Die vergessenen Mädchen vom Lake Michigan (eBook)
220 Seiten
tolino media (Verlag)
978-3-7579-3429-3 (ISBN)
Marcus Ehrhardt, Baujahr 1970, wurde im niedersächsischen Diepholz geboren und wuchs in einem kleinen Ort inmitten des Landkreises auf. Seit 2022 lebt er mit seiner Freundin und der Kartäuserdame Felicitas im Schwäbischen nahe Stuttgart. Er ist Vater zweier durchaus gelungener, erwachsener Kinder, die auf bestem Wege sind, ihren Platz im Leben zu finden.
Marcus Ehrhardt, Baujahr 1970, wurde im niedersächsischen Diepholz geboren und wuchs in einem kleinen Ort inmitten des Landkreises auf. Seit 2022 lebt er mit seiner Freundin und der Kartäuserdame Felicitas im Schwäbischen nahe Stuttgart. Er ist Vater zweier durchaus gelungener, erwachsener Kinder, die auf bestem Wege sind, ihren Platz im Leben zu finden.
Kapitel 1
Juli 2015
Amy zitterte am ganzen Körper. Sie wusste nicht genau, was jetzt passieren würde, nur, dass es nichts Gutes wäre.
Mit einer Hand krallte sie sich an der abgenutzten Matratze fest, auf der sie gerade saß. Ein quälend ziehender Schmerz kroch ihren Arm hinauf.
Gedanklich ratterten die letzten Tage – oder waren es Wochen – durch ihren Kopf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie viele Nächte sie auf dieser durchgelegenen und versifften Unterlage verbracht hatte. Wie viele andere Mädchen wohl schon auf dem speckigen, nach Urin und Erbrochenem stinkenden Teil gelegen hatten? Wobei Amy nicht genau einordnen konnte, ob diese Gerüche tatsächlich von der Matratze herrührten oder ob ihr Verlies sie ausströmte. So jedenfalls kam ihr das karge, fensterlose, aus groben Steinen gebaute Zimmer vor. Wie in den Burgkerkern alter Ritterfilme, die sie früher zusammen mit ihren Eltern gesehen hatte. Ihre erste Nacht hier war ihr noch im Gedächtnis geblieben, wenn die Erinnerung daran auch langsam verblasste. In jeder weiteren Nacht durchlebte sie erneut einen Albtraum: Sie erduldete, wie sich ihr Entführer über sie hermachte. Fühlte die Ohnmacht, den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, wenn er in sie eindrang. Roch seinen Schweiß, der auf ihren nackten Körper tropfte, hörte sein stoßweises, abgehacktes Stöhnen, bis er endlich fertig war. Bis er schließlich genausoschnell aus ihrer spärlich ausgestatteten Behausung verschwand, wie er ohne Vorwarnung darin aufzutauchen pflegte.
»Pass auf, du verschüttest die Hälfte und versaust das Kleid!«, fuhr der Mann neben ihr sie an und holte sie damit zurück ins Hier und Jetzt. In der anderen Hand hielt sie unruhig ein mit einer trüben Flüssigkeit gefülltes Glas, das er ihr gereicht hatte. Es erinnerte sie an den Apfelsaft, den ihre Grandma im Herbst frisch presste. Was würde sie darum geben, jetzt mit ihr auf der Veranda zu sitzen und von den bevorstehenden Ferien zu schwärmen.
Stattdessen befand sie sich in der Hölle mit diesem Monster. Er war groß und seine breiten Schultern verdeckten die Leuchte an der gegenüberliegenden Wand, sodass er einen bedrohlichen Schatten auf sie warf. Wie ein unnachsichtiger Lehrer aus dem letzten Jahrhundert hatte er sich vor ihr aufgebaut, nur der Rohrstock fehlte. Er sah auf sie hinab und schlug unvermittelt mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf. Amy zuckte zusammen, bemüht darum, das Glas ruhig zu halten. Sie wollte nicht noch mehr davon verschütten. Auch ohne den Rohrstock durchfuhr sie ein stechender Schmerz vom Kopf bis zum Nacken.
