Moosflüstern (eBook)
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61348-3 (ISBN)
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane sind Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Crime Cologne Award und zuletzt mit dem Glauser-Preis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.
In dem Heinrich Lieber eine Neuigkeit erfährt, aber andere Sorgen hat.
Die große Neuigkeit, die Überraschung des Jahres, haute Heinrich Lieber im ersten Moment kaum um, wühlte ihn auch nicht auf, wie man es sich vielleicht vorstellen würde. Kein Drama, keine Gefühlsausbrüche. Keine Tränen. Heinrich Lieber fragte sich sogar insgeheim, wie man sich überhaupt zu fühlen hatte, wenn man erfuhr, dass sich die totgeglaubte, leibliche Mutter in einem fernen Land aufhielt. Dass sie ein zweites Leben zu leben gewählt hatte – ohne Mann und Sohn – und logischerweise nicht gefunden werden wollte. Er war weder erfreut noch wütend. Das alles ließ ihn kalt. Es war fast so, als hätte er es schon immer gewusst, als hätte er so eine Nachricht erwartet.
Schön für sie, dachte Heinrich Lieber. Soll sie doch in Island leben. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich bei ihr zu melden, sie zu konfrontieren oder gar zu besuchen und in die Arme zu schließen oder so was. Sie hätte sich schließlich während all der Jahre bei ihm melden können – was sie aber nie getan hatte. Sie musste ihre guten Gründe dafür gehabt haben. Nicht wahr?
Es tut uns leid, dass wir es dir nicht früher gesagt haben, beteuerte sein Vater. Aber du weißt ja…
Heinrich nickte, die Stirn in Falten gelegt, schien tief in Gedanken versunken. Ansonsten blieb er völlig reglos, saß einsam auf der weißledernen Vierercouch, ganz in der Mitte, knetete die Hände unauffällig im Schoß, als bereite er sich auf einen Boxkampf vor, wobei er keine fünf Sekunden im Ring überstanden hätte. Heinrich war zwar hochgewachsen, dafür hager und unsportlich. Ein Bürogummi eben. Seine Hände hatten – es war ihnen anzusehen – noch nie zupacken müssen. Selbst seine Brille schien viel zu groß und zu schwer für sein hohlwangiges Gesicht. Von Zeit zu Zeit schubste er sie sich mit dem Zeigefinger aufs Nasenbein zurück und dachte angestrengt nach.
Und wieso habt ihr es mir nicht früher gesagt?, fragte er unerwartet barsch, sodass seine Eltern besorgte Blicke austauschten.
Heinrichs Vater, Robert Lieber, saß auf seiner neuesten Anschaffung: einem Massagestuhl, wie man ihn in den späten Achtzigern einfach haben musste, wusste man das Leben zu genießen. Den dröhnenden Rückenvibrator hatte er rücksichtsvoll ausgeschaltet, als er seinem Sohn das gutbehütete Familiengeheimnis anvertraute. Sein Gewicht drückte ihn schwer aufs Leder. Er war ein Genießer, er liebte gutes Essen und gönnte sich abends jeweils einen Whisky, gelegentlich auch mal eine Zigarre. Trotz seines Alters und seiner Laster war er erstaunlich mobil und aktiv, spielte Golf, unternahm Wanderungen und ging dreimal wöchentlich in Bad Ragaz schwimmen. Er erzählte jedem, dass sein Arzt (auch ein passionierter Golfer übrigens) befürchtete, dass er, ganz zum Leide der Menschheit, noch hundert Jahre alt werden würde. Hahaha!
