Der Werwolf schlug sich durch das Gebüsch. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, verbrannte von innen heraus. Dabei hatte ihn einer der silbernen Blitze noch nicht einmal richtig berührt, war knapp über ihm in der Nacht verpufft. Aber das hatte bereits gereicht, Immer wieder sah sich die Kreatur nach möglichen Verfolgern um, aber der Mann, der ihm die Verletzung zugefügt hatte, war anscheinend allein. Der Werwolf stöhnte, als eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper schoss. Er begriff immer noch nicht, was eigentlich passiert war. Wie war es möglich, dass ein silbriges Licht ihn verletzen konnte, wenn selbst Speere und Kugeln ihm keinen Schaden zufügten?
Gegenwart
Mit einem dumpfen Knall explodierte die Blendgranate. Ein Licht, das heller als die Sonne war, riss die Kellerräume aus ihrem Halb dunkel und ließ die geschockten Menschen wie bleiche Geister erscheinen. Sie rissen die Hände vor die Augen, um sich zu schützen, aber es war bereits zu spät. Wie eine schwarze Wolke drängten die Angreifer die Treppe herunter, während die geblendeten Menschen mit tränenden Augen nach ihren Waffen suchten.
Die ersten Schüsse fielen. Getroffene schrien.
Nicandra hob vorsichtig den Kopf. Sie hatte die Granate rechtzeitig gesehen und die Hände vor ihre Augen gepresst. Trotzdem tanzten jetzt schwarze Flecken in ihrem Gesichtsfeld. Neben ihr krümmte sich Thomas Watling auf dem Boden. Seine Augen waren zusammengekniffen, seine Hände in Panik zu Fäusten geballt.
Einige der leprakranken Verteidiger zogen sich in den Nebenraum zurück und feuerten halb blind in Richtung der Treppe, die nach oben führte. Nicandra beobachtete schwarz gekleidete Menschen, die geschickt aus der Zielrichtung sprangen und in einstudiert wirkenden Manövern die Verteidiger unter Beschuss nahmen.
Sie sehen aus wie Beduinen, dachte Nicandra, als sie die ebenfalls schwarzen Tücher bemerkte, die von den Männern gleichermaßen als Gesichtsschutz und Turban getragen wurden.
Im gleichen Moment sprang der alte blinde Mann, der Nicandra und Watling gefangen genommen hatte, aus seiner Deckung vor und warf sich auf einen der Angreifer. Bevor er ihn jedoch berühren konnte, riss ihn ein Schuss zu Boden. Nicandra konnte sehen, dass er tot war.
Sie griff nach dem Arrayhd-Kristall und stutzte.
Die Tasche war leer.
Hektisch, aber zugleich bemüht, den Kämpfenden nicht aufzufallen, ließ Nicandra ihren Blick durch den Kellerraum gleiten. Sie vermutete, dass ihr der Kristall aus der Tasche gerutscht war, als sie sich vor der Blendgranate zur Seite geworfen hatte. In diesem Fall musste er sich in unmittelbarer Nähe befinden.
Der Kellerboden war von Schutt und Geröll bedeckt. Die Explosion hatte Putzstücke und kleinere Steine gelöst, die zusätzlich Staub aufwirbelten. Nicandra spürte, wie die Staubpartikel und die Pulverdampfschwaden aus den Gewehren sie zum Husten reizten. Sie unterdrückte den Reiz mühsam. Die Aufmerksamkeit der Angreifer konzentrierte sich völlig auf den Nebenraum, und Nicandra wollte den dunklen, vermummten Gestalten keinen Grund geben, das zu ändern.
Im gleichen Moment sah sie den blauen Kristall im Mündungsfeuer eines Gewehrschusses blitzen.
Er lag nur wenige Meter entfernt.
Nicandra sah, dass der Kampf in seine Schlussphase zu gehen schien. Einer der Vermummten lag schwer verletzt auf dem Boden. Sieben weitere hatten sich hinter dem Tisch und einigem Geröll verschanzt und feuerten in den kleinen Raum. Nur wenige Schüsse drangen zurück. Den Leprakranken ging anscheinend die Munition aus.
Langsam kroch die Dämonenjägerin auf den Kristall zu und streckte die Hand danach aus. Nur noch Zentimeter trennten ihre Fingerspitzen von der magischen Waffe.
»Nein!«, rief Watling plötzlich.
Nicandra fuhr erschrocken herum.
Und starrte in die Mündung eines Gewehrs.
***
Australien 1794
Wantapari lehnte sich atemlos gegen den kühlen Felsen der Höhle. Die anderen Stammesmitglieder der Eora sahen ihn erwartungsvoll an. Eine der Frauen reichte ihm einen Schlauch mit Wasser, aus dem der Jäger gierig trank. Dann ließ er sich auf den Fußballen nieder. Seine Augen suchten Gulajahli, den Schamanen des Stammes.
»Der weiße Mann Moronthor«, sagte er leise, »ist tot.«
Wantapari sah keine Überraschung im Gesicht des Schamanen. Hatten die Bilder der Traumzeit ihm das etwa auch verraten?
