Der Milchhof - Das Flüstern der Gezeiten (eBook)
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60552-6 (ISBN)
Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Die Autorin lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Regine Kölpin schreibt für namhafte Verlage (mit Gitta Edelmann auch unter dem Pseudonym Felicitas Kind) Romane, Geschenkbücher und Kurztexte. Ihre Bücher waren mehrere Wochen auf der SPIEGEL- Bestsellerliste. Regine Kölpin hat einige Auszeichnungen erhalten. Unter anderem den Bronzenen Homer 2020 (mit Gitta Edelmann), den Titel Starke Frau Frieslands 2011, das Stipendium Tatort Töwerland 2010 u.v.m. Sie gehört dem PEN-Zentrum Deutschland und den Autorenvereinigungen Delia(Liebesroman) und Homer (Historischer Roman) an. Mit ihrem Mann Frank Kölpin lebt sie in einem kleinen idyllischen Dorf an der Küste. Dort konzipieren sie gemeinsam Musik- und Bühnenprojekte und genießen ihr Großfamiliendasein mit fünf erwachsenen Kindern und mehreren Enkeln oder lassen sich auf ihren Reisen mit dem Wohnmobil zu Neuem inspirieren. Mehr Infos unter: www.regine-koelpin.de
Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (NRW), lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin hat zahlreiche Romane und Kurztexte publiziert und ist auch als Herausgeberin tätig. Regine Kölpin wurde mehrfach ausgezeichnet. Mit ihrem Mann lebt sie in einem kleinen idyllischen Dorf. Dort konzipieren sie gemeinsam Musik-und Bühnenprojekte und genießen ihr Großfamiliendasein mit fünf erwachsenen Kindern und mehreren Enkeln.
Kapitel 1
Januar 1920
Winzige Eiskristalle zierten das Schilfgras am Wegrand, das sich aber nur verhalten im seichten Wind wiegte, als fürchtete es, abzuknicken. Lina Bleeker kam es vor, als würde sich selbst die Natur noch vorsichtig zeigen, weil sie dem Frieden, der seit zwei Jahren wieder in Europa herrschte, nicht traute. Denn es war kein wirklicher Frieden. Eher ein Konstrukt, das auf maroden Pfählen gebaut war und bei der kleinsten Erschütterung zusammenzubrechen drohte.
Immerhin hatten sie hier in der Friesischen Wehde diesen schlimmen Krieg einigermaßen schadlos überstanden. Jedenfalls, was die Gebäude anging. Viele Familien jedoch waren auseinandergerissen worden, hatten Väter und Söhne verloren, und diese Lücken konnten durch nichts gefüllt werden.
Es würde Zeit brauchen, bis sich die Wunden verschlossen, auch wenn Narben blieben, die vermutlich noch oft aufplatzten und erneut bluteten.
Wie lange würde es dauern, bis die Menschen wieder Vertrauen zum Leben bekamen?
Lina seufzte. Sie hoffte trotz allem auf Besserung. Gleichgültig, welche Verträge die anderen Staaten mit dem verhassten Deutschland machten und wie sehr sie das Land nach Kriegsende knebelten. Es musste doch wieder bergauf gehen! Gestern, am 10. Januar, war der Versailler Vertrag mit allen Konsequenzen in Kraft getreten. Was auf sie zukam, hatten sie schon gewusst, weil die Absegnung lange zuvor erfolgt war. Doch nun war es beschlossen, und sie mussten damit zurechtkommen.
Die meisten Deutschen lehnten den Vertrag ab, denn die Bevölkerung durfte nun zusehen, wie sie mit all den Knebeln und Bestimmungen zurechtkam. Das betraf auch den Milchhof Bleeker.
Hinzu kam die Schmach, die viele Deutsche angesichts der Forderungen empfanden, selbst liberale Politiker hießen das nicht gut. Die extremeren aber nutzten alles für sich und waren sich einig, dass die Kommunisten und Staatsfeinde sowie die Juden ihre Finger im Spiel gehabt hatten – einzig, um Deutschland zu schaden. Diese Dolchstoßlegende, von der Obersten Heeresleitung in die Welt gesetzt, machte immer schneller die Runde, und sie wurde immer stärker ausgeschmückt, sodass viele Menschen daran glaubten.
