Die Formel des Widerstands (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31321-5 (ISBN)
Astrid Viciano ist seit mehr als 20 Jahren Wissenschaftsjournalistin. Als Redakteurin war sie u.a. für stern, Die Zeit und Süddeutsche Zeitung tätig. Ihre Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Holtzbrinck-Preis für Wirtschaftspublizistik. Sie lebte mehrere Jahre in Sceaux, jenem Vorort von Paris, in dem auch Marie Curie mit ihrer Familie wohnte.
Astrid Viciano ist seit mehr als 20 Jahren Wissenschaftsjournalistin. Als Redakteurin war sie u.a. für stern, Die Zeit und Süddeutsche Zeitung tätig. Ihre Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Holtzbrinck-Preis für Wirtschaftspublizistik. Sie lebte mehrere Jahre in Sceaux, jenem Vorort von Paris, in dem auch Marie Curie mit ihrer Familie wohnte.
Kapitel 2 1933: Der Beginn einer schicksalhaften Freundschaft
Mit niemandem soll Wolfgang Gentner über die neuen Experimente der beiden französischen Kollegen sprechen. Nur ihn ziehen Irène und Frédéric Joliot-Curie im Januar 1934 ins Vertrauen, er soll nichts verraten über die Versuche, kein Wort darüber soll zunächst aus dem Labor sickern. Noch fürchten die Joliot-Curies, dass ihre Testergebnisse sich als Irrtum entpuppen könnten, sie womöglich mit ihren Schlussfolgerungen falschliegen. Erst als die Forscher sicher sind, dass ihre Entdeckung tatsächlich so bahnbrechend ist, wie sie vermuten, weihen sie andere Mitarbeiter ein: Erstmals haben sie am Institut du Radium in Paris ein radioaktives Element neu erschaffen. Für ihre Forschung zu künstlicher Radioaktivität werden die Joliot-Curies ein Jahr später den Nobelpreis für Chemie erhalten. Und Gentners Stillschweigen markiert den Beginn einer Freundschaft, die bald eine bitterlich harte Prüfung durchleben wird. Wenn die Nationalsozialisten das Labor am Collège de France sieben Jahre später besetzen, kurz nachdem Joliot-Curie das schwere Wasser nach England verschifft hat.
Mit einem Stipendium in der Tasche hatte sich Wolfgang Gentner im Jahr 1933 erstmals auf den Weg nach Paris gemacht, um bei der Nobelpreisträgerin Marie Curie am Institut du Radium zu forschen. Zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung war der 25-Jährige mit Frau und Sohn aufgebrochen, damals, kurz bevor sich alles in Deutschland veränderte.
Er verließ Frankfurt, bevor die Nationalsozialisten im März 1933 ihre Hakenkreuzflaggen an den Hausfassaden der Altstadt hissten, er erlebte im Mai nicht mehr mit, wie Studenten und Dozenten in Uniform, begleitet von dem Marsch einer SS-Kapelle, fast 11000 Bücher am Römerberg verbrannten.
Er konnte nicht ahnen, damals, dass ihn ausgerechnet die Arbeit im Labor der berühmten Forscherin einmal dazu bringen würde, unter den Augen der Nationalsozialisten seine Karriere und seine persönliche Sicherheit zu riskieren.
Gentner galt als neues Talent in der Physik, ein großer, schlaksiger Mann mit hoher Stirn und hellen Augen. Sein Doktorvater Friedrich Dessauer von der Universität Frankfurt hatte ihn Marie Curie empfohlen, jener Wissenschaftlerin, die im Jahr 1903 als erste Frau überhaupt einen Nobelpreis gewonnen hatte. In ihrem Labor sollte Gentner arbeiten, mit ihrer Tochter Irène Joliot-Curie und deren Ehemann Frédéric. Früh machte Marie Curie vor, was es hieß, Forschende aus aller Welt in einem Labor zusammenzubringen, ihr Labor wurde zu einem Anziehungspunkt für Wissenschaftler aus vielerlei Ländern, auch für den jungen Deutschen.