Unter anderen Umständen hätte sie von sich aus darauf geachtet, das wirklich wunderschöne Sommerkleid mit den hell- und dunkelgrünen Diagonalstreifen, dem herzförmigen Ausschnitt und den kurzen Ärmeln nicht zu ruinieren. Auch die dazu passenden grasgrünen, flachen Schuhe hätte sie freiwillig angezogen. Sie hätte sogar den weißen Strohhut vom letzten Urlaub aus dem Kleiderschrank geholt und aufgesetzt, der das Outfit abgerundet hätte. Jedoch bereitete sich die 17-Jährige gerade nicht auf ein Date mit einem attraktiven jungen Mann vor, sondern durfte ihren gewalttätigen Entführer auf einen ›netten Ausflug‹ begleiten, wie er es hämisch grinsend ausdrückte. Im Glas wäre lediglich etwas zur Beruhigung, damit sie die Fahrt über keine Dummheiten machen würde. Als ob sie das wagen würde. Zu eindrücklich hatte er sie gleich zu Beginn spüren lassen, welche schmerzhaften Konsequenzen es für sie hatte, wenn sie ihm widersprach, wenn sie seinen Anweisungen nicht sofort Folge leistete.
»Warum muss ich das denn trinken? Ich verspreche, dass ich Ihnen keine Schwierigkeiten machen werde.« Sie sprach sehr schnell, in der Hoffnung, dass er sich nicht allzu sehr aufregte. Erneut erklang das dumpfe Geräusch, als seine Hand ihren Kopf traf.
»Entweder du kippst dir das Zeug jetzt rein und kannst vorn mitfahren, oder ich verpasse dir ordentlich ein paar in die Fresse und werfe dich in den Kofferraum. Trinkst du jetzt endlich?«
»Ja«, erwiderte Amy tonlos und atmete tief durch. Ein wenig entspannte sich daraufhin tatsächlich ihre Muskulatur und sie hielt das Glas ruhig. Obwohl zur Entspannung oder gar Entwarnung überhaupt kein Anlass bestand, denn sie ahnte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie von diesem ›netten Ausflug‹ niemals lebend zurückkehren würde. Doch welche Wahl blieb ihr? Sollte sie sich dem einen Kopf größeren Mann entgegenstellen und kämpfen? Selbst wenn sie nicht von der äußerst kargen und zudem einseitigen Ernährung der letzten Tage geschwächt gewesen wäre, ihre extreme körperliche Unterlegenheit erstickte sowieso jede noch so winzige Hoffnung im Keim. Die ihr in den vergangenen Tagen zugefügten Verletzungen taten ihr Übriges. So führte sie das Glas mit ihrer verbundenen Hand erneut zum Mund. Die Bewegung verstärkte die unaufhörlichen und pochenden Schmerzen in ihrer Hand, die sie seit Tagen quälten. Genaugenommen, seitdem er ihr lächelnd mit einer ruckartigen Bewegung die Finger überstreckt und wahrscheinlich einige Gelenke dabei ausgekugelt hatte, und so innerhalb einer Sekunde ihre komplette Karriere als Meistergeigerin zerstörte. Doch daran verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Die Geige, das Orchester, das Stipendium, das alles war so weit weg. Aus und vorbei. Das war Vergangenheit. Sie wollte nur hier raus. Zurück nach Hause zu ihren Eltern, ihrer Schwester, ihrer besten Freundin. Auf ihren Augen bildete sich ein Tränenfilm. Würde sie sie jemals wiedersehen?
Das Glas erreichte ihre Lippen. Die Flüssigkeit breitete sich mit einer leicht bitteren Note in Amys Mundraum aus, bevor sie kühl ihren Rachen hinunterrann. Es schmeckte nach stark verdünntem Grapefruitsaft. Sie trank erst langsam, dann immer schneller und schaffte es schließlich, das Glas in einem Zug zu leeren.
»Gut«, lobte er überschwänglich, als wäre sie ein Haustier, dem zum ersten Mal ein neu beigebrachter Trick gelang. »Und jetzt sei so gut und leg dich auf den Bauch.«
»Bitte nicht so fest«, wimmerte sie. So lief es immer. Er kam rein, herrschte sie an, meist von ein paar Schlägen begleitet. Dann befahl er ihr, sich den Slip herunter- und das Shirt über den Kopf zu ziehen, sich auf den Bauch zu drehen und still liegenzubleiben. Beim ersten Mal hatte Amy sich mit aller Kraft zu wehren versucht. Ihr Widerstand endete in einer Tracht Prügel, deren Ausmaß sie sich nicht hatte vorstellen können. So wären die Kids und Teenager in der Mitte des letzten Jahrhunderts noch gezüchtigt worden, hatte ihr Dad früher mal erzählt. Amy hatte sich immer gefragt, ob das denn wirklich so schlimm gewesen wäre oder ob ihr Vater damit nicht etwas dramatisierte. Jetzt wusste sie es.