Lina sah das alles skeptisch, mochte so nicht urteilen, und eigentlich interessierte sie auch nur, welche Konsequenzen auf den Milchhof zukamen.
»Wir schaffen auch das und lassen uns nicht unterkriegen«, flüsterte sie. »Ich habe noch nie aufgegeben. Noch nie!« Lina wickelte sich den Schal fester um den Kopf, denn die Luft war zum Schneiden kalt. Aber sie hatte rausgemusst, um nachzudenken und den Kopf frei zu bekommen. Frische Luft und tief durchatmen halfen immer.
Die Marsch erstreckte sich vor Lina, sie konnte allerdings den Geestrücken der Friesischen Wehde schon gut erkennen. So weit würde sie nicht laufen, das kurze Stück reichte, damit sie wieder klar denken konnte. Es waren ja nicht nur die Sorgen um den Betrieb, die Lina zusetzten.
Auch ihre Söhne Wilko und Ludger machten ihr großen Kummer. Wilko, inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, war in den letzten Kriegstagen nach Hause gekommen – und hatte sein rechtes Bein verloren. Sein bester Freund war tot, direkt neben ihm von einem Geschoss zerfetzt. Mehr wusste Lina nicht. Nur dass Wilko Nacht für Nacht von seinen Erinnerungen aufgefressen wurde. Wilde Tiere, die als Gedanken getarnt über ihn herfielen und ihn quälten.
Und Ludger? Ihr kleiner Ludger, der doch eigentlich Bankier hatte werden wollen, bevor ihm der Kriegswahnsinn das Gehirn vollkommen vernebelt und schließlich verschluckt hatte? Ludger lebte seit der Rückkehr von der Westfront in seiner eigenen Welt. Er lieferte sich nachts einen choralen Wettstreit im Gebrüll mit dem älteren Bruder. Äußerlich unverletzt, aber die Seele offenbar mehrfach durchlöchert. Und sie als Mutter konnte sich das nur hilflos mit ansehen. Dieser Krieg hatte nicht nur viele Menschenleben gekostet, auch die eigentlich Unversehrten waren zerstört.
Wäre Derk Voigt, ihr alter Freund und Obermeier auf dem Milchhof Bleeker, nicht wie eh und je ein Fels in der Brandung und stets an ihrer Seite, zurück nach Ellenserdammersiel gekommen, wäre Lina inzwischen vollkommen verzweifelt. Seine Ruhe und sein unerschütterlicher Glauben an sie und den Milchhof gaben ihr Kraft.
Lina ließ ihre Fingerspitzen über einen der Halme streifen. Die Ähre war braun, der Stängel vergilbt. Doch sie hatten den Winter fast überstanden.
Vorsichtig strich Lina die Eiskristalle von der Spitze ab. Erst war es kalt, doch dann schmolz der Reif, und sie spürte die Nässe auf ihrer Haut.
Lina huschte unwillkürlich ein Lächeln übers Gesicht. Auch ihre Probleme würden verschwinden. Genau wie das Eis zu Wasser wurde, wenn nur die Sonne länger darauf schien.
»Jetzt kann ich wieder zur Molkerei zurückgehen«, sagte Lina zu sich. »Jetzt habe ich wieder Kraft und Mut. Was doch das Schmelzen eines einzigen Kristalls vermag.«
Sie wandte sich um und lief zum Milchhof, wo sie von den vertrauten Geräuschen und Gerüchen empfangen wurde, die sie so sehr liebte.
