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Julia (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-4859-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Julia -  Sandra Newman
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Mit seinem berühmten Roman '1984' gelang George Orwell eine visionäre Dystopie über eine Welt der totalen Überwachung. Nun wird dieser Klassiker zu ganz neuem Leben erweckt - und aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur erzählt. Die gewitzte Mechanikerin Julia hat längst ihre ganz eigenen Strategien entwickelt, um in dem unmenschlichen Überwachungssystem zu überleben. Doch dann verliebt sie sich in Winston, und damit gerät alles aus den Fugen. Dieser eigentümliche Mann gibt Julia immer wieder Rätsel auf, und sollte ihre Liebe auffliegen, könnte sie das ihr Leben kosten. Allmählich verliert Julia jeglichen Halt in der ihr vertrauten Welt - und dabei gilt immer: Big Brother is watching you ...



<p><strong>Sandra Newman,</strong> geboren 1965 in Boston, hat bereits mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht. Ihre beiden auf Deutsch erschienenen Romane <i><b>ICE CREAM STAR</b></i> und <i><b>HIMMEL</b></i> (Matthes &amp; Seitz) waren große Presseerfolge. Sandra Newman war mit ihren Büchern u.a. für den Folio Prize, den Baileys Women's Prize for Fiction sowie den Guardian First Book Award nominiert. Sie lebt in New York.</p>

Sandra Newman, geboren 1965 in Boston, hat bereits mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht. Ihre beiden auf Deutsch erschienenen Romane ICE CREAM STAR und HIMMEL (Matthes & Seitz) waren große Presseerfolge. Sandra Newman war mit ihren Büchern u.a. für den Folio Prize, den Baileys Women’s Prize for Fiction sowie den Guardian First Book Award nominiert. Sie lebt in New York.

1


Mit diesem Mann aus der Abteilung Archiv fing alles an, diesem knurrigen, grimmigen Typen, der immer so von oben herab wirkte mit seinem Altdenkgehabe und absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zukommen würde. Syme nannte ihn nur Old Misery.

Er war Julia nicht wirklich fremd. Fiktion, Archiv und Recherche nahmen immer gemeinsam um dreizehnhundert die zweite Mahlzeit ein, und irgendwann kannte man halt jedes Gesicht. Aber er war bisher immer nur Old Misery gewesen, der Typ, der so aussah, als hätte er eine Fliege verschluckt, der mehr hustete, als dass er sprach.

Genosse Smith war sein richtiger Name, auch wenn »Genosse« nicht recht zu ihm passte. Und wenn einem schon unwohl dabei war, jemanden »Genosse« zu nennen, sollte man besser einen großen Bogen um diese Person machen.

Er war schlank und gutaussehend. Attraktiv – oder hätte es sein können, wenn er nicht immer so säuerlich aus der Wäsche geguckt hätte. Man sah ihn nie lächeln, es sei denn, er setzte das falsche Grinsen der Parteifrömmigkeit auf. Julia hatte einmal den Fehler gemacht, ihn anzulächeln; bei dem Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, wäre beinahe die Milch sauer geworden. Man erzählte sich, er leiste hervorragende Arbeit, könne jedoch nicht befördert werden, weil seine Eltern Unpersonen gewesen waren. Wahrscheinlich war er deswegen so verbittert.

Trotzdem war es nicht schön mitanzusehen, wie Syme ihn quälte. Syme arbeitete im Wahrheitsministerium in der Abteilung Recherche und entwickelte Neusprech-Wörter. Sie sollten den Geist des Volkes reinigen, aber vor allem war es unglaublich nervig, sie zu lernen. Die meisten Leute wurschtelten sich so durch, aber Old Misery Smith konnte nicht einmal ungut sagen, ohne dabei auszusehen, als würde es ihm den Mund verätzen. Syme nahm dies zum Anlass, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen und einen auf bester Freund zu machen, um ihn bei jeder Gelegenheit mit Neusprech zu überschütten und belustigt zuzusehen, wie der arme Kerl sich vor Unbehagen wand. Auch das öffentliche Hängen schlug Smith schnell auf den Magen, also erzählte Syme von den Hinrichtungen, denen er beigewohnt hatte, ahmte die Geräusche der strangulierten Männer nach und machte keinen Hehl daraus, wie sehr es ihm gefiel, wenn ihnen die Zunge aus dem Halse hing. Smith lief regelrecht grün an. Das war Symes Art von Humor.