Um ihn herum raunten die Stammesmitglieder untereinander.
»Was ist passiert?«, wollte einer der Männer wissen.
Wantapari zögerte. Er war kein Geschichtenerzähler, der aus Worten eine Landschaft formen konnte, die vor den Zuhörern zum Leben erwachte. Aber außer ihm war niemand dabei gewesen. Also begann er.
»Wir hörten das Heulen des bösen Geistes, den Moronthor Werwolf nannte, und folgten den Lauten in den Busch. Auf der Lichtung des schwarzen Kängurus sahen wir den weißen Mann Thomas. Der böse Geist, größer als ein Mensch und mit Klauen und Zähnen, die im Mondlicht leuchteten, griff ihn an.«
Ein kleines Kind begann am Rand der Höhle verängstigt zu weinen. Die Mutter nahm es in den Arm.
»Moronthor und ich liefen auf den Geist zu. Ich spürte große Furcht, aber dann sah ich, wie rote Lichtspeere aus der Scheibe kamen, die der weiße Mann um seinen Hals trug. Schneller als der Flug eines Speeres waren diese Strahlen, doch der böse Geist wich ihnen trotzdem aus. Ich konnte seine Angst riechen, als er die Flucht ergriff. Wir blieben stehen, und ein Schuss fiel. Ich sah den Schützen nicht, hörte nur, wie ein Pferd davongaloppierte. Und Moronthor war tot.«
Er stützte den Kopf in die Hände und schwieg. Obwohl er dem Weißen erst an diesem Tag begegnet war, hatte er sich mit ihm angefreundet. Es tat ihm leid, einen neu gewonnenen Freund so plötzlich zu verlieren.
»Warum hat das schwarze Känguru zugelassen, dass ihm etwas passiert? Es wacht doch über diese Lichtung.«
Eine Frau hatte die Frage aus der Dunkelheit gestellt. Sie hatte als Frau nicht das Recht, den Schamanen selbst anzusprechen, so wie kein Mann mit der Ältesten des Stammes reden durfte.
Einige der Männer murmelten zustimmend und sahen Gulajahli erwartungsvoll an. Der Schamane räusperte sich. »Das schwarze Känguru wacht ebenso über uns, wie der Eidechsenmann und die Regenbogenschlange. Der böse Geist stellte sich gegen uns und das Känguru brachte den Weißen Moronthor zu uns, damit er uns hilft. Sein Tod bedeutet nur, dass er dem Pfad der Traumzeit bis zum Ende gefolgt ist und jetzt zu unseren Ahnen geht, um als einer von uns wiedergeboren zu werden und uns auch weiterhin zu begleiten.«
Die Männer und Frauen nickten. Wie immer hatte der Schamane die Traumzeit richtig gedeutet.
Nur Wantapari runzelte die Stirn. »Aber«, entgegnete er, »wenn Moronthor zu unseren Ahnen gelangen soll, dann müssen wir ihm doch den Weg zeigen, so wie wir es mit einem der Unseren tun würden. Sonst wird sein Geist sich verirren und uns aus Rache verfolgen. Ist das nicht richtig, Gulajahli?«
Der Schamane zögerte fast unmerklich. Dann sagte er: »Das ist richtig. Wir müssen ein Corroborree durchführen, um ihm den Weg zu zeigen. Wantapari, ich bitte dich und zwei andere Männer, zurück zur Lichtung zu gehen und seinen Körper in unser Lager zu bringen. Bist du dazu bereit?«
Der Jäger sah hinaus in die Nacht. Er hatte den Schock des Kampfes noch nicht überwunden und hätte sich am liebsten mit seiner Frau nah ans Feuer gelegt, dorthin, wo normalerweise nur die Alten lagen, denen nicht mehr richtig warm wurde.
»Ich werde gehen«, sagte er trotz dieser Gedanken. Soviel war er dem Weißen schuldig.
***
Captain Macarthur hieb seinem erschöpften Pferd die Sporen in die Flanken. Das Tier schnaubte und schleuderte weiße Speichelflocken in die Luft.
Der Offizier konnte die ersten Außenposten des Lagers sehen. Wie immer in Vollmondnächten waren die kleinen Holzhütten nicht besetzt. Statt dessen hatten sich die Männer vermutlich an ein helles Feuer zurückgezogen und tranken Rum. Macarthur hatte das bisher toleriert, und heute war er sogar froh darüber. So kam er zumindest ungesehen ins Lager.
Macarthur lief ein Schauer über den Rücken, wenn er an den Laut dachte, den sein Vorgesetzter Grose in seiner Werwolfgestalt ausgestoßen hatte. Hoffentlich ist er nicht tot, dachte der Offizier.
Es war diese Sorge, die ihn übereilt ins Lager zurückkehren ließ, nachdem er die Lichtung vergeblich abgesucht hatte. Wenn Grose tot war, konnte er eine steile Karriere und eine rasche Versetzung nach Indien vergessen. Sein militärischer Aufstieg lag dann so weit entfernt wie das Mutterland von diesem verfluchten Ort.
Zumindest, dachte er mit einem Hauch von Zufriedenheit, war es ihm gelungen, den...