Heinrichs Stiefmutter, Vreni Lieber-Danuser, saß wie immer steif und aufrecht auf einem schlichten Küchenstuhl, bereit aufzuspringen, um »ihre Buben« zu bedienen. Sie war zwar einige Jahre jünger als Robert, jedoch gesundheitlich nicht ganz so in Schuss wie er. Sie musste die nicht ernst gemeinten Befürchtungen des Arztes geteilt haben, schließlich hatte sie dafür zu sorgen, dass ihr Mann bis zu seinem hundertsten Lebensjahr ordentlich zu futtern und immer saubere Wäsche hatte. Ein Amt, das sie noch zur Strecke bringen würde. Sie hätte sich gern neben Heinrich auf die Couch gesetzt, hätte seine Hand halten wollen, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie immer Muttergefühle für ihn empfunden hatte und noch immer empfand. Doch sie vertrug das weiche Polster ihres Rückens wegen nicht.
So saßen sie Heinrich wie bei einem Vorstellungsgespräch gegenüber. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern flackerten unruhig hin und her, von der Mutter zum Vater zur Tür. Das lichte Haar hatte er flüchtig über die Stirnglatze gescheitelt, er war völlig geschlaucht nach einem mörderischen Arbeitstag im Büro und eigentlich nicht in der Stimmung für solche Gutenachtgeschichten.
Wir wollten es dir sagen, als du sechzehn warst, beteuerte seine Mutter.
Aber dann fanden wir einfach nicht die Gelegenheit dazu, ergänzte sein Vater, und Vreni übernahm erneut das Wort:
Wir dachten, dass es dich nur belasten würde, du hattest es so schwer in der Kantonsschule. Das weißt du doch am besten. Das war ein richtiger Krampf.
Aha. Man war also selbst schuld. Heinrich schüttelte verständnislos den Kopf, suchte nach Worten, fragte sich, wieso heute? Wieso gerade an diesem 3. Juni 1988, vierzig Jahre nachdem er, Heinrich Lieber, geboren worden war? Wird man denn nicht üblicherweise schon in Teenagerjahren über den Verbleib eines unbekannten Elternteils informiert? Mit vierzehn beispielsweise, bei eintretender Strafmündigkeit, oder mit sechzehn, wenn man alt genug ist, um ein anständiges Mofa zu fahren?
Aber warum gerade jetzt?, fragte er. Warum gerade heute? Wieso ruft ihr mich bei der Arbeit an? Ich dachte schon, es sei etwas passiert! Wieso konnte es denn nicht bis zum Wochenende warten? Es hat schließlich vierzig Jahre gedauert, bis ihr mich eingeweiht habt!
Deine Mutter ist vor wenigen Tagen gestorben, sagte Vreni umstandslos, duckte sich unmerklich und warf ihrem Mann einen Blick zu. Der erwiderte ihn mit einem zusichernden Nicken, hob die Hand, als gebiete er um Ruhe, setzte sich ächzend auf die Vorderkante des Massagestuhles, was einen Moment dauerte, denn auf dem verflixten Leder rutschte man immer wieder zurück.
Jetzt bleiben wir alle mal schön ruhig, sagte er. Nur kein Drama. Deine Mutter ist gestorben, Heinrich. Das tut uns natürlich leid, aber, was soll ich sagen – ich habe die Nachricht heute Morgen von Charlotte erhalten.
Und wer, bitte, ist Charlotte?
Charlotte? Verzeihung, sie ist die Schwester deiner Mutter, also deine Tante. Sie ist in den Fünfzigern nach Paris ausgewandert, hat da einen Franzmann geheiratet, der ist aber schon vor einigen Jahren gestorben, soviel ich weiß …
Heinrich schüttelte verwirrt den Kopf.
Jetzt aber mal stopp!, sagte er. Meine Mutter hatte eine Schwester? Ich dachte, ihre ganze Familie sei im Krieg ums Leben gekommen.
Sein Vater nickte.
Aber ja doch. Bis auf diese eine Schwester eben. Charlotte.
Und die lebt noch?
Oh ja. Die lebt noch.
Heinrich biss sich auf die Lippen. Nun stieg doch etwas Hitze in ihm auf, etwas brodelte in ihm. Binnen weniger Minuten war seine totgeglaubte Mutter zum Leben erweckt worden – und sogleich wieder gestorben. Dafür hatte er jetzt eine Tante namens Charlotte, und die lebte in Paris.
