K (eBook)
480 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77589-9 (ISBN)
Serge Karrefax erblickt im ländlichen England kurz vor der Jahrhundertwende das Licht der Welt - und mit seinem Schicksal verwoben gleichsam das Zeitalter der Technologie und Kommunikation. Als Funker im Ersten Weltkrieg fliegt er über Frankreich, hofft im Londoner Untergrund der Swinging Twenties mithilfe technologischen Fortschritts die Toten anzufunken, und hilft schließlich im gerade unabhängig gewordenen Ägypten ein Funknetz zu errichten - bis sein Leben in einer altägyptischen Grabkammer eine unerwartete Wendung nimmt.
Kommunikation, Krieg, Kokain, Krypta: K untersucht gnadenlos, unser Verlangen uns mitzuteilen, während Serge K. die Botschaft hinter allen Botschaften, das Signal hinter allen Signalen sucht. Dieses singulär originelle Buch selbst aber widersteht allen Versuchen, seinen Code zu knacken.
Tom McCarthy, geboren 1969, ist Schriftsteller, Künstler und Generalsekretär der International Necronautical Society, einem semi-fiktiven Avantgarde-Netzwerk. Er hat zahlreiche Essays, Erzählungen und Romane veröffentlicht, die in 25 Sprachen übersetzt und für Kino, Theater und Radio adaptiert worden sind. Für sein Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, u. a. den ersten Windham-Campbell-Literaturpreis. McCarthy lebt mit seiner Familie in Berlin.
1
I
Dr. Learmont, frisch zugelassener Arzt für die Bezirke West Masedown und New Eliry, schwankt und schaukelt auf dem Vordersitz eines Einspänners, der über den sanft abfallenden Weg auf das Haus Versoie zurollt. Sein Gesäß tut ihm weh: Der Sitz ist hart und nicht gepolstert. Sein Begleiter, Mr Dean vom Lieferdienst Hudson and Dean (Lydium und Umgebung seit 1868), scheint unter keinerlei Unannehmlichkeiten zu leiden. Der glasige Blick ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet, die ledrigen Hände, Zügel um die Finger geflochten, schweben dicht über den Knien. Vom hinteren Kutschteil steigt das Klirren von Glasflaschen auf sowie ein mahlendes Geschabe von Kupferdraht an Kupferdraht, Laute, die zusammen mit dem Geräusch über Kies zockelnder, klappernder Pferdehufe unbeirrt in der stillen Septemberluft hängen. Hohe Koniferen, gerade und reglos wie Säulen, überragen das Gefährt. Höher noch und weiter fort schwirren schwarze Vögel lautlos unter konkavem Himmelsgewölbe.
Mit den Beinen umklammert der Arzt einen braunen Koffer nebst schwarzem Inhalationsapparat. In der Hand hält er einen gelben Zettel. Verwirrt studiert er ihn, so gut er kann. Gelegentlich schaut er auf, um durch den Koniferenvorhang zu blicken, der kurz die Sicht auf gemähten Rasen und einige Reihen Bäume mit weißen Früchten und grünrotem Laub freigibt, sie dann aber gleich wieder verbirgt. Um die Bäume ist Bewegung: Kleine Gliedmaßen recken sich, berühren und lösen sich voneinander in halb stetigem Rhythmus, so als übten sie Kraul- oder Brustschwimmen.
Der Einspänner fährt durch tief hängende Holzrauchschwaden, biegt dann ab und lässt die Koniferen hinter sich. Learmont kann jetzt erkennen, dass die Gliedmaßen Kindern gehören, vieren oder fünf, die in irgendein Spiel vertieft sind. Sie stehen in lockerem Kreis, heben die Arme und klatschen in die Hände. Die Lippen bewegen sich, nur dringt kein Laut hervor. Manchmal hallt ein meckerndes Lachen über die Obstwiese, doch lässt sich kaum sagen, von welchem Kind es kommt. Das Lachen klingt auch irgendwie nicht richtig, seltsam verzerrt und schief – fast als käme es von einem Bauchredner oder würde von irgendwoher eingespielt. Keines der Kinder scheint Learmonts Ankunft zu bemerken, ja, keines scheint sich der eigenen Präsenz außerhalb und jenseits des sich bewegenden Kreises bewusst zu sein, so als ginge ihr isoliertes Dasein ganz in der körperbetonten Choreographie vervielfachter, ineinander verschlungener Leiber auf.
Ohne an den Zügeln zu ziehen oder dem Pferd etwas zuzurufen, bringt Mr Dean den Einspänner zum Stehen. Daneben, rechter Hand, fließt ein schmaler, stiller Bach vor einer hohen Mauer, die, von der anderen Seite her, mit Farn und Glyzinien überwuchert ist. Zur Linken der Kutsche klammert sich ein verästeltes Gebüsch von Rosenstängeln und -zweigen an eine zweite Mauer. Dahinter kommt der Holzrauch hervor, ebenso ein alter Mann mit einem Rechen, der aus einer Tür in der Mauer tritt und eine Karre vor sich her über den Kies schiebt.
»Hallo!«, ruft Learmont ihm zu. »Hallo?«
Der alte Mann bleibt stehen, setzt die Schubkarre ab und schaut hinüber zu Learmont.
»Können Sie mir sagen, wo ich das Haupthaus finde? Den Eingang?«
Der alte Mann gestikuliert mit der freien Hand: Dort drüben. Dann umfasst er wieder die Griffe der Karre und schlurft an der Kutsche vorbei zur Obstwiese. Learmont lauscht den verklingenden Schritten nach. Schließlich dreht er sich zu Mr Dean um und sagt: »Schweigt wie ein Grab.«
Mr Dean zuckt die Achseln. Dr. Learmont steigt ab, betritt den Kies, schüttelt die Beine aus und blickt sich um. Der Alte schien hinter die überwucherte Gartenmauer gezeigt zu haben. In der findet sich ebenfalls eine schmale Tür.
