Schicksalsjahre. Die Frauen vom Neumarkt (eBook)
576 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3168-3 (ISBN)
Julie Heiland wurde 1991 geboren. Sie hat Journalistik studiert und eine Rhetorik- und Schauspielausbildung gemacht. Sie lebt in der Nähe von München.
Julie Heiland wurde 1991 geboren. Sie hat Journalistik studiert und eine Rhetorik- und Schauspielausbildung gemacht. Sie lebt in der Nähe von München.
Prolog
1939
Lotte
»Wenn du mich so ansiehst, kann ich mich nicht konzentrieren«, sagte Leo.
Sie spitzte verschmitzt die Lippen. Genau das hatte sie beabsichtigt. Dabei war es für sie, die erst vor ein paar Tagen siebzehn geworden war, noch eine neue, schwindelerregende Erfahrung, einem Mann derart hemmungslos und ohne jede Verlegenheit in die Augen zu sehen. »Ich liege hier jetzt auch lange genug herum und versuche, mich so wenig wie möglich zu bewegen.«
Sie lag auf den makellos weißen, frisch geplätteten Laken von Leos Himmelbett, eine Hand über den Kopf gelegt, und trug nichts bis auf ein roséfarbenes Unterteil und feine Strümpfe. Es überraschte sie, wie mutig sie war, so freizügig hatte sie sich ihm noch nie gezeigt, aber bei ihm fühlte sie sich nicht nackt.
Leo hatte sie gefragt, ob er sie zeichnen dürfe. »Ich habe Angst, dass ich dich bald nicht mehr sehen oder auch nur ein Wort mit dir wechseln darf.« Sein Blick war über ihr Gesicht gewandert, als würde er sich jedes kleine Detail einprägen wollen: die vollen Lippen, ihre Alabasterhaut und die hellblauen Augen, die im Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar mit den rötlichen Strähnen darin standen.»Wenn das der Fall ist, werde ich Dresden verlassen, und dann möchte ich wenigstens ein Bild von dir bei mir haben. Eines, durch dessen Anblick mir in kalten Nächten warm ums Herz wird.«
Für gewöhnlich lag ein schiefes Lächeln auf seinen Lippen, das sie jedes Mal ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Doch nun war er so ernst, dass Gänsehaut ihre Unterarme überzog.
»Glaubst du wirklich, dass es so weit kommt?«
»Ja, das tue ich. Die Liste der Verbote ist inzwischen ziemlich lang. Wir Juden dürfen nicht mehr in allen Berufen arbeiten, dürfen nicht mehr ins Theater, ins Kino oder Museum gehen oder dürfen uns nur auf gekennzeichnete Parkbänke setzen, die meist vermüllt sind.« Er nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen zärtlich über ihre Knöchel. »Und es ist uns verboten, einen Menschen zu heiraten, der nicht jüdisch ist, egal wie sehr wir diesen Menschen lieben. Von Tag zu Tag kommen mehr Verbote hinzu, die allein den Zweck verfolgen, uns immer weiter aus der Gesellschaft auszuschließen.«
Leo saß auf einem Stuhl neben dem Bett und konzentrierte sich wieder auf die Zeichnung. Eine Locke fiel ihm ins Gesicht, als er zu ihr aufsah, so lange, bis sie leicht errötete. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte. Eigentlich studierte Leo Musik und arbeitete nebenbei als Violinist an der Semperoper, aber er war künstlerisch in vielerlei Hinsicht begabt. Und er probierte gerne Neues aus.
»Genug gezeichnet«, sagte sie, richtete sich auf und nahm ihm den Skizzenblock aus der Hand. »Zeig mal her.«
Sie betrachtete die junge Frau, die sie mit wachem Blick von dem Blatt aus ansah. Sie hatte etwas Nymphenhaftes an sich, wirkte so selbstbewusst, so sinnlich. So schön. War das wirklich sie? Für gewöhnlich versuchte sie, so wenig wie möglich aufzufallen, aber Leo hatte sie trotzdem wahrgenommen. Damals, als sie sich letzten Sommer in das Café am Neumarkt gesetzt und einen Krug mit erfrischendem Rhabarbersaft sowie ein Stück Eierschecke bestellt hatte, nur um seiner Interpretation des beschwingten Allegro Aperto von Mozart zu lauschen. Er hatte vor der Frauenkirche gestanden, vor ihm eine Mütze mit ein paar Münzen darin. Die Luft hatte vor Hitze an diesem Tag geflirrt. Es war nicht nur eine Melodie gewesen, die sie gehört hatte, es waren Gefühle gewesen, die in sie hineinströmten und ihre Seele aufwühlten wie Wind die See. Sie war so ergriffen gewesen, dass sie völlig die Zeit vergessen hatte. Später, als sie gezahlt hatte und nach Hause aufgebrochen war, hatte er sie eingeholt und einfach nur angelächelt und nicht geahnt, dass sie gerade von einem Erdbeben erschüttert worden war. Das war der Beginn von etwas gewesen, was sie bis heute nicht verstand, weil es so schön und echt war und damit so anders als das meiste, was sie bisher in ihrem Leben erfahren hatte.
