Ein Koffer voller Mörder: Krimi Koffer 11 Krimis auf 1000 Seiten (eBook)
1000 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-7283-2 (ISBN)
Shona McGill machte einen langen Hals, denn sie hörte das satte Knattern eines schweren Polizei-Motorrads. Shona stand vor der Polizeischule von Inverness. Soeben hatte sie ihren letzten Unterrichtstag beendet, nun musste sie noch die offizielle Abschlussfeier hinter sich bringen.
Doch den Gedanken an das höchstwahrscheinlich verkrampfte Ereignis schob sie einstweilen von sich, denn nun bog die Maschine um die Ecke. Shona bekam große Augen, als sie das blitzblank geputzte Zweirad erblickte. Der Kollege im Motorradsattel hob grüßend seine behandschuhte Rechte. Shona winkte mit einer leichten Zeitverzögerung zurück. Sie musste sich erst daran gewöhnen, dass sie von nun an ein vollwertiges Mitglied der Northern Constabulary – der nordschottischen Polizei – war. Sie blickte neidisch hinter dem Motorrad her, bis das Rücklicht nicht mehr zu erkennen war.
„Träumst du schon wieder?“
Die Stimme von Julia Braddock ertönte hinter Shona. Sie drehte sich langsam um. Auch Julia trug die dunkelblaue Uniform, doch im Gegensatz zu der rotblonden Shona wirkte die dunkelhaarige Julia wie aus dem Ei gepellt. Auf ihren Schuhen war nicht ein einziges Staubkorn zu erkennen, und die Bügelfalten waren messerscharf. Im Vergleich zu ihrer Zimmerkameradin aus der Polizeikaserne kam sich Shona klein und unbedeutend vor – und das sogar im Wortsinn. Julia war rund eine Handbreit größer als Shona, die bei der Einstellungsuntersuchung nur ganz knapp die vorgeschriebene Mindestgröße für Polizistinnen erreicht hatte.
Außerdem war Julia Jahrgangsbeste unter den Polizeischülern, während Shona mit ihren Leistungen nur im hinteren Drittel lag. Das konnte aber auch daran liegen, dass sie oft auf Krawall gebürstet war und ihren Ausbildern Widerworte gab, während Julia sich überall Liebkind machte.
Die beiden so unterschiedlichen jungen Frauen mussten sich in ihrer Zwangsgemeinschaft irgendwie zusammenraufen, aber richtige Freundinnen würden sie wohl nie werden – jedenfalls wenn es nach Shona ging. Julia war ihr gegenüber unverbindlich nett, wie zu allen Kollegen und Vorgesetzten. Doch Shona war sicher, dass Julia sie im Grunde ihres Herzens nicht ausstehen konnte. Trotzdem lächelte Shona nun, denn sie würde Julia wohl so bald nicht wiedersehen.
„Klar, meinen großen Traum lasse ich mir nicht nehmen, Julia. Die Motorradstaffel – dort will ich hin.“
Die dunkelhaarige Polizistin hüstelte gekünstelt.
„Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist? Das Auswahlverfahren für diesen Dienst soll knallhart sein, habe ich gehört.“
„Und du meinst, ich würde sowieso versagen? Weil ich nicht Jahrgangsbeste bin, so wie du?“
„Das meinte ich nicht.“ Julia blieb katzenfreundlich. Sie legte sogar ihre Hand auf Shonas Unterarm. „Ich würde es nur schade finden, wenn du enttäuscht wirst. Wir haben uns doch in den letzten Jahren so gut kennengelernt ...“
Das Lächeln verschwand von Shonas Gesicht.
„Nein, Julia. Das haben wir nicht. Du weißt nichts von mir. Ich habe dir schon in der ersten Ausbildungswoche erzählt, dass ich zur Motorradstaffel will. Aber du hast das nie ernst genommen. Klar, wahrscheinlich dachtest du, ich würde die Polizeischule sowieso nicht packen.“
„Beim Pistolenschießen hast du die Mindestanforderungen erst beim dritten Versuch geschafft. Und bei der Klausur in Rechtskunde hat Ian dich bei sich abschreiben lassen, sonst wärst du durchgerasselt.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst“, sagte Shona ironisch. „Hast du darüber Buch geführt? – Nun schau nicht so empört, ich bin nicht sauer auf dich. Obwohl ich immer noch glaube, dass du mich beim Commander verpfiffen hast, als ich mich nachts weggeschlichen habe, um Party zu machen.“
„Das war ich nicht, Ehrenwort!“
„Wie auch immer – natürlich ist das Auswahlverfahren die Hölle auf Erden. Die Motorradstaffel, das ist nun mal nicht irgendein öder Dienst auf einer Langweiler-Wache. Aber was du vielleicht nicht weißt: Man kann Pluspunkte sammeln, bevor man sich dort anmeldet.“
Julia war ganz Ohr. Mit Pluspunkten kannte sie sich aus, schließlich hatte sie sich in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Gefälligkeiten ganz nach oben geschleimt. Aber von dieser Sache schien sie nichts zu wissen. Shona war stolz, dass sie Julia wenigstens einmal etwas voraus hatte. Dabei war sie sicher, dass sich Julia keinesfalls selbst für die Motorradstaffel bewerben würde. Die dunkelhaarige Polizistin wollte hoch hinaus, daran zweifelte Shona nicht. Wahrscheinlich sah sie sich in ihren Wunschvorstellungen schon als ersten weiblichen Superintendent – und somit als die oberste Beamtin der Northern Constabulary.
