Tango Vicioso (eBook)
400 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-5023-8 (ISBN)
Dirk Meißner wurde 1962 in Dessau geboren und ist dort zur Schule gegangen. Er studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1989-1991 arbeitete er als Redakteur bei der Tageszeitung "Der Morgen". Nach einer Laufbahn als Direktor einer Unternehmerbank wechselte er 2012 als Vertriebsleiter in ein Unternehmen der Erneuerbaren Energien. Mit seiner erfolgreichen Familientrilogie Lebensborn Pommern (2020), Nachkriegswelpen (2020) und Grenzregime (2021) macht der Autor Geschichte erlebbar und fühlbar. Sein neuer Roman Tango Vicioso (2024) verlässt das historische Genre und wagt sich an den sinnlichen Zauber zwischen Tango und Liebe.
DAS ZWEITE KAPITEL
DER BROMBEERMUND
Ich wusste gleich, dass etwas passiert war. Eine Schwester auf dem Flur wies auf die angelehnte Tür. Die rüstige Monique war auf ihre letzte Reise gegangen. Ich bat darum, alles unberührt zu lassen und Herbert mit dem Rollstuhl zu holen. Natürlich ahnte ich, dass ihm das den Rest geben könnte. Aber er hatte einen Anspruch darauf, sich in aller Stille von Monique zu verabschieden.
Ich erwartete ihn und zündete ein Licht an, das Monique immer ins Fenster gestellt, wenn sich jemand aus dem Seniorenschlösschen verabschiedet hatte. Der Tod hielt hier des Öfteren Rast, ganz unspektakulär, und er war den alten Leutchen kein Schrecken. Jeder musste mit seinem plötzlichen Besuch rechnen.
Auch der »Herbert im Glück«, wie ich ihn gelegentlich nannte, den nun die Türzarge wie ein Bild umrahmte, blieb einen Moment auf der Stelle und bewegte sich nicht. Er blinzelte in die Kerze, die ich auf den Tisch gestellt hatte und ich sah das Licht auf seinem uralten, Schmerz zulassenden Gesicht. Er zitterte und wollte schreien. Aber es gelang ihm nicht, weil er gelähmt war. Ich trat zu ihm und half ihm beim Aufstehen. So konnte er ein paar Schritte mit meiner Hilfe gehen. Ich umfasste seine Schulter. Er brauchte jetzt Halt und ich wollte seiner Gestalt Würde für diesen Abschied verleihen. Wir traten näher und er vertiefte sich in den Anblick der Verblichenen, die ihm einmal wie eine Göttin erschienen war. Er berührte ihren Mund mit der Hand. Dabei musste ich ihm helfen.
Auf dem Bett lag Moniques Tagebuch aufgeschlagen. Es sah so aus, als ob sie vor dem Einschlafen noch darin geblättert hatte.
Ich sah mir dieses abgegriffene und in die Jahre gekommene Buch genauer an und stieß beim Durchblättern auf Szenen ihrer Liebe, wie sie Herbert kennen- und lieben gelernt hatte, auch warum sie ihn einst übergangsweise verließ.
Herbert hielt das Tagebuch, das ich ihm in die Hände drückte, fest wie eine Reliquie. Er legte es in den nächsten Tagen niemals beiseite. Es begleitete und tröstete ihn, auch wenn er nicht mehr darin lesen konnte. Wie ein Blinder tastete er über die beschriebenen Seiten. So verbrachte er viele Stunden im Beisein der Freunde am Tangotisch oder für sich allein. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn vom Loslassen überzeugte. Dabei kam mir einer seiner Schlüsselsätze, die ich mir gemerkt hatte, zu Hilfe.
»Herbert«, sagte ich zu ihm, »Lieben ist Loslassenkönnen.«
Er sah mich an, vielleicht dämmerte ihm eine Erinnerung an unsere, schon lange zurückliegenden Gespräche über die Liebe.
Ich glaube, dass ich mir wünsche, er hätte so etwas gesagt wie, »Du hast es dir gemerkt«, als er das Tagebuch freigab und mir damit die Verantwortung weiterreichte. Unsere damaligen Lehrgespräche, so möchte ich unseren offenen Dialog nennen, begründeten meinen Entschluss, Moniques Tagebuch im Kreis der Tangofreunde vorzulesen. Denn es war ein Teil der den Tag ihres Hinscheidens überdauernden, kleinen Unsterblichkeit. Herbert nickte wenigstens, und das ist nun keine Einbildung, als ich meinen Entschluss formulierte und sagte: »Wir lassen das gemeinsam aufleben, wir wärmen uns daran und erbauen uns an Mos Überlieferungen. Gleich heute Nachmittag wollen wir damit beginnen.«
Als ich das Tagebuch nahm, fiel ein geschlossener Umschlag heraus, den ich aufhob und Herbert zeigte.
Ein Datum, das lange zurückreichte, stand darauf.
Herbert registrierte es nicht. Er war für den Moment geistig abwesend. Er entspannte sich. Ich hatte ihm mit dem Loslassen seiner Reliquie eine Tür zum Träumen und Fühlen geöffnet. Er lächelte und summte, als wäre ihm ein Lied eingefallen.