Na prächtig!, sagte er trocken. Und du hast mir immer erzählt, dass meine Mutter damals in der Nervenklinik –
Und das ist sie auch!, fiel ihm sein Vater ins Wort, besann sich, seufzte müde und zuckte schließlich mit den Schultern. Dachte ich jedenfalls. Sie war ja plötzlich nicht mehr da. Ich erfuhr erst Jahre später, dass sie das Land verlassen hatte. Bis dahin war ich überzeugt gewesen, sie sei aus der Nervenklinik ausgebüxt und hätte sich in die Warnow gestürzt. Herrgott noch mal, sie wäre nicht die Einzige gewesen, damals! Manche wollten einfach nicht mehr weiterleben, verstehst du? Wir hatten alles verloren, alles …
Wie gut hast du sie eigentlich gekannt? Ich meine, seid ihr lange zusammen gewesen?
Wir haben kurz nach Kriegsbeginn geheiratet, uns während der Kriegsjahre aber kaum gesehen, weil ich doch 1940 in Gefangenschaft geriet, und –
Verheiratet?, unterbrach ihn Heinrich. Ihr wart verheiratet? Davon höre ich auch zum ersten Mal! Er schaute Vreni fragend an. Die zupfte verlegen an ihrem Kleid und murmelte:
Das braucht man nun gewiss nicht an die große Glocke zu hängen. Das ist ja ewig her.
Wie gesagt, beschwichtigte Robert, wir hatten uns während der Kriegsjahre kaum gesehen. Deine Mutter hatte Schreckliches erlebt, war arg bedrückt, und darum …
Bedrückt?
Na, Depressionen, Kriegstrauma oder wie man das heute nennt.
Aber der Krieg war doch zu Ende!
Zu Ende? Deutschland ist noch immer besetzt. Robert wirkte verärgert, verwarf die Hände, als mochte er nicht länger darüber sprechen. Vreni mischte sich wieder ein:
Wir hatten so ein Glück, hier in der Schweiz. Wie schrecklich das damals war, können wir uns gar nicht vorstellen.
Nein, könnt ihr nicht, bestätigte Robert, machte ein mürrisches Gesicht und suchte nach Worten. Ihre Schwester in Paris sagte mir erst viel später, dass deine Mutter nach Island ausgewandert war, aber zu dem Zeitpunkt war ich schon längst mit dir in die Schweiz gezogen und hatte meine Alpenblume geheiratet, und wir fanden, dass du bei uns am besten aufgehoben wärst, verstehst du, und dass wir die Vergangenheit begraben sollten. So.
Heinrichs Eltern blickten sich erleichtert an. Als wollte Robert einen Schlussstrich unter die leidige Diskussion ziehen, rutschte er ins Polster des Massagestuhls zurück und drückte den Vibrationsknopf. Ein tiefes Brummen erfüllte den Raum. Die Porzellantassen auf dem Glastischchen summten mit. Vreni verdrehte die Augen.
Du kannst es einfach nicht lassen, sagte sie. Muss das jetzt sein?
Ihr Mann seufzte betont genussvoll. Heinrich überlegte, seit wann er seinen Vater nicht mehr leiden konnte.
Eine Frage habe ich noch, sagte er, fast wie ein Fernsehkommissar. Sein Vater stellte den Motor ab und reckte aufmerksam den Hals.
Wo und wann soll meine...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufbruch • Bauernhof • Ehe • Esja • Familie • Flucht • Herkunft • Identität • Island • Kalmann • Midlife Crisis • Mutter • Mutterrolle • Nachkriegszeit • Reise • Schweiz • Spurensuche • Tell • Vergangenheitsbewältigung • Wurzeln |
ISBN-10 | 3-257-61348-2 / 3257613482 |
ISBN-13 | 978-3-257-61348-3 / 9783257613483 |
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