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Die Rebellion der Liebenden (eBook)

Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten
eBook Download: EPUB
2024
208 Seiten
btb Verlag
978-3-641-31433-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rebellion der Liebenden - Marica Bodrožić
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»Niemand nordet meinen menschlichen Kompass so poetisch und klug wie Marica Bodro?i?.« Maria-Christina Piwowarski
Marica Bodro?i? geht in sechs sehr persönlichen Essays der Frage nach, wie wir gerade unter dem Eindruck alltäglicher Gewalt und fortlaufenden Unrechts zu einer neuen Offenheit im Denken, zu mehr Menschlichkeit gelangen können.

Überall auf der Welt wird das Recht auf Unversehrtheit mit Füßen getreten, jeden Tag aufs Äußerste missbraucht. Was braucht es, um Veränderungen anzustoßen? Wer nur das Alte beibehalten will, wählt zwangsläufig einen Weg ins Unglück. »Um Veränderung wahrnehmen und sie zulassen zu können, ist es vonnöten, die eigene Verletzlichkeit zu kennen«, schreibt Bodro?i?. Ihre Essays sind ein eindrucksvolles Plädoyer für ein friedliches Miteinander - in der geistigen Tradition von Martin Luther King oder Erich Fromm. »Wir bleiben unser Leben lang verletzlich. Es gibt eine Güte, die hinter der Grausamkeit liegt. Sie kann nicht durch die Gewalt abgetötet werden.«

Marica Bodro?i? wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodro?i? lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

Durchlässigkeit


In meiner Kindheit bin ich viel Bus gefahren. Zwischen Dalmatien und Hessen war ich unzählige Male schon im Alter von zehn Jahren allein unterwegs. Ich fuhr mit dem Bus nicht nur durch Landschaften und Länder, sondern auch durch die Korrespondenzen meines Lebens, durch Sprachen und Gedächtnisse, durch die Geschichte und die Gegenwart, und der Doppeldecker mit all den brummenden Stimmen, dem Geruch von Zigaretten und Schnaps, dieser erdige Geruch von Menschen, die mit ihren Händen arbeiten, der fuhr auch mit, gehörte dazu und saß noch tagelang in meinen Kleidern fest. Doch die Idylle gab es schon damals nicht. Sie zitterte allenthalben und war nur noch anwesend in den sentimentalen Erinnerungen einfacher Menschen, die alles verlassen hatten, dem Hunger entkommen waren und die sich von ihrem Hier in ein anderes Dort hinträumten, während ihre Kinder neue Sprachen lernten und den Unterschied zwischen Faschismus und Kommunismus verstanden, weil sie in Schulen gingen, die noch von alten Nazis geleitet wurden, die sie hin und wieder so anschrien wie bissige Hunde bellen, die eigens dafür angeschafft wurden, andere zu erschrecken. Doch nicht nur in Deutschland war belastend Unaufgearbeitetes. Auch im Gestern meiner Eltern gab es viel Arbeit am Gedächtnis, die noch ihrer und meiner harrte. Denn das Gedächtnis geht in jedem Menschen mit, der an einen anderen Ort zieht, er bringt nicht nur seinen Körper mit, sondern auch die Geschichten und Kämpfe, Ängste und Nöte seiner Vorfahren. Davon will ich erzählen und zeigen, was geschieht, wenn die Jüngeren sich erinnern, wenn sie frei werden, obwohl Gewalt und Doktrin sich ihrer schon fast bemächtigt hatten und die Ahnen an ihnen zerren. Ich glaube, dass heute weltweit die Geschichten Einzelner in der Ganzheit des Lebens mehr denn je etwas zum Helleren hin verändern können, wenn wir sie tief in uns aufnehmen und in unserem Bewusstsein auf die eigenen Verwebungen und historischen Vermächtnisse übertragen und uns Fragen im Hinblick auf das in uns mitgehende Erbe stellen. Nur Einzelne verändern die Welt. Besonders in Zeiten des Wandels spiegelt deshalb nicht nur jeder einzelne Mensch die Welt – er ist die Welt.