Julia hatte nur einmal mit dem Mann gesprochen, als sie in der Kantine am selben Tisch gelandet waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Hoffnung auf ihn noch nicht aufgegeben. In Wahrheit gab es sonst kaum attraktive Männer, und sie dachte, sie könnte sich bestimmt in eine kleine Verknalltheit hineinsteigern und sich mit ihm die öden Tage versüßen. Also plauderte sie mit mehr Begeisterung als angemessen über den neuen Dreijahresplan und darüber, dass – dem Großen Bruder sei Dank – Fiktion glücklicherweise neue Mitarbeiter eingestellt hatte, und wie lief es denn so im Archiv?

Statt zu antworten, fragte er, ohne sie überhaupt anzusehen: »Du arbeitest also an einer der Romanschreibemaschinen?«

Sie lachte. »Ich repariere alles, was kaputtgeht, Genosse. Nicht nur eine Maschine. Das wäre ja ein schöner Apparat, den man den ganzen Tag lang reparieren müsste.«

»Ich sehe dich immer mit einem Schraubenschlüssel.« Sein Blick wanderte zu der roten Schärpe der Jugend-Antisex-Liga um ihre Taille, huschte dann aber hastig davon, als hätte der Anblick ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Julia konnte dem armen Kerl ansehen, dass er Angst vor ihr hatte. Er dachte wohl, sie würde ihn gleich wegen Sexkrim anzeigen – als könnte sie sehen, welche schmutzigen Fantasien er sich in seinem Kopf zurechtträumte!

Na gut, das schien also doch keinen Sinn zu haben. Schweigend aßen sie auf.

Der Tag, an dem sich alles änderte, war der Tag, an dem O’Brien der Abteilung Fiktion einen Besuch abstattete. Es war ein strahlendkalter Aprilmorgen, ein fieser Wind hatte ganz London beim Schopf gepackt, die Stadt rasselte und stöhnte. In O’Briens Anwesenheit verwandelte sich Fiktion in ein Irrenhaus – alle wollten zeigen, wie hart sie arbeiteten –, aber Julia hatte nichts zu tun. Sie verbrachte den ganzen Vormittag oben auf der Galerie und hielt vergeblich nach den gelben Fähnchen Ausschau, die ihr anzeigten, dass irgendwo ihr Reparaturservice benötigt wurde. Normalerweise schossen sie wie Pilze aus dem Boden, und Julia flitzte den ganzen Tag hin und her, stets begleitet von dem ewig gleichen Kanon: »Genossin, hier knirscht’s … Oh, jetzt nicht mehr. Könntest du trotzdem mal nachschauen?« Die meisten Reparaturanfragen waren nur ein Vorwand, um sich auf einen Schnack und einen Gin hinauszuschleichen, und Julia spielte stets mit, schaltete die fragliche Maschine ab und gab vor, nach der Ursache des Phantomproblems zu suchen.

Heute knirschte es nirgendwo. Alle hatten Angst davor, von O’Brien für Saboteure gehalten zu werden. Also verbrachte Julia den Morgen damit, die Galerie auf und ab zu wandern. Sie hatte Schmacht nach einer Kippe, doch ihr war klar, dass man sie mit einer Zigarette in der Hand einfach nur für faul und träge halten würde.

Fiktion war in einer riesigen, fensterlosen Fabrikhalle in den ersten beiden Untergeschossen des Wahrheitsministeriums untergebracht. Der Großteil der Halle wurde von der Romanschreibemaschinerie eingenommen – acht gigantische Maschinen, die von außen wie einfache Kästen aus glänzendem Metall aussahen. Doch wenn man sie öffnete, offenbarte sich eine verblüffende Ansammlung von Sensoren und Zahnrädern. Nur Julia und ihre Kollegin Essie wussten, wie man in ihrem Inneren herumkroch, ohne Schaden anzurichten. Der zentrale Mechanismus war das Kaleidoskop. Es bestand aus sechzehn Klauensätzen, die die Handlungselemente auswählten und zusammenfügten; Hunderte von Metalllettern wurden von den Klauen gegriffen und wieder verworfen, bis eine Gruppe gefunden war, die zusammenpasste. Dieses stimmige Muster wurde – auch wieder maschinell – zu einer magnetisierten Platte transportiert, die Platte daraufhin in eine Wanne mit Tinte getunkt, dann herausgeschwenkt und auf eine Papierrolle gestempelt. Die bedruckte Papierbahn wurde abgeschnitten und dann von einem Produktionsleiter von der Walze genommen.

