The Deep - Spuk auf der Titanic (eBook)
560 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-115-8 (ISBN)
Die vielfach ausgezeichneten Werke der US-amerikanischen Autorin Alma Katsu wurden in fast 20 Sprachen übersetzt. Stephen King lobte ihren Roman The Hunger: »Sehr, sehr verstörend und kaum aus der Hand zu legen.« Nachdem sie 29 Jahre für die US-Bundesregierung arbeitete, ist Alma Katsu heute für die RAND Corporation zur Beratung der amerikanischen Streitkräfte tätig. Sie lebt heute in den Bergen von West Virginia, zusammen mit ihrem Mann, dem Musiker Bruce Katsu, und den beiden Hunden Nick und Ash.
1
Oktober 1916
Morninggate Asylum
Liverpool
Sie ist nicht verrückt.
Annie Hebbley sticht mit der Nadel in den groben Leinenstoff, der von einem weichen Grau ist wie die Federn der Tauben, die sich in den Schornsteinen der Kamine verfangen und flattern und krächzen und manchmal so wild um sich schlagen, dass sie bei ihrem vergeblichen Fluchtversuch verenden.
Sie ist nicht verrückt.
Annies Blick folgt der Nadel, die sich am Saum entlangbewegt, in den Stoff hinein und wieder heraus. Rein und raus. Rein und raus. Spitz und glänzend und so präzise.
Aber da ist etwas in ihr, das für Wahnsinn empfänglich ist.
Annie kennt inzwischen die launenhaften Gewohnheiten der Geisteskranken – die Schreianfälle, das zusammenhanglose Gebrabbel, das ungestüme Zappeln der Hände und Füße. Darin liegt, nach all den Tagen und Wochen und Jahren, ein gewisser tröstlicher Rhythmus. Aber nein, sie ist keine von ihnen. Dessen ist sie sich sicher.
So sicher wie der Herrgott und die Heilige Jungfrau, hätte ihr Vati früher vielleicht gesagt.
Einige Patientinnen sitzen über ihre Näharbeit gebeugt und erfüllen den Raum trotz des armseligen Kaminfeuers mit einer stickigen Wärme. Die Arbeit, so glaubt man, lindert Nervenleiden, und so werden den Insassen Aufgaben zugewiesen, besonders denen, die eher wegen ihrer eigenen Armut und nicht so sehr wegen einer Erkrankung des Verstandes oder des Körpers hier sind. Zwar werden die meisten Bedürftigen in Armenhäusern untergebracht, doch Annie hat herausgefunden, dass nicht wenige von ihnen stattdessen in die Irrenhäuser gebracht werden, wenn es dort leere Betten für sie gibt. Ganz zu schweigen von den sündigen Frauen.
Doch egal aus welchen Gründen sie hier im Morninggate untergebracht wurden, die meisten Frauen sind sanftmütig und beugen sich den Anweisungen der Schwestern. Doch es gibt auch ein paar, vor denen sich Annie wirklich fürchtet.
Sie macht sich klein, während sie arbeitet, um die anderen Frauen ja nicht zu berühren. So ganz kann sie den Verdacht nicht abschütteln, dass sich Wahnsinn wie eine Krankheit von einer Person zur nächsten überträgt und wie ein feiner Pilz in einer Milchflasche gärt, die zu lange in der Sonne steht – unsichtbar zuerst, doch schon bald zerstörerisch und verderbend, bis die ganze Milch sauer ist.
Annie hockt auf einem harten kleinen Schemel im Nähzimmer, ihre morgendliche Arbeit in ihrem Schoß angehäuft, doch es ist der Brief in ihrer Tasche, der sich immer wieder an ihren Gedanken reibt, ohne dass sie es will, wie ein glühendes Stück Holzkohle, das sich durch den Stoff ihres Kleids brennt. Annie erkannte die Handschrift, noch bevor sie den Namen auf dem Briefumschlag sah. Sie hat ihn bestimmt schon ein Dutzend Mal gelesen. Unter dem Mantel der Nacht, wenn niemand zusieht, küsst sie ihn wie ein Kruzifix.