In der sogenannten kroatischen Diaspora wurden in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts allenthalben kleine Bildchen des faschistischen Führers Ante Pavelić zwischen Deutschland und dem einstigen Jugoslawien geschmuggelt. Sie waren im Stil von Heiligenbildchen gestaltet und hatten etwas seltsam Anziehendes. Mich erinnerten sie auch an die Heiligen, die in meinem dalmatinischen Dorf verehrt wurden, etwa an den Heiligen Rochus oder den von mir ganz besonders geliebten Franz von Assisi und an den Heiligen Antonius von Padua, dem Schutzpatron des dalmatinischen Dorfes, in dem ich einige Jahre meiner Kindheit verbracht habe und das im Hinterland von Split liegt. Eines Tages, als ich wieder in Frankfurt am Main den Doppeldeckerbus im verrufenen Bahnhofsviertel bestieg, steckte mir mein Vater kurz vor der Abfahrt ein Bildchen von Ante Pavelić zu und unterwies mich flüsternd, aber im zischend strengen Ton, dass ich es verstecken müsse, sollte ich an der Grenze kontrolliert werden. Mein Auftrag lautete, den sehr ernst guckenden Typen auf dem Bild jemandem in unserem dörflichen Genossenschaftsladen zu übergeben, aber sonst mit niemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit meinem Großvater. Diese Urszene der seelischen Gewalt hat aus mir im Unterwegssein zwischen Hessen und Dalmatien und über die Alpen hinweg unerwarteterweise einen denkenden Menschen gemacht. Erst weckte das geheimnisvolle Agieren meines Vaters meine Intuition und etwas in mir blätterte sich wie Seiten in einem Buch um – und es stieg eine ganz klare Frage in mir auf: Warum alles so im Geheimen? Später folgte die zweite Frage und in dieser wie von Innen orchestrierten Folge war sie für mein ganzes Leben folgenreich: Wer ist eigentlich dieser Mensch in Uniform? Im Alter von zehn oder elf Jahren, denn die Szene wiederholte sich immer wieder, misstraute ich zum ersten Mal meinem Vater. Was machte er da eigentlich genau? Warum verwickelte er mich in dieses unangenehme Geheimnis, während er nervös eine Zigarette nach der anderen rauchte?

Ich besuchte meinen Großvater in fast allen Schulferien. Doch jedes Mal musste das Geld für die Busfahrkarte aufgetrieben werden und jedes Mal versuchte meine Mutter, mich davon abzubringen, denn das Geld war ohnehin immer knapp. Sie ging zu verschiedenen Putzstellen, und vornehm aussehende Leute bezahlten sie dafür, dass sie ihre Wohnungen säuberte. Es ging im Alltag immer wieder und vor allem darum, genug Brot für uns zu kaufen. Eine Fahrkarte war kein Brot. Eine Fahrkarte war Luxus. Aber ich ließ nicht locker, ich wollte von Hessen zu meinem Großvater nach Dalmatien, und eines Tages beschloss Mutter, dass ich zu ihren Arbeitsstellen mitgehen und ihr helfen musste. Ich überwand die Scham, denn es sahen uns manchmal auch die Kinder aus meiner Schule, die in der Nähe oder im selben Haus wohnten. Ich schluckte die Scham wie eine Fischgräte hinunter und putzte mit. Wenn die schicken Räume der eleganten Leute sauber waren, hielt ich endlich irgendwann die ersehnte Busfahrkarte in der Hand. Und ich fuhr wieder allein in den Süden. Ich sah schon in meiner Vorstellung die kleinen Dörfer vor mir, die Sonne, den Karst, die Katzen. Aber es belastete mich zeitgleich im Vorfeld, dass mein Vater mir diese Bildchen unterschob, mich mit dieser Belastung und seinem Auftrag auf die Reise schickte. Ich spürte es genau – es lag etwas Erpresserisches in der Luft, wenn Vater mir das Bild des faschistischen Anführers anvertraute. Mutter bekam davon nichts mit. Aus der Rückschau erscheint mir meine Not von damals als Botschafterin einer Wahrheit, die das Gewissen mir zumutete. Natürlich hatte ich aber auf den ersten Blick einfach nur Angst, Vater könnte ein Machtwort sprechen und mir meine Busreisen nach Dalmatien verbieten. Das aber wollte ich unbedingt vermeiden. Und so kam es zu dem im Schweigen besiegelten Bündnis zwischen mir und ihm. Ich schmuggelte die Bildchen in den Süden und durfte immer fahren, bekam auch daraufhin genau mit, wer im Dorf dieser Zeit dem Faschismus nachtrauerte und wer diesen Mann, der ein Verbrecher und Mörder war, verehrte und wer sich von meinen kroatischen Verwandten feindselig gegen Serben oder Juden äußerte – beide sollten im Ustascha-Staat vollends ausgelöscht werden. In meinem kleinen Kinderleben wurde das 20. Jahrhundert vorstellig, es öffnete mir durch einen Moment allerkleinster Durchlässigkeit den Zugang zu meinen eigenen Empfindungen. Durch das innere Unwohlsein, die Reibung, die beim Schmuggeln der Bildchen in mir entstand, ereignete sich und zeigte sich mir die Macht des Bewusstseins, in dem nichts verloren geht. Aus diesem Bewusstsein heraus ist über Jahre und Jahrzehnte hinweg die Fähigkeit entstanden, nach innen zu hören, auf die Reibungen zu achten, mich nicht zu unterwerfen – wenn es auch Rückschläge durch die Vereinnahmungen meines Vaters gab, der innere Moment des Gewahrwerdens wurde nie vollständig in mir ausgelöscht. Darauf will ich mein Augenmerk lenken und zeigen, dass der wissende Funke immer da ist, dass wir ihn oft wegdrängen, dass wir lernen müssen, die Sprache der Reibungen zuerst in uns selbst zu verstehen, die wir dann in der Welt sehen können. Denn wir leben in Zeiten, in denen Durchlässigkeit wie diese, in denen die geistige Ebene der inneren Verknüpfungen gänzlich ausgehebelt werden kann, wenn wir seelisch unter Druck geraten. Das Gewissen ist auch ein Wissen. Im Gewissen wissen und erfahren wir, dass es uns als Einzelwesen gibt. Das Gewissen ist in uns abgelegte Sprache. Diese Sprache ist mit den Funken verbündet, der sich in den Augenblicken des Gewahrseins spiegelt. In meiner ersten Sprache war ich nie dazu in der Lage, diese Beziehung zwischen Eingebung, Stille und Verstehen herzuleiten. In meiner ersten Sprache war ich sehr lange das Kind von damals. Das Deutsche aber ermächtigt mich von Beginn an zur Freiheit und Genauigkeit. Und ich empfinde tiefe Freude darüber, dass ich Fragen stellen kann und genug Zeit habe, um in sie hineinzuleben.

