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MERKUR 9/2024, Jg.78 (eBook)

Nr. 904, Heft 09, September 2024
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12309-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

MERKUR 9/2024, Jg.78 -
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Durchaus unterschiedlich empfinden und beurteilen Navid Kermani und Natan Sznaider die Lage der Dinge nach dem 7. Oktober. Eines jedoch ist ihnen als Freunden gelungen: im Gespräch zu bleiben. Im zweiten Teil seiner ideengeschichtlichen Recherche zu Algerien als Matrix für die Haltungen zum Nahostkonflikt beschäftigt sich Danilo Scholz unter anderem mit Fayez Sayegh und einem Sonderheft der Zeitschrift Les Temps Modernes. Über das Kulturgutschutzgesetz schreiben Charlotte Klonk und Patrick Bahners - am konkreten, umstrittenen Fall von Caspar David Friedrichs 'Karlsruher Skizzenbuch'.   Das Bundesbildungsministerium ist kein Schlüsselressort. Was diese Tatsache mit dem dauerverunglückten Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu tun hat, erklärt Florian Meinel in seiner Rechtskolumne. Literaturwissenschaft als Kunsthandwerk: Die Formel hat Implikationen, die Tim Lanzendörfer darlegt.   Labour hat die Wahlen in Großbritannien mit großer Mehrheit gewonnen - James Butler analysiert das Ergebnis und fragt, was Keir Starmer mit der Macht anfangen kann. Die Schriftstellerin Daniela Dröscher denkt über Autofiktion als (ihr eigenes) Schreibverfahren nach. Der Leib und seine Wunde, die Wälder und die ihren: Jens Soentgen sieht hier einen Zusammenhang von Leib- und Naturphilosophie. In Sibylle Severus' Erzählung Im geschlossenen System stürzt ein alter Mann auf der Straße. Und in Susanne Neuffers Schlusskolumne geht es ums Singen im Chor.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-9-5

Navid Kermani, Natan Sznaider

»Überlegen, was hilft«


Gespräch über die Lage nach dem 7. Oktober

Kristin Helberg: Ich möchte beginnen mit etwas Persönlichem. Natan Sznaider, wie ist es Ihnen ergangen in diesen Monaten seit dem 7. Oktober? Nicht nur unmittelbar nach dem 7. Oktober als Jude, als Israeli, sondern auch nach sieben Monaten Krieg in Gaza? Was hat sich verändert für Sie im Laufe dieser Monate?1

Natan Sznaider: Die Frage, die Sie gestellt haben, wie es mir geht nach dem 7. Oktober, ist eigentlich unbeantwortbar. Sie ist auch unbeantwortbar auf Deutsch. Obwohl ich, wie Sie hören, auch auf Deutsch schreibe und auf Deutsch spreche. Das Innere aber ist nicht auf Deutsch, das Innere ist auf Hebräisch. Das heißt, ich spreche Deutsch und ich denke Hebräisch. Ich schreibe Deutsch und denke Hebräisch. Deshalb kann ich diese Frage nicht wirklich befriedigend beantworten.

Absurderweise kamen die ersten Nachrichten über den Live Feed der Hamas, die ihren Opfern die Telefone abgenommen hatte und dann allen Kontakten im Live Feed übermittelt hat, wie sie Menschen massakrieren und vergewaltigen. Das heißt, ihre Eltern haben das mitbekommen, Freunde und Freundinnen haben das mitbekommen. Meine Tochter hat so was auch gesehen und hat natürlich ganz schnell das Telefon ausgemacht, als sie verstanden hat, was sie da sieht.

