Das Totenschiff (eBook)
416 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61356-8 (ISBN)
B. Traven (1882-1969), war bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig. Es folgte der Umzug nach München, wo er 1917 die radikal-anarchistische Zeitschrift ?Der Ziegelbrenner? gründete und sich an der bayerischen Räteregierung beteiligte, die 1919 gestürzt wurde. Es gibt heute Hinweise, dass er der uneheliche Sohn des AEG-Gru¨nders Emil Rathenau und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde. Nach seiner Flucht nach Mexiko 1924 schrieb er unter dem Namen B. Traven 12 Bücher (darunter sein wohl bekanntester Roman ?Das Totenschiff?) und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden verfilmt, so ?Der Schatz der Sierra Madre? (Hollywood 1948), ?Das Totenschiff? (Deutschland 1959) und ?Macario? (Mexiko 1960). 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.
Ich setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und wünschte, dass sie auf einen Felsen aufrennen möchte und so gezwungen wäre, zurückzukommen oder wenigstens die Mannschaft auszubooten und zurückzuschicken. Aber sie ging den Felsenriffen schön aus dem Wege, denn ich sah sie nicht zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von Herzen alle Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur begegnen können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, dass sie Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis unten ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und dass sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, dass ihm sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge. Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter und weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden, dass mir ganz schwindlig wurde.
Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: »Oh rats, lassen Sie mich in Ruh; ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel!«
»Sie sind Engländer, nicht wahr?«, fragte er nun in Englisch.
»No, Yank.«
»Aha, also Amerikaner.«
»Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren, und machen Sie, dass Sie fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.«
»Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.«
»Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten«, sagte ich darauf. »Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig, oder was haben Sie sonst für Sorgen?«
»Seemann?«, fragte er weiter.
»Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?«
»Von welchem Schiff?«
»Tuscaloosa von New Orleans.«
»Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.«
»Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Dieser Witz ist schon sehr alt und stinkt bereits straßenweit.«
»Wo haben Sie Ihre Papiere?«
»Was für Papiere?«
»Ihre Seemannskarte.«
Ei, Schokoladencreme mit Appelsoße! Meine Seemannskarte? Die steckte in meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack, und mein Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und die Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüsste, was sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der Schwarze sicher wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas erzählen, wenn ich die Galley streichen komme.
»Ihre Seemannskarte! Verstehen doch, was ich meine?«
»Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine Seemannskarte. Da muss ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe keine Seemannskarte.«
»Keine Seemannskarte?« Das hätte man hören müssen, in welch einem entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte: »Was, Sie glauben nicht, dass es Meerwasser gibt?«
Ihm war das unfassbar, dass ich keine Seemannskarte hatte. Er fragte es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar rein mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte hinzu: »Keine andern Papiere, Pass oder Identitätskarte oder etwas Ähnliches?«
»Nein.« Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wusste, dass ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen bei mir hatte.
»Kommen Sie mit mir!«, sagte darauf der Mann.
»Wohin kommen?«, fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der Mann vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein Kontrabandboot gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen. Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rauf.
»Wohin? Das werden Sie gleich sehen.« Dass der Mann besonders freundlich gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die Heuerbaase sind ja nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten durchaus niemand kriegen können. Das also schien hier ein ganz wackeres Bötchen zu sein, auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell wieder auf einen Eimer kommen würde. Glück muss man haben und nur nicht immer gleich verzagen. Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation. Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war, fragte mich der Mann ganz trocken: »Keine Waffe? Keine Werkzeuge?« Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können. Als ob ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches und eine Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können! Aber so sind die Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe es versteckt; denn dass man das nicht besitzt, wonach sie suchen, das können sie nicht begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals wusste ich das noch nicht.
Dann hatte ich mich vor einem Schreibpult aufzustellen, an dem ein Mann saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher gestohlen. Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Fotografien waren. Der Mann, der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer, weil wir uns sonst nicht hätten verständigen können. Als sie unsre Jungens brauchten, im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt ist das längst vorbei, und da brauchen sie nichts mehr zu wissen.
Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah immer auf die Fotografien und dann auf mich, oder genauer, auf mein Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln wurden nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit, und die nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre mussten es ja bezahlen, warum sollte er sich da beeilen!
Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte er meine Fotografie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht erinnern, dass ich mich jemals in Antwerpen hätte fotografieren lassen. Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft, und ich sagte: »Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein Frühstück gehabt.«
»Das ist recht«, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden. Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz aufzubewahren. Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz bestimmt niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher nicht, no, Sir.
Ich möchte wissen, ob die Leute das wirklich Frühstück nennen. Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch nicht erholt. Was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, ein solches Krümchen müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt haben, weil es das Minimum an Qualität und Quantität ist, das man gerade noch Frühstück nennen kann, weil man das Stück früh bekommt.
Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht. »Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?«
»Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen und können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in Algier immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie können vielleicht Soldaten brauchen und mich, da ich ja keine Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für einen ihrer Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen Fall.«
»Wie denken Sie über Deutschland?«
Was die Leute alles von mir wissen wollen!
»Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.«
»Warum, Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie auch wieder leicht ein Schiff bekommen.«
»Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen nicht bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil ich doch keine Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht auch verwechseln, und ich müsste mit bezahlen. So viel kann ich ja als Deckarbeiter nie verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der Mittelklasse erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden.«
»Was reden Sie so viel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen oder nicht.«
Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint, dass sie viel Zeit haben und froh sind, dass eine Unterhaltung im Gange ist.
»Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland«, sagt der Hohepriester, und der Dolmetscher erzählte es mir wieder.
»Ich mag aber die Holländer nicht«, erwiderte ich, und ich will nun auch gleich erzählen, warum, als mir gesagt wird: »Ob Sie die Holländer mögen oder nicht, das geht uns hier gar nichts an. Machen Sie das mit den Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen. Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie auch nicht, das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach nach Holland. Fertig und Schluss. Eine andre Grenze haben wir nicht. Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbarn aussuchen, der vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins Wasser wollen wir Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige Grenze, die uns noch bleibt als letzte. Also nach Holland, und nun Schluss. Seien Sie froh, dass...
Erscheint lt. Verlag | 13.12.2023 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abenteuer • Antwerpen • Ausweis • Barcelona • Bürokratie • Europa • Flüchtling • Heizer • Heizkessel • Hölle • Identität • Identitätsdokument • Illegal • Joseph Conrad • Kapitalismus • Klassiker • Mario Adorf • Odyssee • Phantom • Profit • Roman • Seefahrt • Seemann • Seemannskarte • Soziale Ungerechtigkeit • Sozialkritik • Totenschiff • Untergang • Verfilmung Georg Tressler 1959 mit Mario Adorf • Versicherungsprämie • Weltbestseller |
ISBN-10 | 3-257-61356-3 / 3257613563 |
ISBN-13 | 978-3-257-61356-8 / 9783257613568 |
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