Das Ergebnis war ein Rasterdruck, von den meisten im Scherz nur »Bingokarte« genannt, der die wesentlichen Elemente einer Geschichte kodierte: Genre, Hauptfiguren, Schlüsselszenen. Ein Mitarbeiter von Neuschreib hatte einmal versucht, Julia zu erklären, wie diese Karten zu interpretieren waren, aber vergeblich. Selbst nach fünf Jahren in der Abteilung hätten diese Karten für Julia genauso gut mit ostasiatischer Bilderschrift bedruckt sein können.

Jetzt beobachtete sie, wie ein Produktionsleiter einen neuen Druck von der Rolle nahm und herumwedelte, damit die Tinte schneller trocknete. Als er zufrieden war, rollte er den Druck zusammen, steckte ihn in einen grünen Zylinder und schob den Zylinder in einen Rohrpostschacht. Von ihrer Position aus konnte Julia beobachten, wie der Zylinder durch ein Gewirr von durchsichtigen Röhren an der Decke der Halle schoss und schließlich in eine Tonne am anderen Ende des Raumes plumpste. Dort war die Abteilung Neuschreib. Männer und Frauen saßen in langen Reihen nebeneinander, murmelten in ihre Sprechschreibs, verwandelten die Bingokarten in Romane und Geschichten. In dieser Phase waren keine Maschinen mehr am Prozess beteiligt, und Julia verlor das Interesse.

Ihre Begeisterung für die Romanschreibemaschinerie hingegen war ungebrochen, es faszinierte sie, wie sie funktionierte und was alles schiefgehen konnte. Sie wusste, aus welchen Chemikalien die Tinte bestand, und erklärte anderen nur zu gern, warum das Blau immer wieder Probleme bereitete. Sie wusste, wie das Papier gespannt wurde und was dazu führen konnte, dass es doch mal staute oder zerknitterte. Sie kannte den genauen Zeitpunkt, zu dem ein Teil ersetzt werden musste, und wusste, wie die Bestellung aufzugeben war, damit sie nicht vom Ausschuss für Investitionsgüter abgelehnt wurde. Aber über die Bücher, die Endergebnisse, wusste sie wenig, und sie waren ihr auch herzlich egal.

Einmal erzählte ihr ein Neuschreib-Typ, der früher richtig gerne gelesen hatte, dass es ihm genauso ging: »Man sagt, wenn man Wurst liebt, sollte man nie dabei zusehen, wie sie gemacht wird. Danach ekelt man sich nur noch. So geht’s mir mit Büchern.« Auf Julia traf das nicht zu. Sie hatte selbst schon Wurst hergestellt und sie dann gegessen, ohne mit der Wimper zu zucken. Einmal hatte sie sogar eine rohe Bratwurst verschlungen, um eine Wette zu gewinnen. Was allerdings Die Revolution siegt: Alles für den Großen Bruder und Kriegskrankenschwester VII: Larissa betraf, so musste sie ihm recht geben.

Während sie so untätig ihren Gedanken nachhing, fiel ihr auf, dass sie O’Brien die ganze Zeit beobachtet hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch die Halle, hielt spontane Reden, stellte Fragen und schenkte all den Arbeiterinnen und Arbeitern sein freundlichstes Lächeln. Diejenigen, die sich weiter entfernt von ihm aufhielten, standen mit gesenkten Köpfen und ausdruckslosen Mienen da. Sie gaben ihr Bestes, mit den Maschinen eins zu werden, was in vielen Fällen beeindruckend gut gelang. In O’Briens Nähe jedoch waren ihm die Menschen zugewandt, ihre Gesichter von ehrfürchtiger Hoffnung erfüllt, wie Blumen, die sich der Sonne entgegenreckten. O’Briens Anwesenheit hatte mehrere Personen von ihren Posten weggelockt. Sie versammelten sich um ihn, lauschten gebannt seinen Worten. Natürlich hatte eine Unterhaltung mit einem Mitglied der Inneren Parteiriege immer Vorrang vor der Arbeit....

Erscheint lt. Verlag 19.10.2023
Übersetzer Karoline Hippe
Sprache deutsch
Original-Titel Julia
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1984 • Aldous Huxley • Big Brother • Die Gabe • Dystopie • feministische Science-Fiction • Gegenwartsliteratur • George Orwell • Klassiker • Margaret Atwood • Naomi Alderman • Report der Magd • Überwachung
ISBN-10 3-7517-4859-8 / 3751748598
ISBN-13 978-3-7517-4859-9 / 9783751748599
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