Schwer zu sagen, was ihr an Leo am besten gefiel. Vielleicht sein helles Lachen, das sie unter hundert anderen erkannt hätte. Oder seine blauen Ozeanaugen, die von fernen Ländern und Abenteuern erzählten. Seine honigbraunen Haare, in denen die Sonne ein paar strohblonde Strähnen hervorgezaubert hatte und die sich an den Spitzen eindrehten. Seine feinen Gesichtszüge, wie von einem Künstler entworfen. Seine wilde, unvorhersehbare Art, die ihre Haut prickeln ließ, wenn er ihre Hand nahm und sagte: »Lust auf ein kleines Abenteuer?«
Einfach alles an ihm gefiel ihr. Sein Anblick erfüllte sie mit einem Gefühl, als würde sie ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Sie selbst war jemand, der still und leise aus dem Schatten heraus beobachtete. Jemand, der eher zusah, wie die Zeit langsam vorbeizog, anstatt mit beiden Händen nach dem Leben zu greifen und es zu schütteln in der Hoffnung, dass neue, überraschende und abenteuerliche Möglichkeiten herausfielen. Für jemanden wie sie war jemand wie Leo, der so elektrisierend war, ein Ereignis, geradezu ein Einschlag. Leo überflutete sie mit seinem Licht und brachte Seiten an ihr zum Vorschein, von denen sie nichts geahnt hatte.
Endlich legte er den Kohlestift beiseite und wischte seine Hände an einem Tuch ab. Trotzdem hinterließ er einen schwachen schwarzen Fingerabdruck auf dem weißen Laken, als er zu ihr kletterte.
Sie legte den Skizzenblock auf seinem Nachttisch ab, fuhr mit dem Zeigefinger über seine Unterlippe, bewunderte die feinen Rillen, die glatte, gebräunte Haut seines Oberkörpers. Auch er war kaum bekleidet, trug nichts bis auf eine hellbraune Stoffhose. Er hatte etwas von einer griechischen Statue, ein junger Adonis, so schön, dass es fast schon wehtat. Sie konnte einfach nicht aufhören, ihn zu küssen. Er schmeckte leicht nach dem Schokoladeneis, das sie ihm aus der Konditorei Rumpelmayer mitgebracht hatte. Sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und sich auch das letzte Stück Stoff vom Körper streifte.
Leo löste sich von ihr, jedoch nur, um ihren Hals zu küssen und sanft an der zarten Haut zu saugen. Er tastete sich weiter vor, über ihre Schlüsselbeine zu ihrem Busen hinab. Er ließ seine Zunge um ihre Brustwarze kreisen, womit er ihr ein wohliges Stöhnen entlockte, und als er sanft hineinbiss, brachte er sie fast um den Verstand.
»Leo …«, hauchte sie, als seine Lippen tiefer wanderten, und vergrub ihre Hände in seinen Locken.
Seine Augen hatten sich verdunkelt, als er zu ihr aufsah. »Soll ich aufhören?«, fragte er provozierend, weil er natürlich genau wusste, dass sie nicht wollte, dass er sich bremste.
»Ich befürchte, ich muss los«, sagte sie und biss sich auf die Unterlippe, als er mit der Hand über die Innenseite ihres Oberschenkels fuhr. »Dann kannst du dich noch mit deinen anderen Verehrerinnen treffen.«
Sie genoss die Schwere, als er sich auf sie legte. »Du weißt, dass du die Einzige bist.«
Ja, das wusste sie. Und es wollte ihr einfach nicht in den Kopf gehen, was er an ihr so besonders fand.
»Tante Viktoria steinigt mich, wenn ich zu spät komme«, sagte sie und bewegte sich unter ihm, damit er sich von ihr rollte. »Heute Abend ist doch der Ball.«
Seit Wochen plante ihre Tante den Sommerball, der im Hotel Elbflorenz stattfinden würde. Das Hotel war seit mehreren Generationen im Besitz der Familie. Die Einladungen zum Sommerball waren mindestens so heiß begehrt wie die köstlichen Stollen auf dem Dresdner Striezelmarkt. Es war nämlich kein Geheimnis, dass nicht nur angesehene Künstler oder wohlhabende Unternehmer eingeladen wurden, sondern auch einflussreiche Politiker, weshalb vor allem junge, ledige Frauen ihre Seele dafür verkauft hätten, eine der hochwertigen champagnerfarbenen Einladungskarten im Briefkasten zu finden.
»Und du musst dort wirklich hin?«
Fünf Minuten sind schon noch drin, dachte sie und legte den Kopf auf seinen Schoß. Sie war süchtig danach, ihn zu küssen, aber sie genoss es auch, einfach so mit ihm dazuliegen, zu reden und sich Geheimnisse und Gedanken anzuvertrauen, über die man sonst mit niemandem sprechen konnte. Und vielleicht war das der Zauber ihrer Beziehung, auch wenn sie das, was sie mit ihm hatte, nicht so nennen würde. Noch nicht. Er war ihr bester Freund und so etwas wie ihr Liebhaber, auch wenn sie noch nicht mit ihm geschlafen hatte.
»Natürlich muss ich dorthin«, sagte sie und seufzte. »Immerhin ist es der Ball, mit dem meine Tante mich in die feine Gesellschaft einführen möchte.«
Einladung zum Sommerball hatte auf den Einladungskarten, die ihre Tante Viktoria verschickt hatte, gestanden. Verkupplungsball hätte es jedoch besser getroffen, denn neuerdings schien ihre Tante alles daranzusetzen, sie unter die Haube zu bringen. Und das ahnte auch Leo.
»Sie will dich mit einem reichen Schnösel oder einem Nazioffizier zusammenbringen, das ist der wahre Grund des Balls.«
Sie war eine »richtige Frau« geworden, wie ihre Tante vor...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bombennacht • Dresden • Frauenkirche • Liebesgeschichte • Liebesroman • Verlorene Liebe • Wiederaufbau |
ISBN-10 | 3-8437-3168-3 / 3843731683 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3168-3 / 9783843731683 |
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