Als hätte die Sünde in Annies Gedanken sie angezogen, taucht eine der Schwestern an ihrer Schulter auf. Annie fragt sich, wie lange die Schwester dort schon steht und sie betrachtet. Diese ist neu. Sie kennt Annie noch nicht – wenigstens noch nicht richtig. Sie überlassen Annie den Nachzüglern in der Belegschaft, die noch nicht gelernt haben, sich vor ihr zu fürchten.
»Annie, meine Liebe, Dr. Davenport würde dich gern sprechen. Ich werde dich zu seinem Büro begleiten.«
Annie erhebt sich von ihrem Schemel. Keine der anderen Frauen blickt von ihrer Näharbeit auf. Die Schwestern wenden den Patienten im Morninggate niemals den Rücken zu, und so schlurft Annie voran den Flur hinunter, die Gegenwart der Schwester wie ein heißer Schürhaken hinter ihr. Wenn Annie doch nur einen Augenblick lang allein wäre; dann würde sie den Brief loswerden, ihn hinter den Vorhängen verstecken oder unter den Teppichläufer schieben. Sie darf nicht zulassen, dass der Doktor ihn findet. Allein der Gedanke daran lässt ihren Körper vor Scham erschaudern.
Aber hier im Morninggate ist sie nie allein.
In dem staubigen Spiegelbild der Flurfenster sehen sie wie zwei Gespenster aus – Annie in ihrer blassen, taubengrauen Uniform, die Schwester in ihrem cremefarbenen Gewand aus einem langen Rock, einer Schürze und einer Haube. Sie kommen an einer langen Reihe aus geschlossenen Türen und verriegelten Räumen vorbei, in denen die Kranken murmeln und wehklagen.
Weswegen schreien sie? Was quält sie so sehr? Bei einigen war es der Gin. Andere wurden von ihren Ehemännern, Vätern und sogar Brüdern hergebracht, weil es ihnen nicht gefiel, wie ihre Frauen dachten und dass sie sich nicht den Mund verbieten ließen. Doch Annie meidet es, sich die Geschichten der wirklich Wahnsinnigen anzuhören. Ohne Zweifel sind sie voller Tragik, und Annie hat in ihrem Leben genug Schwermut erfahren.
Das Gebäude selbst ist groß und weitläufig. Es wurde aus einem alten Lagerhaus der East India Company, die in den 1840ern den Betrieb einstellte, in mehreren Etappen errichtet. Im Innenhof, wo die Frauen am Morgen ihre Leibesübungen verrichten, sind die Wände mit Schweiß und Speichel durchsetzt und mit dreckigen Handabdrücken und vertrockneten Blutflecken beschmiert. Zum Glück brennen die Gaslaternen nur schwach, aus Kostengründen, was dem Schmutz einen angenehm warmen Farbton verleiht.
Sie laufen an dem Flügel der Männer vorüber. Manchmal kann Annie ihre Stimmen durch die Wand hören, doch heute schweigen sie. Die Männer und Frauen sind voneinander getrennt, weil einige der Frauen an einer sonderbaren Nervenkrankheit leiden, die ihr Blut zum Kochen bringt. Diese Frauen können den Anblick eines Mannes nicht ertragen und brechen in Zuckungen aus, versuchen, ihm die Kleider vom Körper zu reißen, kauen ihre eigenen Zungen ab und sacken von Krämpfen geschüttelt in sich zusammen.
Jedenfalls wird das behauptet. Annie hat es selbst noch nie gesehen. Man erzählt sich gern Geschichten über die Patienten, besonders die weiblichen.
Doch hier ist Annie sicher vor der großen weiten Welt. Der Welt der Männer. Und das ist alles, was zählt. Die kleinen, beengten Räume sind nicht so anders als die vier winzigen Zimmer in der alten Hütte in Ballintoy, die brausende Irische See keine 20 Schritte vor ihrer Haustür. Auch hier im Innenhof ist die Luft vom Duft des Meeres erfüllt, doch selbst wenn es ganz in der Nähe ist, kann Annie es nicht sehen. Seit vier Jahren hat sie es nicht gesehen.