Meine Reisen als Schmugglerin hatten mich dafür sensibilisiert, dass alles miteinander im Gespräch zu sein schien. Die deutschen Wörter sagten sich in mir die Wahrheit, und ich hörte der Sprache zu. Und alles, was später an Hass zwischen den Menschen und in den kriegerischen militärischen Auseinandersetzungen Anfang der 1990er Jahre geschah und von mir wahrgenommen wurde, hatte mit diesem Erleben auf den Busfahrten zu tun, mit ihrem Benennen in meiner zweiten Sprache, die eigentlich meine erste und im Mutterbauch vernommene war. In mir war eine Öffnung entstanden, die zugleich eine Position war, Durchlässigkeit, die ohne Zugehörigkeit, ohne Identität und durch die in mir aufgekeimten Fragen aus der Überforderung entstand, die eine Zumutung und zugleich eine Schule des Fühlens war. Nicht einmal die maßlose väterliche Autorität, die in vielen anderen Situationen auch mit physischer Gewalt einherging, konnte diese Öffnung in mir schließen. Sie verbündete sich offenbar mit dem Raum der Heiligen, die ich in aller Kindlichkeit und liebevollen Hingabe als Botschafter einer anderen Art zu sein erlebte. Ganz besonders nahe war mir der Heilige Franziskus, der mit den Vögeln redete und den Reichtum aufgab, um barfuß das Leben auf der Erde zu verstehen. Wie war er zu seiner Durchlässigkeit gekommen? Wie waren die Vögel zu seinen Freundinnen, zu den Mittlerinnen zwischen den Elementen und seinem Geist geworden? Wie hatten sie es geschafft, ihn von der materialistisch-gierigen Seite des Habens in die Welt des Gehens, des Sehens und des von Innen ermächtigten Sagens zu bringen? Diese Sphäre des Erkennens ist...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 2024 • die arbeit der vögel • eBooks • Erich Fromm • Essays • Frieden • Gewalt • Humanität • Martin Luther King • Menschlichkeit • Neuerscheinung • pantherzeit • Preisgekrönte Autorin
ISBN-10 3-641-31433-X / 364131433X
ISBN-13 978-3-641-31433-0 / 9783641314330
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