusche und die Toilette auf dem Gang. Nein, hier gibt es eine grosse Küche, vier Schlafzimmer im oberen Stock, Solarzellen auf dem Dach, die Strom liefern, einen Heisswasserboiler, der durch den Holzherd geheizt wird, und eine Quelle, die grosszügig sprudelt, sodass sie ohne schlechtes Gewissen ausgiebig duschen kann. Sogar ein Telefon und ein Fernseher finden sich im Stübli neben der Küche. Ein Fernseher! Das ist purer Luxus!
Die Wochen ziehen ins Land. Esther vergisst die Zeit. Die Tage kommen und gehen, es wird Abend und es wird Morgen und ein neuer Tag beginnt. Immer wieder kommt Padrutt mit dem Pferd Stella hoch, um Holz zu schlagen und es an eine Böschung zu rücken, damit er es später, wenn Schnee liegt, ins Tal transportieren kann. Sie erhält Besuch von ihren Freundinnen und Kolleginnen, liest ein Buch nach dem anderen oder unternimmt mit den Ziegen ausgedehnte Wanderungen, da das Wetter anhaltend trocken und sonnig ist.
Manchmal denkt sie an ihren Freund Reto, mit dem sie seit einiger Zeit zusammen ist. Zwei, drei Mal in der Woche telefonieren sie miteinander und an Weihnachten wird er sie besuchen. So ist es abgemacht. Mit Sonja und Stephan hat sich nach dem Fernsehabend kein weiterer Kontakt ergeben.
Von der erhofften Einsamkeit spürt sie wenig, was ihr eigentlich auch ganz recht ist, sodass sie sich nicht allzu sehr mit sich selbst auseinandersetzen muss.
Kurz vor Weihnachten beginnt es ohne Unterlass zu schneien. Bald schon bedeckt der Schnee die Landschaft unter seinem weissen Mantel. Padrutt kommt mit Stella ein letztes Mal hoch, bringt Esswaren und saubere Wäsche für die nächsten 14 Tage, bis sie mit dem Vieh runter gehen wird, isst bei Esther zu Mittag, belädt den Schlitten mit einer Fuhre Holz und fährt damit ins Tal.
Kapitel 2
Am nächsten Tag steht Retos Besuch in den bündnerischen Bergen an. Esther geht am Morgen nach der Stallarbeit zu Fuss hinunter, um ihn am Bahnhof abzuholen. Padrutts Spuren vom Vortag sind bereits zugeschneit. Als sie im Dorf ankommt, schaut sie bei Casutts vorbei, fragt, ob sie mit dem Jeep zum Bahnhof fahren kann und steht pünktlich auf dem Bahnsteig, als der Zug mit Reto einfährt. Eine herzliche Umarmung, ein inniger Kuss: «Na, gut gereist?»
«Und du? Bist schon eine halbe Berglerin geworden?»
«Komm», sagt Esther und zieht Reto an der Hand, «ich bin mit dem Jeep da.»
Barblina hat Osso Bucco gekocht und alle setzen sich an den Tisch.
«Oh, der ist bestimmt vom eigenen Kalb», freut sich Reto.
«Ja, von Blösch.»
Esther hebt die Augenbrauen. Von Blösch!? Blösch, den sie wochenlang gefüttert und gestriegelt hat? Blösch, dieser magere Haken, an dessen Hüftknochen man die Stallbluse hätte hängen können? Blösch, der von der Herde ausgestossen wurde und ein Leben als Sonderling und Einzelgänger geführt hat? Diesen Blösch soll Esther nun essen? Sie hat das Tier nicht sonderlich gemocht, aber dass es jetzt gekocht auf ihrem Teller liegt, erscheint ihr ebenso sonderbar wie das Tier selbst. Widerwillig würgt sie das Fleisch hinunter und hält sich an den Kartoffelstock mit Sauce und an die Karotten.
«So», ergreift Padrutt nach dem Essen das Wort, «der Weg bis zum Kraftwerk-Stollen ist bestimmt geräumt, bis dahin kann ich euch fahren.»
«Von dort bis nach Falein sind es bei diesen Verhältnissen noch zwei Stunden zu Fuss», ergänzt Esther, «so sind wir zur Stallzeit oben.»
Reto schaut sie zweifelnd an, steigt aber gleichwohl in den Jeep. Als die beiden vor dem Stollen aussteigen, schneit es noch immer. Der Schnee liegt bereits knietief.
Schritt für Schritt stapfen sie hoch, sinken im Schnee ein, keuchen stumm hintereinander den Berg hinauf. Esther stampft die Spur, Reto folgt ihr. Die ersten paar Hundert Meter gehen recht gut, doch je länger sie unterwegs sind, desto höher liegt der Schnee und umso anstrengender wird es.
Ich hoffe wir schaffen es, vor der Dunkelheit oben zu sein. Ich geh jedenfalls hoch. Aber Reto? Wieso bleibt er zurück? Er kommt mir kaum nach, vielleicht sollte ich da vorne mal warten? Oder bremst er bewusst, weil er nicht hoch will? So wie er es schon öfters gemacht hat? Keine Ahnung. Sind wir erst mal bei Jonda vorbei und aus dem Wald, wird es auf dem freien Feld noch anstrengender.
Reto keucht heftig, seine Raucherlunge droht zu platzen, immer wieder bleibt er stehen, um Atem zu schöpfen, während Esther vorne wie eine Lokomotive durch den Schnee pflügt.
Bei der nächsten Kurve bleibt sie stehen und wartet, bis Reto sie erreicht hat: «Dieser Punkt heisst Bella-Vista», sagt sie stolz, um zu signalisieren, dass sie sich auskennt. «Von hier hat man eine wunderbare Aussicht, wenn es nicht gerade schneit.»
«Und, was nützt mir das?»
Esther geht weiter. Nicht mal eine Freude kann man ihm machen, habe gehofft, dass ihn das etwas aufmuntern könnte. Wenn er weiter so den Berg hinauf kriecht, sind wir um Mitternacht noch unterwegs. Was soll ich denn tun? Ich kann ihn ja schlecht an einem Seil den Berg hinauf ziehen! Vielleicht wäre es besser, wenn er umkehren würde.
Wie lange geht das denn noch? Hoffe, meine Lunge schafft das. Esther hüpft wie eine Gebirgsziege den Berg hoch, ist ja auch akklimatisiert. Seit sieben Wochen ist sie dort oben, kein Wunder, geht sie vorwärts ohne sich umzudrehen, hoffe, ich kann ihr folgen. Wo hab’ ich bloss die Zigaretten? Nein, jetzt rauchen, das ist keine gute Idee, aber es ist so steil, dieser Schnee nervt mich und diese Tasche! Warum hab’ ich nicht den Rucksack mitgenommen? Wäre bequemer gewesen, nein, das halt’ ich nicht aus, ich muss bald stehen bleiben, etwas ausruhen. Esther hat wenigstens Gamaschen, da dringt der Schnee nicht in die Schuhe ein, das ist wirklich...
Erscheint lt. Verlag | 22.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltag und Gegenwart • Autobiographisches • Jugendbuch • Neue Autorinnen • Spannende Geschichten |
ISBN-10 | 3-7583-3595-7 / 3758335957 |
ISBN-13 | 978-3-7583-3595-2 / 9783758335952 |
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