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Heimwärts (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491759-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heimwärts -  Michael Lentz
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Wie kann man ein besserer Vater als der eigene werden?  Michael Lentz erinnert sich in »Heimwärts« an die unheimlichen Jahre der alten Bundesrepublik. Zwischen Apfelkuchen und Zorn, zwischen Matchboxautos und Metaphysik spielt sich in seinem neuen Roman eine westdeutsche Kleinstadt-Kindheit ab. Regelmäßig rutscht dem Vater die Hand aus, oder man begegnet sich wortlos im Haus. Es gibt viel zu essen, und die Mutter sorgt für Ordnung und schlechtes Gewissen. Unterbrochen werden die Erinnerungen von der Stimme eines Kindes, das die alte Bundesrepublik nur noch vom Hörensagen kennt und mit all dem alten Kram heute nicht mehr viel anfangen kann. Seit »Muttersterben« erzählt Michael Lentz virtuos von Herkunft und Familie, von Kindheit, Liebe und Tod. »Heimwärts« geht einen entscheidenden Schritt weiter: Aus dem Sohn ist nun selbst ein Vater geworden. Die vergangene Kindheit ist zwar weiterhin mächtig und präsent. In der Gegenwart aber geht es um die Stimme der nächsten Generation. 

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020), der Gedichtband »Chora« (2023), der Roman »Heimwärts« (2024) sowie »Grönemeyer« (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Für »Chora« und sein Gesamtwerk erhielt Michael Lentz den Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024.   Literaturpreise: Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020), der Gedichtband »Chora« (2023), der Roman »Heimwärts« (2024) sowie »Grönemeyer« (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Für »Chora« und sein Gesamtwerk erhielt Michael Lentz den Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024.   Literaturpreise: Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024

[...] Lentz unternimmt den Versuch einer sich selbst verortenden Männlichkeit angesichts patriarchalisch einschüchternder Vaterfiguren und enigmatisch einsamer, kontrollierender Mütter.

[...] wirklich beeindruckende[s] Buch[].

[...] dort, wo der Autor seine Intelligenz ins Schweben bringt, glücken ihm Bilder, in denen Intellekt und Gefühl eine Verbindung eingehen [...].

[...] ein außerordentlich bemerkenswertes Buch.

[...] viele überragende Sätze.

Zettel


Die Dinge, die ich in Händen hielt und eingehend betrachtete, hatten schon andere in Händen gehalten, sie hatten andere Umgebungen und Zeiten gesehen, an anderen Orten gelegen. Und mit ihnen waren alle diese Zeiten und Orte zugegen. Ich konnte in den Dingen lesen und andere Dinge und Bilder sehen, sie waren ganz Gegenwart, und jetzt, während ich mich an sie erinnere, bedauere ich, nicht mehr im Elternhaus zu leben, das zu besitzen ich täglich träume, und bin traurig, dass die Eltern nicht mehr leben und dass wir, vielleicht der Zeit geschuldet, keine Sprache füreinander hatten, erst fast fünfzig Jahre später, an einem anderen Ort, einem anderen Tisch, versucht die Erinnerung im Angesicht eines Kindes, das meine Mutter und meinen Vater nicht mehr kennenlernte, eine andere, verbindende Sprache zu finden. Dieses Kind, einige der Dinge und Bilder in Händen, stellt Fragen, die zu stellen ich versäumt habe. Es stellt Verbindungen her, die ich ahnte, aber nicht auszusprechen wagte, es lässt sich nicht bevormunden, schließlich hat es seinen eigenen Mund, und es hat Augen, und was es sieht, sagt es. Dieses Kind lässt sich nicht beirren, es kommt der Beirrung auf die Spur, es malt und zeichnet, und auf seinen Bildern finden die Dinge seiner Umgebung und seiner Phantasie neu zusammen. In diesen Bildern scheinen die Dinge und Bilder meiner Kindheit und Jugend wieder auf. Die Familie vor einem Haus. Die Familie vor einem Haus mit Garten. Die Familie vor einem Haus mit Garten und Sonnenschein. Ein Boot. Ein Hund. Eine Wiese mit vielen bunten Blumen. Ein Liegestuhl am See, ein Badetuch am Meer. Förmchen im Sandkasten, im Sand, am Meer. Gesichter. Luftballons. Und noch mehr Luftballons. Ein großes Bild aus Luftballons. Und gab es Streit, lag das Bild in Streit mit sich. Doch bald schon lichteten sich die Farben und Formen, ruhig spazieren die Menschen auf einem Weg zurück ins Haus. Das Kind lädt ein, hier mitzutun, sich selbst zu malen, und zwar so, wie man sich gerade empfindet. Alles gehört zusammen auf diesen Bildern, es gibt nur den Moment und nur ein Bewusstsein, das alle teilen, alle sind anwesend, und niemand geht einer Tätigkeit nach. Habe ich jemals Vater und Mutter und mich und meine Geschwister gemeinsam auf einem Bild gemalt? Oder auch nur Vater und Mutter? Oder einen von ihnen allein? Selbst mich habe ich nicht gemalt. Ich betrachte die Bilder des Kindes, ob nicht Wolken aufziehen, das Gesicht sich verfinstert. Es kann besser malen, als ich je werde malen können. Was heißt schon besser? Dein Bruder ist aber besser als du. Deine Schwester ist aber besser als du. Spaltpilz Wettbewerb, der die Familie auseinandertreibt.