Das ist zur selben Zeit ein Trost und ein Fluch. An manchen Tagen erwacht sie aus Albträumen, in denen schwarzes Wasser in ihren offenen Mund strömt und ihre Lunge zu Stein gefrieren lässt. Der Ozean ist tief und unerbittlich. Familien in Ballintoy haben Väter und Brüder und Schwestern und Töchter an das Meer verloren, solange sie zurückdenken kann. Sie hat Hunderte Leichen im Wasser des Atlantiks wimmeln gesehen. Mehr Leichen, als auf dem Friedhof von Ballintoy beerdigt sind.
Und doch erwacht sie an anderen Tagen mit Putz unter ihren Fingernägeln, weil sie verzweifelt an den Wänden gekratzt hat, um herauszukommen, um zu ihm zurückzukehren. Das Blut rauscht mit den Bewegungen des Meeres durch ihre Adern. Sie lechzt danach.
Auf der anderen Seite des Innenhofs betreten sie eine kleine Eingangshalle, die zu den Privaträumen des Doktors führt. Die Schwester weist Annie an beiseitezutreten, bevor sie anklopft und dann, als sie zum Eintreten aufgefordert werden, die Tür zu Dr. Davenports Büro aufschließt. Er erhebt sich von seinem Schreibtisch und deutet auf einen Stuhl.
Nigel Davenport ist ein junger Mann. Annie mag ihn und hat schon immer das Gefühl gehabt, dass ihm das Wohlergehen seiner Patienten am Herzen liegt. Sie hat die Schwestern davon sprechen gehört, wie schwer es die Gemeinde hat, Ärzte zu finden, die der Anstalt treu bleiben. Ihre Arbeit ist entmutigend, wenn so wenige der Patienten auf ihre Behandlung ansprechen. Außerdem ist es viel einträglicher, als Hausarzt zu arbeiten, Knochen zu richten und Babys zu entbinden. Jedes Mal wenn er sie sieht, denkt er an den Vorfall mit der Taube. Das tun sie alle. Wie man sie fand, einen toten Vogel in ihrem Arm haltend und zu ihm murmelnd wie zu einem Baby.
Sie weiß, dass es kein Baby war. Es war nur ein Vogel. Das Tier war aus dem Kaminschacht gerutscht und in einer Wolke aus losen Federn auf den Herd geknallt. Ein dreckiger, rußbedeckter Vogel, und doch auf seine eigene Art wunderschön. Sie wollte ihn nur halten. Sie wollte etwas Eigenes zum Halten haben.
Er faltet die Hände und legt sie auf den Schreibtisch. Sie starrt seine langen Finger an, wie sie sich ineinander verschränken. Sie fragt sich, ob er starke Hände hat. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich diese Frage stellt. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern noch einen Brief bekommen hast.«
Ihr Herz pocht in ihrer Brust.
»Es ist gegen unsere Richtlinien, uns zu sehr in die Privatangelegenheiten unserer Patienten einzumischen, Annie. Wir lesen die Briefe der Patienten nicht, so wie es in anderen Einrichtungen gemacht wird. So sind wir hier nicht.« Sein Lächeln ist freundlich, doch zwischen seinen Augenbrauen zeichnet sich ein leichtes Runzeln ab, und Annie verspürt den seltsamen Drang, mit ihrem Finger auf diese Stelle zu drücken, um sein weiches Fleisch zu glätten. Natürlich würde sie das niemals tun. Absichtliche Berührungen sind nicht erlaubt. »Hier gestehen wir es den Patienten zu, uns ihre Korrespondenz aus freien Stücken zu zeigen. Aber du verstehst schon, dass uns diese Briefe Anlass zur Sorge bereiten, habe ich recht?«
Seine Stimme ist sanft und...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Übersetzer | Heiner Eden |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-115-2 / 3986761152 |
ISBN-13 | 978-3-98676-115-8 / 9783986761158 |
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