»Halt den Mund!«
»Ja«, flüsterte sie und legte sich wie befohlen auf den Bauch. Doch sie trug noch ihren Slip und das Kleid reichte bis zur Mitte der Oberschenkel. Irgendetwas war anders. Vielleicht irrte sie sich und er wollte sie gehen lassen. Natürlich, das musste es sein. Sie könnte ihn eh nicht identifizieren, da er sein Gesicht stets hinter einer Skimaske verbarg und von Anfang an kam es ihr so vor, als würde er mit leicht verstellter Stimme zu ihr sprechen. Erst vermutete sie, er wollte streng klingen, um sie stärker einzuschüchtern. Als ob das nötig gewesen wäre! Jetzt klammerte sie sich daran, dass er das nur getan hatte, um nicht erkannt zu werden. Weil er sie gehen lassen wollte. Heute. Ein zarter Keim der Hoffnung spross in ihr.
»Dein Glück«, zischte er und packte ihren Unterschenkel. Er kniete sich neben Amy, woraufhin die Federn in der Matratze ächzten.
Seine Hand strich rau über ihre Haut. Sie spürte bei jedem seiner kräftigen Griffe, dass er entweder viel trainierte oder schwer arbeitete. Ganz anders als bei ihrem Dad, dessen Hände sich durch seine Arbeit im Büro und sein ambitioniertes Klavierspiel eher weich und zart angefühlt hatten. Als Amy im nächsten Moment ein metallisches Klirren hörte, befürchtete sie, er würde ihr mit dem Messer etwas antun, das er stets in einer Lederscheide am Gürtel trug. Mehrfach hatte er die furchteinflößende, glänzende Klinge gezogen und war mit dessen Spitze imaginäre Linien in Amys Gesicht und auf ihrem Oberkörper nachgefahren. Wiederholt fügte er ihr dadurch hauchdünne Schnitte zu, deren Schmerz sie wegen ihrer Angst kaum wahrnahm. Er könnte ihr binnen weniger Sekunden damit die Kehle aufschlitzen und sie jämmerlich verbluten lassen. Dazu fähig wäre diese Bestie mit Sicherheit.
Mitten im Gedanken gefangen löste sich das Rätsel, als sich nach einem Klicken der Eisenring von ihrem Knöchel löste und auf die Matratze fiel.
»Danke«, hauchte sie nur.
Der Mann wuchtete sich von der Matratze hoch, während er sie am Oberarm packte und mit sich hochzog.
»Halt die Klappe und beweg dich!«
Amy musste sich darauf konzentrieren, nicht hinzufallen. Allein schon, dass sie außer zwei Schritten täglich zum offenen Klo an der Wand gegenüber ihres Lagers und zwei Schritten wieder zurück seit Tagen nur gelegen hatte, sorgte für ein puddingähnliches Gefühl in ihren Oberschenkeln. Dass er sie unsanft in den Rücken stieß und damit in Richtung Tür lenkte, erschwerte es ihr zusätzlich, auf den Beinen zu bleiben. Schau einfach auf den Boden vor dir, sagte sie sich tonlos, dann wird er deinen guten Willen erkennen, dir nichts einprägen zu wollen.
Obwohl es nur ein paar Meter waren, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den stählernen Türgriff in der Hand hielt. Trotz der angenehmen Temperatur im Raum – eine Elektroheizung auf Rollen sorgte für bestimmt über 20 Grad Celsius – fühlte sich das Metall kalt auf der...
Erscheint lt. Verlag | 29.5.2023 |
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Reihe/Serie | Chicago Crime | Chicago Crime |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | CPD • Entführung • Psychothriller • Serienmörder • Thriller |
ISBN-10 | 3-7579-3429-6 / 3757934296 |
ISBN-13 | 978-3-7579-3429-3 / 9783757934293 |
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Größe: 367 KB
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