Vor mir, auf dem Tisch, lag ein rotes, abgegriffenes Lederportemonnaie mit einem Foto darin und zweiunddreißig Pfennig. Grünspan hatte die Kupfermünzen schon stark angegriffen, das Portemonnaie roch modrig, es musste mal feucht geworden sein, das Foto hatte einen Wasserrand, der das Gesicht entstellte. Die Hexe. Unter den Münzen lag ein kleiner Zahn in Gestalt einer Fee, bei näherem Betrachten war es vielleicht nur ein Knochensplitter oder ein Stück Elfenbein. Bild Geld Fee. Bild und Geld gehörten der Fee, das Portemonnaie war ihr Haus. Würden sie nicht für immer zusammenbleiben, ginge die ganze Welt auseinander. Vielleicht hatte der Zahn der Person auf dem Foto gehört. Und was ihr geblieben war, ist dieser Zahn und zweiunddreißig Pfennig. Und das Portemonnaie. Oder dies alles zusammen ist von dieser Person geblieben. Ich legte alles zurück ins Portemonnaie und nahm mich der anderen Dinge an, die in der Schachtel lagen. Eine korallene Perlenkette mit Kreuz. Zählschnur gewisperter Wiederkehr. Die Perlen als dornige Rosen, damit man sich ordentlich daran sticht, das Kreuz mit Blütenformen und Weintrauben. Ob ich sie behalten und verkaufen sollte? Ich zählte 59 Perlen. Die verlorene Schar schwarz gekleideter, kopfgebeugter Frauen, die allmorgendlich in den Bänken vor dem Seitenaltar kniend den Rosenkranz beteten. Was mir Furcht und Schrecken bereitete, sehe ich heute als krisenfeste Aufführung, als kompromissloses Ritual einer Feier des Selbst. Es tut gut, dich in Händen zu halten, meine Gebete aber sind anderer Natur: sechs große Perlen Mein Vater und Lobpreis Ehre sei meinem Vater und seinem eingebildeten Sohn, drei einzelne und fünf mal zehn kleine Perlen Gegrüßet-seist-Du-Spiegelbild. Nach dem Kreuz mit meinem Korpus eine große und drei kleine Perlen, es folgt eine große Perle als erste Perle vom Kranz, der aus fünf mal zehn kleinen und fünf großen Perlen besteht: Nach zehn kleinen Perlen folgt jeweils eine große. Insgesamt werden also fünf Durchgänge wiederholt.

O du freudenreicher Rosenkranz meiner Kindheit, die nicht immer wusste, wie ihr geschah; du schmerzhafter Rosenkrank meiner Jugend, die sich geißelte und nicht immer verstand, was man ihr sagen wollte; du lichtreicher Rosenkranz, der ich mich öffentlich bezeugte, der ich eine Truhe und Geheimnisse habe und mir offenbar und verschlossen bin; und du, glorreicher Rosenkranz der Geburt meines Kindes, das sich selbst ähnlich ist; und auch du, trostreicher Rosenkranz, der mich von der Wiederkehr erlöst.

Neben dem Rosenkranz ein Band Čechov, Erzählungen, die einen tiefen Eindruck hinterließen. Verlor ich lesend nicht den Boden unter den Füßen, verschwand ich, mich selbst vergessend, nicht ganz in der Lektüre, und wurde mir nicht das, was ich las, ganz leibhaftig? Was auch den Menschen, von denen die Erzählungen handelten, widerfuhr, es widerfuhr mir. Doch die Erzählungen gingen zu Ende, und ich blieb übrig, und als ich wieder zu mir kam, war ich enttäuscht, dass es vorbei war, was vorbei?, und wollte ich dann nicht von vorne beginnen, als sei es der Sinn der Erzählungen, bereits im Lesen vergessen zu werden? Genau so. Lesen war ein Durchgang, es war der Flur zum Schlafzimmer der Eltern. Ich gehe hindurch, gehe vorbei.