Er habe einen »ausgezeichneten Charakter«, schrieb Dessauer über seinen Doktoranden, bezeichnete ihn als bescheiden und hilfsbereit, zuverlässig und anständig: »Sämtliche Mitarbeiter an meinem Institut bis zu den Hilfskräften haben ihn aufrichtig gern.«
Gentner wird Dessauer ein Leben lang verbunden bleiben, wie so vielen Menschen im Laufe seines Lebens. Später wird er große Feste an seinen Forschungsinstituten feiern, mit Spielen und Wettbewerben, an denen er selbst gerne teilnimmt. Schon als junger Physiker knüpft er schnell Kontakte, hat ein gutes Gespür für Menschen, auch seine neuen Kollegen Irène und Frédéric Joliot-Curie vertrauen Gentner bald. Anhänger des NS-Regimes dagegen werden ihm nachsagen, dass er undurchsichtig sei, vielleicht sogar hinterhältig.
Davon ahnen die drei Physiker nichts, damals, Frédéric und Irène Joliot-Curie führen zunächst unter dem Stillschweigen Gentners noch ein paar chemische Testreihen durch, dann sind sie sich sicher: In ihrem Versuch ist eine neue radioaktive Substanz entstanden, strahlender Phosphor.
Marie Curie hatte dem deutschen Physiker empfohlen, mit Frédéric Joliot-Curie zusammenzuarbeiten. Ihr Schwiegersohn forscht als oberster Assistent am Institut und interessiert sich gleich für die Expertise des deutschen Kollegen. Gentner kennt sich nämlich besonders gut mit einem neuen Gerät aus, das radioaktive Strahlung messen kann.
Das Phänomen der Radioaktivität hatte Marie Curie selbst vor Jahren entdeckt, hatte nachgewiesen, dass Atome keineswegs starre Strukturen sind, wie man bis dahin annahm. Manche der chemischen Elemente, so beobachtete Curie, sind derart instabil, dass sie irgendwann zerfallen. Dabei setzen sie Energie in Form von Strahlen frei, die Radioaktivität.
Ob eine solche Strahlung vorhanden und wie stark sie ist, misst Gentner mit dem Geiger-Müller-Zählrohr. So heißt das neue Gerät, benannt nach dem Erfinder Hans Geiger und seinem Doktoranden Walther Müller. Diese Apparatur haben Marie Curie und ihre Mitarbeiter bislang nicht verwendet. Die Forscherin ist skeptisch, will sich zunächst nicht darauf einlassen.
Doch Gentner insistiert, erklärt, überzeugt Madame Curie schließlich davon, den Geiger-Müller-Zähler einzusetzen, zusätzlich zu ihren gewohnten Messmethoden. Es soll nicht lange dauern, bis sein Gerät Frédéric und Irène Joliot-Curie jene Entdeckung der künstlichen Radioaktivität beschert, die beide weltberühmt machen wird.
Gentner richtet sich sogleich eine Werkstatt außerhalb des Institutsgebäudes ein, um Geiger-Müller-Zähler zu bauen. Dafür nimmt er ein Metallrohr, in dessen Mitte er einen Metalldraht spannt. Zwischen Draht und Rohr legt Gentner eine Spannung an, das Rohr füllt er mit einem Edelgas. Sobald nun radioaktive Strahlen in das Zählrohr gelangen, schlagen sie Elektronen aus den Atomkernen des Edelgases heraus. Diese freien Elektronen misst dann der Geiger-Müller-Zähler über eine Art Verstärker als elektrischen Strom. Sobald elektrischer Strom fließt, beginnt das Gerät zu klicken. Je stärker die radioaktive Strahlung, desto mehr Elektronen werden freigesetzt. Und umso schneller sind die einzelnen Klicks nacheinander zu hören.
Im oberen Stockwerk des Radium-Instituts kann Gentner seine Geräte erproben, einen Bereich, den viele Kollegen nicht betreten dürfen, selbst Marie Curie nicht. Sie arbeitet mit radioaktiven Substanzen, vor allem mit Radium. Das könnte Gentners Versuchsergebnisse verfälschen. Frédéric Joliot-Curie dagegen kommt oft vorbei, auch weil er im Labor des Deutschen ungestört rauchen kann. In den übrigen Versuchsräumen des Instituts ist das verboten.