Wir haben bis zum Mittag des 7. Oktober alle nicht so ganz verstanden, was eigentlich passiert ist, die ganze Zeit versucht, über soziale Netzwerke und Nachrichten irgendwie die Informationen zusammenzubauen, wie so ein Puzzle. Wir glaubten, das kann ja nicht sein, das ist unmöglich. Dass der westliche Negev erobert worden ist, dass die Armee nicht da war, um einzugreifen, dass diese Menschen hilflos aufs Grausamste massakriert werden. Wir haben das gar nicht einordnen können. Das war ein Ereignis, von dem man nicht wusste, wie man das integriert in das eigene Leben. Das ist bis zum heutigen Tag sehr präsent in Israel, sehr präsent. Ich habe das mal so beschrieben, dass wir am 6. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und am 7. Oktober schlafen gingen und am 7. Oktober aufwachten, und eigentlich bis jetzt immer noch nicht am 8. Oktober angekommen sind.

Am Tag darauf war Navid der Erste aus dem Ausland, der angerufen hat und gefragt hat, wie es geht. Und da war natürlich klar, dass dabei eine Affinität von Vätern besteht.

Kristin Helberg: In dem Artikel in der Süddeutschen schrieben Sie: »Am 7. Oktober sahen wir beide die Welt mit den Augen eines Vaters in Tel Aviv.« Was genau meinten Sie damit?

Natan Sznaider: Ich bin Vater einer Tochter, und Navid ist Vater von Töchtern. Wenn man mit so einem Ereignis konfrontiert wird, bei dem die jungen Mädchen und Frauen die ersten Opfer sind, dann empfindet man als Väter. Und das hält bis heute an. Die Familien der Geiseln haben vorgestern aus Verzweiflung einen weiteren Film veröffentlicht, in dem man junge Mädchen sieht, wie sie von der Hamas misshandelt werden. Das sind klare Zeichen von Hilfslosigkeit, Verzweiflung, Bösartigkeit, mit denen man konfrontiert wird. Die rufen auch Emotionen hervor, auf die man nicht stolz ist. Das gehört dazu.

Nun wird viel von Trauma gesprochen. Doch was man verstehen muss, ist, dass wir immer noch im Trauma sind, nicht im Posttraumatischen. Dieses Trauma drückt sich bei mir so aus, dass ich nur eine gewisse Zeit außerhalb von Israel sein kann, dann werde ich wie von einem Magnet zurückgeholt. Ich sitze zwar hier in Hamburg an der Alster, aber mit dem Telefon bin ich natürlich in Israel. Ich stehe morgens auf, und sofort sehe ich die Nachrichten, was dort geschieht. Es ist so, dass ich gar nicht weg kann und gar nicht weg will. Ich befinde mich in einem geschlossenen Universum. Seit dem 7. Oktober bis jetzt, Ende Mai. Es fühlt sich an wie eine Zeit, die festgefroren ist.

Kristin Helberg: Herr Kermani, Sie haben es so beschrieben, als erkennten Sie aus der Ferne den Schrecken. Wie erlebten Sie diese vergangenen Monate seit dem 7. Oktober? Und wie ist es Ihrer Freundschaft ergangen?

Navid Kermani: Unmittelbar nach dem 7. Oktober war das ganz klar und eindeutig. Da war vor dem Nachdenken einfach das Gefühl einer Umarmung. Man kann in so einer Situation nicht viel sagen. Es zählt das Gemeinsame, dass wir beide Väter von ungefähr gleichaltrigen Töchtern sind. Es hätte sein können, dass Natans Tochter bei diesem Rave dabei gewesen wäre, und Freundinnen von ihr waren es. Wenn man selbst eine Tochter hat, die auch da hätte sein können, dann geht das Geschehen einem anders nahe, als wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert.

Es ist im Übrigen nicht so, dass die Welt am 7. Oktober eine andere geworden ist. Unsere Welt ist eine andere geworden. Ich war im Januar im Sudan, um über den Krieg dort zu berichten. Es ist dies der blutigste Krieg unserer Zeit, dazu die schlimmste Hungerkatastrophe weltweit, die sich im Augenblick anbahnt. Acht Millionen Sudanesen waren im vergangenen Jahr auf der Flucht. Das ist, wenn ich jetzt richtig rechne, ein Fünftel oder Sechstel der Bevölkerung. Für diese Sudanesen hat der 7. Oktober überhaupt nichts geändert. Sie wurden vorher ignoriert und sie werden jetzt ignoriert. Nur um das klarzustellen, dass wir hier auf dem Podium und sonst nur über unsere Welt sprechen, die wir als die Welt ausgeben.