In einer der Geschichten geht ein Schiff unter, die Matrosen verschwinden einer nach dem anderen und werden von den Haien gefressen. Oder das Schiff geht nicht unter, aber es herrscht Skorbut oder Schwindsucht, und die Vorräte sind fast aufgebraucht. Also würfeln die Matrosen, wer noch bleiben darf und wer nicht. Sie hoffen, dass baldige Rettung naht. Oder das Schiff droht unterzugehen, es geht aber nur ganz allmählich unter, und die Matrosen haben eine Freude daran, um ihr Leben zu würfeln. Der Verlierer wird jeweils den Haien zum Fraß vorgeworfen, und alle betrachten jedes Mal neugierig das Schauspiel, bis sich die letzte Spur Blut im Wasser verloren hat. Ich habe die Einzelheiten vergessen, die Lektüre aber ließ mich die Welt mit anderen Augen sehen. Ich nahm jetzt Schiffsuntergänge wahr, wo keine Schiffe waren, erkannte im sechs Kilometer entfernten Badesee, der einmal ein Baggersee war, das große Meer, das buchgerecht verkleinert worden war. Nicht also die sogenannte Wirklichkeit kommt im Buch vor, sondern das Buch ist die Wirklichkeit.

Ein kleiner Zettel war in den Čechov eingelegt. Vielleicht diente er als Lesezeichen oder das Buch als sein Versteck? Das Papier des Zettels war brüchig, ich legte ihn vorsichtig auf den Schreibtisch und untersuchte ihn. Was gab es zu untersuchen? Er war stark verblichen, leicht wasserrandig. Die Linien, die das Wasser hinterlassen hatte, sahen aus wie Buchstaben, die ich sogleich zu entziffern begann. Mit jedem Entziffern konnte ich Neues lesen. Ich las die Zeichen des Zettels in die Geschichte von Čechov hinein, das Buch war nun das Schiff, dann wurde unser Haus zu dem untergehenden Buchschiff, ich selbst zu einem der Matrosen, die Aussicht auf ein baldiges Ende löschte die lastende Vergangenheit aus, von nun an traf ich unter der Schirmherrschaft von Krankheit und Untergang meine eigenen Entscheidungen, bis ich auf der Rückseite des Zettels Bleistiftnotizen in kleinster Schrift entdeckte. Stand dort nicht zu lesen – aber nein, das ist sicher nur ein sich bald wieder änderndes Augenspiel. Ich schaue weg, ich schaue wieder hin, nun steht anderes zu lesen da. Ich beschloss, den Zettel zu behalten. Mein Interesse weckte nun eine kleine Tänzerin, die zusammen mit einem um Kopfeslänge größeren Spiegel in einer Spanschachtel lag. Die Tänzerin trug ein rotes Kleid und war auf Watte gebettet, stellte man den Spiegel mit seinem gelben Rahmen dicht vor sie hin, setzte sie sich sofort in Bewegung und drehte unermüdlich ihre Pirouetten. Von der Ballerina ging eine hypnotische Wirkung aus, und als ich mich selbst im Spiegel erblickte, fühlte ich mich beobachtet, fortan hatte ich nur noch Augen für dieses andere Kind im Spiegel, das mich mit großen Augen anschaute, als hätte es mir etwas Vertrautes oder Erschreckendes oder Geheimnisvolles mitzuteilen. Wer war das? Ob dieser Wer auch die Augen nicht von mir lassen konnte? Wie konnte ich feststellen, ob er ebenfalls wegschaute, wenn ich wegschaute? Vielleicht mit einem zweiten Spiegel. Ich stellte die Ballerina mit ihrem Spiegel so auf die Ablage unter dem Waschbeckenspiegel hinter mir, dass ich ihr Gesicht aus dem Augenwinkel sehen konnte. Sie beobachtete mich jetzt ebenfalls über den Waschbeckenspiegel. Also die Spiegel verhängen? Ich würde von Zeit zu Zeit überprüfen, ob sie mich immer noch beobachten kann. Ich nahm ihr den kleinen Spiegel weg. Ohne diesen Spiegel tanzte sie nicht. An dem Waschbeckenspiegel schien sie kein Interesse zu haben, er brachte sie nicht zum Tanzen, und sie schaute nicht in ihn hinein. Ohne ihren Spiegel konnte ich sie mir so hinstellen, wie ich wollte, ich hatte direkte Kontrolle über sie. Aber sie tanzte nicht mehr. Ich stellte sie an den Rand der Ablage, was sie vielleicht als Strafe deutete. Dort konnte...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er Jahre • 70er Jahre • Anspruchsvolle Literatur • Bonn • BRD Noir • Coming of Age • Ein Buch von S. Fischer • Erinnerung • Erziehung • Familie • Gewalt • Historisch literarischer Roman • Kindheit • Kindheitserinnerungen • Männlichkeit • Nachkriegszeit • Vaterschaft • Westdeutschland
ISBN-10 3-10-491759-0 / 3104917590
ISBN-13 978-3-10-491759-7 / 9783104917597
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