Kein Krieg in Troja (eBook)
144 Seiten
Andhof (Verlag)
978-3-7364-2874-4 (ISBN)
Jean-Hippolyte Giraudoux war ein außergewöhnlicher Schriftsteller und Dramatiker, dessen Werke die französische Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Geboren am 29. Oktober 1882 in Bellac, einer kleinen Stadt im Département Haute-Vienne, und verstorben am 31. Januar 1944 in Paris, hinterließ Giraudoux ein beeindruckendes literarisches Erbe, das bis heute bewundert wird. Frühe Jahre und Ausbildung Giraudoux wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, doch seine intellektuelle Begabung wurde früh erkannt. Dank eines Stipendiums konnte er das Gymnasium in Châteauroux besuchen und später die renommierte École normale supérieure in Paris, wo er 1905 als Bester seines Jahrgangs im Fach Deutsch abschloss. Diese Ausbildung legte den Grundstein für seine spätere Karriere als Schriftsteller und Diplomat. Diplomatische Karriere und literarische Anfänge Nach seinem Studium verbrachte Giraudoux einige Zeit in Deutschland und den USA, wo er als Französischlektor an der Harvard University tätig war¹. Diese internationalen Erfahrungen prägten seine Weltsicht und flossen in seine literarischen Werke ein. 1910 trat er in den diplomatischen Dienst ein und begann gleichzeitig, Erzählungen und Literaturkritiken zu veröffentlichen. Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Giraudoux zur Armee eingezogen und nahm an mehreren bedeutenden Schlachten teil, darunter die Schlacht an der Marne und die Schlacht von Gallipoli. Diese Erfahrungen hinterließen tiefe Spuren in ihm und beeinflussten seine späteren Werke, in denen er oft die Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges thematisierte. Literarischer Durchbruch und Zwischenkriegszeit Nach dem Krieg kehrte Giraudoux zu seiner diplomatischen Tätigkeit zurück, widmete sich jedoch zunehmend der Literatur. In den 1920er und 1930er Jahren veröffentlichte er eine Reihe von Romanen und Theaterstücken, die ihn zu einem der bedeutendsten französischen Dramatiker seiner Zeit machten². Werke wie 'Siegfried et le Limousin' und 'La Guerre de Troie n'aura pas lieu' (Kein Krieg in Troja) sind heute Klassiker der französischen Literatur. Stil und Themen Giraudoux' Werke zeichnen sich durch ihre stilistische Eleganz und poetische Fantasie aus. Er war ein Meister der Sprache, dessen Dialoge und Beschreibungen voller Witz und Weisheit sind. Seine Themen sind oft zeitlos und universell: die Natur des Krieges, die Zerbrechlichkeit des Friedens, die Macht der Diplomatie und die Unberechenbarkeit des Schicksals. Späte Jahre und Vermächtnis Während des Zweiten Weltkriegs zog sich Giraudoux zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück und widmete sich ganz dem Schreiben. Er starb 1944 in Paris, doch sein literarisches Erbe lebt weiter. Seine Werke werden bis heute gelesen und aufgeführt, und seine Beiträge zur französischen Literatur und zum Theater sind unvergessen. Fazit Jean-Hippolyte Giraudoux war ein Mann von außergewöhnlichem Talent und Weitblick. Seine Fähigkeit, die großen Fragen der Menschheit in poetische und kraftvolle Worte zu fassen, macht ihn zu einem der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Wer seine Werke liest, taucht ein in eine Welt voller Tiefe und Schönheit, die zum Nachdenken anregt und lange im Gedächtnis bleibt.
ERSTER AKT
Terrasse auf einem Festungswall, überragt von einer zweiten Terrasse. Und von anderen Festungswällen beherrscht.
Erste Szene
Andromache, Kassandra
Andromache Der trojanische Krieg wird nicht stattfinden, Kassandra!
Kassandra Wetten wir, Andromache?
Andromache Recht hat er, dieser griechische Abgesandte. Man wird ihn willkommen heißen. Man wird ihm seine kleine Helena schön eingehüllt zurückgeben.
Kassandra Man wird ihm einen großen Empfang bereiten. Ihm Helena nicht zurückgeben. Und der trojanische Krieg wird stattfinden!
Andromache Ja, wenn Hektor nicht wäre ... Doch er naht, Kassandra. Er naht! Hörst du seine Fanfaren? ... Siegreich kehrt er soeben in die Stadt zurück. Ich denke: Der hat noch ein Wort zu sagen! Vor drei Monaten, als er auszog, schwur er mir: »Dieser Krieg ist der letzte!«
Kassandra Er ist der letzte gewesen. Der nächste steht vor der Tür.