Das Kuvert war versiegelt. Es hätte ein Testament oder ein anderes wichtiges Dokument sein können. Natürlich hätte ich den Brief und das Tagebuch bei der Leitung des Seniorenstifts abgeben müssen. Daran bestand kein Zweifel. Aber was ging Moniques intimes Tagebuch die Heimleitung an? Der geschlossene Brief war für mich ein Bestandteil davon. Herbert hatte mich, davon war ich überzeugt, gerade zum Sachwalter dieser Schriftstücke gemacht. Nach allem, was ich von Herbert und über seine Liebe zu Mo wusste, war das nicht nur beschriebenes Papier für die Archive. Es handelte sich auch nicht um den Gegenstand einer letzten Staub-zu-Staub-Haushaltauflösung. In diesem Punkt war ich mir mit den Freunden am Tisch einig. Wir erkannten darin Symbole der Liebe, die Brücken aus der Vergangenheit schlugen. Wie bedeutend oder unbedeutend diese kleine Unsterblichkeit ist, darüber muss man nicht streiten. Vielleicht kann sie das Sterben für die einen und das Trauern für die anderen etwas leichter machen und stiftet über das Leben hinaus den gleichen, bescheidenen Sinn wie das Anzünden einer Kerze. Ich zögerte noch, das Siegel zu brechen. Der ungeöffnete Brief verschwand zwischen den Seiten ihres Tagebuchs, aus dem er herausgefallen war.
Der Alte rappelte sich auch diesmal zum Weiterleben auf. Da waren ja noch Danae und Marie, die ihn verzärtelten und unterhielten.
Unsichtbar nahm nun auch die kleine, fürs Erste unsterbliche Mo neben der schon etwas erinnerungsblasseren Julia Platz.
In den nächsten Tagen trafen wir uns zu gleicher Nachmittagszeit am Tangotisch. Bevor ich aus Mos Tagebuch las, servierte ich mit Sorgfalt den grünen Tee, den Monique zu dieser Tageszeit immer getrunken hatte. Dazu stellte ich ihren Lieblingshonig auf den Tisch. Sie hatte oft über Lindenblüten und Lindenbäume gesprochen. Wir waren froh, dass sie uns mit ihrem Tee auf eine so persönliche Weise gegenwärtig wurde. Marie nahm die geöffnete Tüte und sog den zarten Duft der Teeblätter ein. Nie habe ich jemanden so zärtlich eine Tüte mit Tee schließen sehen.
Danae übersetzte für Marie in Gebärden, als ich aus Moniques Tagebuch las.
Ich sah ihn an, da er mich meinte. Kein Zweifel, er wollte gern mit mir tanzen. Es war jene Unruhe zwischen zwei Tandas entstanden, da alle gleichzeitig die Tanzfläche verlassen, um sich paarweise neu zu finden und zusammenzustellen. Alle stehen sich dabei im Weg und suchen und kokettieren. Keiner möchte die besondere Gelegenheit und den richtigen Anschluss verpassen. Wer schon lange jemand im Auge hatte, muss sich beeilen. Hektisch und zu gewollt darf es nicht wirken. Fiebrig huschen die Blicke und kreuzen sich überall. Man muss geschickt im Wegsehen sein, um Missverständnisse zu vermeiden.
Wir standen also plötzlich voreinander. Oder saß ich auf einem Stuhl? Das weiß ich nicht mehr genau, obwohl es für die Analyse der Blickbeziehung wichtig wäre. Denn später behauptete er fest, er sei über »meine neugierigen Kastanienaugen gestolpert.«
Kastanien? Wahrscheinlich meinte er den Oktober und draußen war ihm frisch eine auf den Kopf gefallen.
»Gestolpert?«, fragte ich und fügte hinzu: »Stolpern finde ich sehr interessant.«
»Ich sah den Zauber der Möglichkeiten.«
Das sagte er ein paar Tage später.
Tage? Ja, denn die Ereignisse überschlugen sich. Vorsichtig formuliert, und um das Tempo herauszunehmen, er war reif für eine solche Begegnung. Ich war ihr jedenfalls nicht verschlossen, sagen wir mal, weil ich grundsätzlich neugierig auf die Energie anderer Menschen bin.
Er fand nicht nur den richtigen Takt, als wir tanzten, er zauberte mit mir. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Das musste ich ihm zeigen. So drückte ich zwischen den Tänzen fest seine Hand. Es sollte eigentlich nur ein »weiter so« oder ein »danke« bedeuten.
Für ihn war das in diesem Moment schwieriger. Denn er hatte nur noch zwei Tänze vor der Cortina, die unsere Verbindung abrupt abreißen konnte. Er musste sich etwas einfallen lassen.
»Du hast einen sehr schönen Mund und ein wunderbares Lächeln.«
Das war mutig für eine allererste Tanzverbindung. Er stolperte nicht über sein Kompliment und brachte es witzig herüber. Es plätscherte dahin und er lachte, als wüsste er genau, er würde sich etwas Ungehöriges erlauben, wenn er`s bedeutsam gesagt hätte. So habe ich es geschluckt und es landete in meinem Herzen.
»Ich möchte die nächste Tanda auch wieder mit dir tanzen. Magst du?«
Ich hätte sagen könne: »Später gern wieder.«
Dann wäre ich ihn los gewesen. Aber ich wollte ihn nicht loswerden, weil sich der Tango mit ihm anders als das anfühlte, was ich bisher kannte. Ich musste mir auch erst einen Reim daraus machen und wollte es selbst noch weiter probieren.
Ich registrierte, dass er großen Spaß am Drehen hatte und mit großen Schritten durch den Saal tobte. Er hatte das Zeug, mich zu begeistern, tauchte mit Lust in die Musik, als ob sie uns von selbst zum Tanzen brächte. Seine Feierlaune steckte mich an: kein bisschen melancholisch,...
Erscheint lt. Verlag | 30.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7583-5023-9 / 3758350239 |
ISBN-13 | 978-3-7583-5023-8 / 9783758350238 |
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