Oft ruft Joliot-Curie den deutschen Kollegen herbei, wenn er eine Frage zu den Messungen hat. Läuft etwas nicht, prüft Gentner, woran es liegen kann. Wie auch an jenem Tag im Januar 1934, als es mit dem Geiger-Müller-Zähler zu hapern scheint. Gemeinsam mit Irène hat Frédéric Joliot-Curie eine neue Versuchsreihe begonnen: Sie beschießen eine Aluminiumfolie mit Alphastrahlung, einer Strahlung, die aus radioaktivem Material entsteht.
Doch irgendetwas stimmt nicht, so glaubt Joliot-Curie zunächst. Die Probe strahlt nach Ende des Experiments nämlich noch weiter, das Klicken des Geiger-Müller-Zählers ist noch ein paar Minuten lang deutlich zu hören. »Der Zähler ist nicht in Ordnung«, sagt der französische Kollege. Er vermutet zunächst, dass der Apparat eine Art Gedächtnis hat. Und bittet Gentner, das Gerät zu überprüfen.
Gentner sieht also nach, ob der Geiger-Müller-Zähler richtig funktioniert. Und kann keinen Fehler finden. Joliot-Curie stutzt, ihm dämmert bald, woran es liegen könnte. An diesem Abend aber ist er mit seiner Frau zum Abendessen eingeladen, ausgerechnet, er muss das Labor früh verlassen. Bevor er geht, fragt er Gentner, ob er das Messgerät nochmals prüfen könne. »Ich habe Zeit, ich kann noch ein bisschen bleiben«, versichert ihm Gentner und testet nochmals, ob der Geiger-Müller-Zähler die radioaktive Strahlung richtig misst. Alles läuft einwandfrei. Bevor er das Labor verlässt, legt er seinem Kollegen eine Notiz auf den Schreibtisch.
Mit ihren Experimenten will das Ehepaar Joliot-Curie eigentlich nur eine Versuchsreihe fortsetzen, die andere Wissenschaftler begonnen haben. Im Jahr 1930 haben deutsche Physiker beobachtet, dass bei der Bestrahlung des Leichtmetalls Beryllium mit radioaktiven Teilchen eine neue, sehr durchdringende Strahlungsart auftritt. Zwei Jahre später fanden Irène und Frédéric heraus, dass mithilfe dieser neuen Strahlung Wasserstoffkerne aus bestimmten Substanzen regelrecht herausgeschossen werden können.
Worum aber handelte es sich? Dem englischen Physiker James Chadwick gelang es, die Ergebnisse der französischen Kollegen zu deuten: Die neue Strahlung müsse aus bislang unbekannten, neutralen Teilchen bestehen, erklärte er, den Neutronen. Chadwick wird für besagten Paukenschlag später den Nobelpreis für Physik erhalten.
Irène und Frédéric dagegen waren nicht schnell genug. Daher wollen sie möglichst rasch nach neuen Neutronenstrahlen suchen, beschießen dafür Anfang 1934 nicht mehr Beryllium, sondern Aluminium mit radioaktiven Teilchen. Und erhalten jene Messergebnisse, die sie stutzen lassen.
Sie rufen in den Folgetagen Frédérics alten Studienfreund Pierre Biquard an, ebenfalls Physiker. Der hastet sogleich ins Institut und findet dort eine Vielzahl von Apparaturen auf den Labortischen vor, die offensichtlich in aller Eile aufgestellt worden sind. Gerade wiederholen die Joliot-Curies ihr Experiment mit dem Geiger-Müller-Zähler, als sich die Tür des Labors öffnet: Marie Curie und ihr alter Freund Paul Langevin, Mentor von Frédéric Joliot-Curie aus Studienzeiten, haben sich ebenfalls ins Institut begeben, um bei dem Versuch dabei zu sein. Sie sprechen nur wenig, rasch wird allen klar, dass ihr Experiment eine neue Ära der Wissenschaft einläuten wird. Nun können Forschende nicht mehr nur zusehen, wie natürlich vorkommende...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Atombombe • Deutsche Besatzung • Hitler • Manhattan-Projekt • Marie Curie • Nazi-Deutschland • NS-Diktatur • oppenheimer • Radioaktivität • resistance • Wehrmacht • Widerstand • Wissenschaftsgeschichte • Wolfgang Gentner |
ISBN-10 | 3-462-31321-5 / 3462313215 |
ISBN-13 | 978-3-462-31321-5 / 9783462313215 |
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