Andromache Bist du es nicht müde, immer nur Furchtbares zu schauen, Furchtbares vorauszusehen?
Kassandra Ich sehe nichts, Andromache! Ich sehe auch nichts voraus. Ich ziehe nur die Dummheit in Betracht, die der Menschen und die der Elemente!
Andromache Warum sollte es zum Krieg kommen? Paris macht sich nichts mehr aus Helena. Und Helena macht sich nichts mehr aus Paris.
Kassandra Als ob es um diese beiden ginge!
Andromache Um wen sonst?
Kassandra Paris macht sich nichts mehr aus Helena! Helena sich nichts mehr aus Paris! Hast du je erlebt, daß sich das Schicksal an negative Redensarten kehrt?
Andromache Schicksal? Was ist das eigentlich?
Kassandra Ich will es dir sagen! Das Schicksal ist einfach die Zeit in ihrer beschleunigten Form. Es ist furchtbar!
Andromache Abstraktionen verstehe ich nicht.
Kassandra Wie du willst. So versuchen wir’s mit Metaphern. Stelle dir einen Tiger vor! Das wirst du doch können? Jedes kleine Mädchen wird diese Metapher verstehen! — Einen Tiger, der schläft.
Andromache Laß ihn schlafen.
Kassandra Nichts lieber. Es sind aber die Schlagworte, die ihn aus seinem Schlummer reißen. Von ihnen erdröhnt Troja seit einiger Zeit.
Andromache Wovon, sagst du?
Kassandra Von Phrasen, die behaupten, daß die Führung der Welt den Menschen im allgemeinen und den Trojanern und Trojanerinnen im besonderen zukommt ...
Andromache Ich verstehe dich nicht.
Kassandra Hektor, sagst du, zieht zur Stunde in Troja ein?
Andromache Ja, zur Stunde kehrt Hektor zu seiner Frau zurück.
Kassandra Diese Frau des Hektor erwartet ein Kind?
Andromache Ja. Ich erwarte ein Kind.
Kassandra Nun, sind das alles keine positiven Behauptungen?
Andromache Kassandra, du machst mir angst!
Eine junge Dienerin (geht vorüber, trägt ein Wäschebündel) Welch schöner Tag, Herrin!
Kassandra So? Findest du?
Junge Dienerinabgehend Trojas schönster Frühlingstag ist angebrochen.
Kassandra Darüber äußert sich sogar das Waschhaus positiv!
Andromache Nein, Kassandra! ... Wie kannst du an einem solchen Tag von Krieg reden? Glück senkt sich auf die Welt herab!
Kassandra Ein richtiger Schneefall.
Andromache Und Schönheit! ... Sieh nur die Sonne! Perlmutterglanz, der schimmert über Troja mehr noch als in den Tiefen des Meeres. Jede Fischerhütte, jeder Baum ist zur rauschenden Muschel gewandelt. Wenn sich je den Menschen die Möglichkeit zeigte, in Frieden zu leben ... sich zu bescheiden ... und unsterblich zu sein ... so ist es heute ...
Kassandra Ja. Die Lahmen, die man vor Trojas Tore geschleppt hat, halten sich für unsterblich.
Andromache ... und gütig zu sein ... Sieh den Reiter einer Vorhut, wie er sich vom Pferde beugt ... um das Kätzchen dort auf der Burgzinne zu streicheln ... Vielleicht ist dies heute auch der erste Tag des Friedens zwischen dem Menschen und den Tieren.
Kassandra Du sprichst zu viel. Das Schicksal ist voll Unrast, Andromache.
Andromache Ach, die ist nur in den Mädchen, die ohne Gatten sind. Ich glaube dir nicht.
Kassandra Schade ... Ah, Hektor, mit Ruhm bedeckt, kehrt zur angebeteten Gattin heim ... Er blickt auf ... Ah! Da sitzen die Mummelgreise, die sich unsterblich wähnen ... auf ihren kleinen Bänken ... Hektor reckt und streckt sich ... Ja! Heute besteht eine Aussicht, daß der Friede sich der Welt bemächtigt ... Schon gelüstet es ihn ... Und Andromache wird einen Sohn gebären! Und die Kürassiere beugen sich von ihren Pferden herab, um die Kater zu streicheln, die auf den Wällen schweifen ... Da rückt es heran, das Schicksal.
Andromache Schweig!
Kassandra Lautlos schleicht es die Stufen des Palastes hinauf. Stößt mit den Nüstern die Türen auf! ... Das ist es ... Es ist da! ...
Hektors Stimme Andromache!