Es war das Scheppern der Milchkannen, das Klirren der Glasflaschen, das beruhigende Geräusch der Käseharfe und das ewige Brummen der Dampfmaschine, von der sie sich trotz der Elektrizität nicht hatte trennen mögen. Diese Maschine gab ihr die nötige Sicherheit. Gleichgültig, wie sich die Versorgungslage auch darstellen mochte: Sie hatten Strom. Sämtliche Geräusche wurden umhüllt vom süßlichen Duft der Milch, den Lina von Kindesbeinen an so sehr genoss. Allein wenn sie sich vorstellte, wie sich das sämige Weiß drehte, wenn sie zu rühren begann. Welche Köstlichkeiten sie aus der Milch herstellen konnte.
Aus der Käsefertigung kam Lina ihre Tochter Alea entgegen.
»Moin!« Sie war stets früh auf den Beinen, und beide hatten sich heute noch nicht gesehen.
»Moin, min Söten«, begrüßte Lina ihr Kind. »Gibt es Neuigkeiten?«
Alea nickte. »Erzähl ich dir gleich.« Sie wandte den Kopf und entdeckte eine der Molkereigehilfinnen, die mit den Klotschen aus der Fertigungshalle über den Hof lief. »Ich muss nur kurz …« Alea rannte auf das Mädchen zu und maßregelte sie. Hygiene war in einer Molkerei das höchste Gebot! Darauf mussten sie achten, auch wenn immer wieder versucht wurde, nachlässig damit umzugehen, weil Sauberkeit unbequem war und Mehrarbeit bedeutete.
Linas Tochter zählte inzwischen dreiundzwanzig Lenze und war ihrer Mutter zu einer echten Unterstützung im Betrieb geworden. Ohne Alea wären die Kriegsjahre für Lina zu einer noch schlimmeren Belastungsprobe geworden, zumal ihr Derks Frau Talke und ihr Mitstreiter gegen den Milchhof, der Sozialist Karl Doden, das Leben unendlich schwer gemacht hatten. Das war nun hoffentlich vorbei, denn Karl war gleich nach dem Krieg ohne Abschied bei Nacht und Nebel verschwunden. Lina müsste lügen, wenn sie nicht froh darüber wäre, und sie hoffte, dass er nie wiederauftauchte.
Und Talke?
Talke hatte in all den Jahren eine Wendung gemacht, die Lina lange nicht durchschaut hatte. Geheiratet hatte Derk eine graue Maus, bei der er Zuflucht und Ruhe hatte finden wollen. Aber das Schicksal konnte grausam sein. Erst war ihr Sohn Onno bei der Geburt gestorben, weil die Hebamme nicht ihr, sondern Linda bei deren schwerer Geburt beigestanden hatte. Und dann musste Talke feststellen, dass sie es nie schaffen würde, das Herz ihres Mannes wirklich zu gewinnen, denn es war an sie, Lina Bleeker, vergeben.
Sie fand es erschreckend, zu welchen Taten der Hass einen Menschen treiben konnte. Erst waren es nur kleine Intrigen gegen Lina und die Molkerei gewesen, zu denen Talke auch noch von Linas verstorbenem Mann Thees verleitet worden war. Doch als das nichts fruchtete und ihr deutlich wurde, dass sie auf ganzer Linie verloren hatte, war sie zu einer Frau geworden, die nur noch ihre Vorteile sah und ihre Zufriedenheit daran ausmachte, dass es Lina schlecht ging. Dafür tat Talke alles und scheute vor nichts zurück. Nicht einmal vor der eigenen Erniedrigung.
So manches Mal hatte Lina deshalb ein schlechtes Gewissen. Sie trug an dieser Verwandlung große Mitschuld, weil sie und Derk …
Aber ändern konnte sie auch nichts mehr an der Situation. Gegen große Gefühle herrschte eben große Machtlosigkeit.
»Bitte...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2023 |
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Reihe/Serie | Milchhof-Saga |
Milchhof-Saga | Milchhof-Saga |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Familiensaga • Frauenschicksal • Industrialisierung • Kampf für Frauenrechte • Liebe • Milch • Molkerei • Nordsee • Starke Frauen • unglückliche Liebe |
ISBN-10 | 3-492-60552-4 / 3492605524 |
ISBN-13 | 978-3-492-60552-6 / 9783492605526 |
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