Denn ja: Dadurch, dass meine Tochter auf dem Rave hätte sein können, oder Natans Tochter, entsteht etwas Menschliches, dass man anders fühlt, als ich gefühlt habe, bevor ich im Sudan war im Januar. Das ist ja das Beklagenswerte, dass wir erst Mitgefühl empfinden, wenn wir uns selbst in den Opfern wiedererkennen können. Das geht mir nicht anders als den meisten.

Kristin Helberg: Sie waren später erschrocken über die Empathielosigkeit der Israelis für die Zivilbevölkerung in Gaza, als dieser Krieg seinen Lauf nahm, als absehbar war, wie viele zivile Tote dieser Krieg fordern würde. Die Unfähigkeit zur Empathie, ist das vielleicht ein grundsätzliches Problem? Auch in unseren Debatten, in unserer Berichterstattung über diesen Konflikt? Oder gehört es zu jedem Krieg dazu, dass man die andere Seite entmenschlicht? Wie es hier auf beiden Seiten passiert.

Navid Kermani: Das ist ein grundlegender Mechanismus von Kriegen. Es ist der grundlegende Mechanismus von Hass. Und das ist etwas, was nicht erst seit dem 7. Oktober vorhanden war. Ich war das erste Mal 2002 in Israel, und dann war ich das zweite Mal 2005 dort. Schon damals war es für mich absolut erschreckend, was sich auf beiden Seiten allein in diesen drei Jahren für ein Hass gebildet hatte. Der 7. Oktober und auch die Reaktion auf den 7. Oktober haben eine Vorgeschichte in dem, was sich seit längerem an Entmenschlichungen der jeweils anderen Seite aufgebaut hat. Es ist die grundlegende Aufgabe von Leuten wie uns, sich diesem Mechanismus zu widersetzen. Und das haben wir auch versucht in dem gemeinsamen Artikel Ende Februar.2 Dieser Artikel beschreibt eigentlich genau das: wie wir beide aus diesem Mechanismus aussteigen, der uns in zwei Lager gesteckt hatte.

Denn in den Wochen und Monaten davor hatten wir uns, glaube ich, durchaus entfremdet, Natan und ich. Weil ich merkte, dieses gemeinsame Gefühl unmittelbar nach dem 7. Oktober und dieser Einklang, der verschwand von Telefonat zu Telefonat. Und sie wurden seltener, unsere Gespräche, weil ich eine grundlegende Veränderung spürte. Ich überlegte, schicke ich Natan jetzt noch diesen Link über die Lage der Menschen in Gaza, oder nicht? Ich weiß, er ist genervt. Er will das gar nicht hören. Irgendwann fiel es mir schwer, anzurufen.

Ich war früher in Gaza, ich war in der Westbank. Ich habe viele arabische Freunde, ich habe auch palästinensische Freunde. Für mich wurde es von Tag zu Tag schwerer, mit einem Menschen zu sprechen, der das alles nicht wissen will. Aber irgendwann konnten wir doch wieder telefonieren. Wir kamen uns nicht näher, wenn wir über die Gründe sprachen, also wenn wir versuchten zu erklären, wer hat mehr Schuld oder wer hat angefangen. Sondern ich merkte, dass wenn wir beide darüber nachdenken, was jetzt unmittelbar passieren muss, dass wir uns...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2024
Reihe/Serie MERKUR
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik
ISBN-10 3-608-12309-1 / 3608123091
ISBN-13 978-3-608-12309-8 / 9783608123098
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