»Warten Sie doch einfach hier«, schlägt er Mr Dean vor. »Ich gehe und suche …«, er hält den gelben Zettel hoch, um ihn erneut zu studieren, »diesen Mr Karrefax.«
Mr Dean nickt. Dr. Learmont nimmt seinen Koffer sowie den Inhalationsapparat und betritt die kleine Holzbrücke über den burggrabenähnlichen Bach. Dann taucht er mit dem Kopf unter den Glyzinien hindurch, denen es aber gelingt, ihn flüchtig zu streifen, ehe er durch die Türöffnung tritt.
Im Garten wachsen Margeriten, Iris, Tulpen und Anemonen kunterbunt durcheinander und dicht gedrängt auf beiden Seiten eines Pfads unebener Mosaikfliesen. Learmont folgt ihm bis zu einem von Hecken geformten Durchgang mit einem Spalierdach, überzogen von Giftbeeren und einem drahtigen, hellbraunen Gewächs, dessen Ranken sich zu Gebäuden schlängeln, bei denen es sich offenbar um Ställe handelt. Als Learmont dem Durchgang näher kommt, hört er ein leises Summen. Er bleibt stehen und lauscht. Es scheint aus den Stallungen zu dringen: ein pulsierendes, mechanisches Gebrumm. Learmont überlegt hineinzugehen und die Leute an den Maschinen nach dem Weg zu fragen, sagt sich dann aber, dass die Motoren vermutlich aus eigener Kraft laufen, weshalb er beschließt, dem Pfad weiter zu folgen, der nun nach rechts abbiegt und sich, nachdem Learmont erneut eine Tür in einer Mauer passiert hat, zu einem Irrgarten verzweigt, der sich über einen Rasen ausbreitet, ehe er an einer weiteren Mauer endet, durch die wiederum eine Tür führt. Learmont schreitet über den Rasen und öffnet diese dritte Tür, die ihn an den Rand jener Obstwiese bringt, die er schon bei der Ankunft bemerkt hat. Der breite, sanft abfallende Kiesweg, über den er mit Mr Dean gefahren ist, zieht sich auf der anderen Seite der Obstwiese entlang, halb verborgen hinter den Koniferen; der schmalere Weg, auf dem er nun steht, liegt rechtwinklig davon zwischen der Gartenaußenmauer und dem unteren Rand der Obstwiese. Die Kinder sind noch da, vertieft in ihre stumme Pantomime. Learmont lässt den Blick an ihnen vorbeiwandern. Die Reihen kleiner, weiße Früchte tragender Bäume weichen ungepflegtem Rasen, der nach gut fünfzig Metern in eine Weide übergeht, auf der vereinzelt Schafe grasen. Die Weide steigt an zu einem Hügelkamm, über den bis zu seinem Rand eine Telegraphenleitung verläuft, dann abfällt und sich dem Blick entzieht.
Learmont schaut noch einmal auf den Zettel, wendet sich nach links und folgt dem Weg entlang der äußeren Gartenmauer – bis er an seinem Ende schließlich auf das Haus stößt.
II
Er läutet die Glocke, tritt zurück und blickt am Gebäude hinauf. Die Fassade ist mit Efeu überwachsen. Noch einmal läutet er und legt ein Ohr an die Tür. Diesmal hat ihn jemand gehört: Schritte kommen näher. Ein Dienstmädchen öffnet. Sie sieht etwas aufgelöst aus, die Ärmel hochgerollt, Hände und Stirn feucht. Ein Mädchen von drei, vier Jahren steht im Hintergrund, ein Tuch in der Hand. Beide, Kind wie Dienstmädchen, schauen auf Learmonts Koffer und den Inhalationsapparat.
»Sie wollen was bringen?«, fragt das Dienstmädchen.
»Nun, na ja … gewissermaßen«, antwortet er und hält den Zettel hoch. »Ich soll hier …«
Ein Mann taucht aus dem Haus auf und drängt sich an Kind und Dienstmädchen vorbei.
»Zink und Selenzellen?«, blafft er.
»Sind im Einspänner«, erwidert Learmont. »Aber ich bin eigentlich gekommen, um …«
»Und die Säure? Die Kupferrollen?«, unterbricht ihn der Mann. Er ist von stattlicher Figur, hat eine dröhnende Stimme und dürfte um die vierzig, vierundvierzig sein. »Gekommen – um was?«
»Ich bin hier, um ein Kind zur Welt zu bringen.«
»Gekommen, um … ach so, ja! Bringen, natürlich! Ausgezeichnet! Sie können … Ja, warten Sie … Maureen zeigt Ihnen, wo … Sie sagten, die Kupferrollen sind in der Auffahrt?« ...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2023 |
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Übersetzer | Bernhard Robben |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Ägypten • aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Buchstabe K • C deutsch • Cover • Der Dreh der Inkarnation • England • Erster Weltkrieg • Forschung • Funknetz • Jahrhundertwende • KA • kae • Key • Kommunikation • London • London Greater London • McCarthy K • neongrün • Neuerscheinungen • neues Buch • Roaring Twenties • Satin Island • Serge Carrefax • Serge Karrefax • ST 5347 • ST5347 • suhrkamp taschenbuch 5347 • Swinging Twenties • Technologie • Telekommunikation • Unabhängigkeit Ägyptens • Wissenschaft • Zwanzigerjahre |
ISBN-10 | 3-518-77589-8 / 3518775898 |
ISBN-13 | 978-3-518-77589-9 / 9783518775899 |
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