Andromache Du lügst! ... Es ist Hektor!
Kassandra Wer hat dir etwas anderes gesagt?
Zweite Szene
Andromache, Kassandra, Hektor
Andromache Hektor!
Hektor Andromache! ... (Sie umarmen sich.) Auch dich grüße ich, Kassandra! ... Willst du mir Paris herholen?
So rasch wie möglich. (Kassandra zögert.) Du hast mir etwas zu sagen?
Andromache Höre nicht auf sie ... Gewiß wieder eine Katastrophe!
Hektor Sprich!
Kassandra Deine Frau erwartet ein Kind. (Sie geht ab.)
Dritte Szene
Andromache, Hektor
(Er hat sie in seine Arme genommen. Führt sie zart bis zur Steinbank. Setzt sich zu ihr. Kurzes Schweigen.)
Hektor Wird es ein Sohn sein? Eine Tochter?
Andromache Was hast du dir dabei gedacht?
Hektor Tausend Söhne ... tausend Töchter!
Andromache Warum? Hast du denn geglaubt, tausend Frauen zu umarmen? ... Du wirst enttäuscht sein. Es wird ein Sohn, ein einziger Sohn.
HektorZehn gegen eins, daß es ein Sohn ist ... Nach jedem Krieg kommen mehr Knaben als Mädchen auf die Welt.
Andromache Und vor einem Krieg?
Hektor Nichts mehr von Kriegen! Nichts mehr von Krieg! ... Eben ist er vorbei! Er hat dir den Vater, den Bruder genommen. Aber den Gatten zurückgebracht.
Andromache Zu gütig von ihm, wenn er sich nicht noch eines anderen besinnt.
Hektor Beruhige dich. Wir werden ihm das Handwerk legen. Gleich von dir weg will ich auf den Stadtplatz, die Pforte des Krieges schließen. Sie wird sich nie mehr öffnen.
Andromache Schließe sie nur. Aber sie wird sich öffnen.
Hektor Du kannst uns sogar den Tag nennen!
Andromache Wenn die Ähren schwer und golden stehen, die Reben unter ihrer Last sich beugen und alle Häuser Liebespaare bergen!
Hektor Und der Friede in Hochblüte steht?
Andromache Ja. Und mein Sohn ein großer, von Kraft strotzender Junge sein wird. (Hektor küßt sie.)
HektorDein Sohn kann ein Feigling werden. Das wäre eine Garantie.
Andromache Er wird nicht feige sein! Aber ich werde ihm den Zeigefinger der rechten Hand abschneiden.
Hektor Wenn alle Mütter ihren Söhnen den rechten Zeigefinger abschneiden, dann werden die Armeen in der ganzen Welt ohne Zeigefinger Krieg führen ... Wenn sie ihren Söhnen das rechte Bein amputieren — nun, so werden die Armeen einbeinig sein ... Und wenn sie ihnen die Augen ausstechen, dann werden die Armeen aus Blinden bestehen. Aber Armeen wird es geben, und im Handgemenge werden sie einander mit tastenden Fingern an die Kehle fahren ...
Andromache Lieber bringe ich ihn um.
Hektor Das ist die richtige mütterliche Lösung des Problems: Krieg!
Andromache Lache nicht! Ich kann ihn auch umbringen, ehe er auf die Welt kommt!
Hektor Was? Du willst ihn nicht einmal eine Minute lang betrachten, eine Minute nur? Später ... kannst du’s dir überlegen ... Aber sehen mußt du ihn doch? Sehen! Deinen Sohn!
Andromache Nur weil es dein Sohn ist, liebe ich ihn. Und weil er von dir ist, weil er du ist — zittere ich! Du ahnst nicht, wie ähnlich er dir sieht. In dem Nichts, das ihn noch birgt, besitzt er schon alles, was du in unser Zusammensein legtest. Er ist zärtlich, wie du es bist. Schweigsam wie du. Wenn du den Krieg liebst, wird er ihn lieben ... Liebst du den Krieg?
Hektor Was soll diese Frage?
Andromache Gesteh ... es gibt Tage, da du ihn liebst.
Hektor Wenn man lieben kann, was uns von Hoffnung, Glück, von den teuersten Menschen trennt ...
Andromache Du sagst es ... Man liebt ihn doch!
Hektor Wenn man sich davon verführen läßt, daß die Götter einen im Augenblick des Kampfes ein wenig ihre Rolle spielen lassen ...
Andromache Ah! Du...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
ISBN-10 | 3-7364-2874-X / 373642874X |
ISBN-13 | 978-3-7364-2874-4 / 9783736428744 |
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