„Pluspunkte? Und wie?“
Julia bemühte sich, nicht allzu neugierig zu klingen. Dennoch brachte ihr Gesichtsausdruck Shona erneut zum Grinsen.
„Ganz einfach. Ein altgedienter Kollege von der Motorradstaffel hat mir den Trick verraten. Man muss zuvor ein Jahr lang auf dem ödesten und unbeliebtesten Posten von ganz Nordschottland Dienst schieben. Dort, wo sonst garantiert niemand hin will. Wenn man diese Zeit überstanden hat, wird die Bewerbung mit großem Wohlwollen geprüft. Und genau so werde ich es machen.“
„Wohin willst du dich denn versetzen lassen?“
Julias Frage war ernst gemeint, sie schien es wirklich nicht zu wissen. Das wunderte Shona nicht, denn Julia selbst hatte schon ihren Einsatz in dem angenehmsten und friedlichsten Polizeidistrikt weit und breit eingefädelt. Die Jahrgangsbeste würde die Polizeiwache in einem vornehmen Villenviertel von Glasgow mit ihrer Anwesenheit beehren. Dort, wo man bei der Fußstreife noch nicht einmal Hinterlassenschaften von Schoßhündchen auf dem Gehweg fand.
„Ich lasse mich nach Finnsay versetzen, Julia.“
„Nie gehört.“
„Was, du als Jahrgangsbeste kennst Finnsay nicht? – Okay, ich selbst musste auch erst einmal im Atlas nachschauen. Finnsay gehört zu den Shetland-Inseln. Mehr weiß ich über das Eiland auch nicht.“
„Ist deine Bewerbung schon genehmigt?“
„Selbstverständlich. Die Personalabteilung konnte es kaum glauben, dass jemand Finnsay als Wunsch-Einsatzort angegeben hat. Sonst scheint die Insel sich wohl eher für Strafversetzungen zu eignen. Das ist meine Meinung.“
„Ich wünsche dir jedenfalls viel Erfolg dort oben, Shona“, meinte Julia mit ihrem üblichen falschen Lächeln. „Sehen wir uns bei der Abschlussfeier?“
Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dachte Shona. Aber sie nickte einfach nur. Warum sollte sie jetzt noch einen Streit mit Julia vom Zaun brechen? Die Jahrgangsbeste eilte davon. Vermutlich traf sie sich mit ihrem Freund, der gewiss genauso perfekt und pflegeleicht war wie sie selbst. Shona hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, aber nach dem Foto über Julias Bett zu urteilen war er ein absoluter Traumtyp.
Shona hatte keinen Freund.
Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an Julia nehmen, dachte sie in einem Anfall von plötzlicher Verzagtheit. Shona war oft kratzbürstig und ungeduldig. Dean hatte sich davon irgendwann vergraulen lassen. Sie war ein halbes Jahr mit ihm zusammen gewesen, als sie mit der Polizeischule angefangen hatte. Obwohl – was war dieser Typ überhaupt wert? Er hatte ihre Zukunftspläne nie für voll genommen und immer nur blöde Sprüche über die Polizei im Allgemeinen und Shona im Besonderen geklopft. Hätte er sie nicht unterstützen können? Gerade die ersten Monate der Ausbildung waren alles andere als leicht für sie gewesen. Shona war innerlich nicht so gestrickt, dass sie gejammert hätte. Doch insgeheim hatte sie damals auf Deans Beistand gehofft – allerdings vergeblich.
Shona hatte ihre Reisetasche schon gepackt, denn bereits am nächsten Morgen wollte sie die Fähre nach Finnsay nehmen. Das bot ihr einen willkommenen Vorwand, nicht allzu lange auf der Abschlussfeier bleiben zu müssen. Mit einigen Leuten aus der Polizeischule verstand sich Shona besser als mit Julia, aber wirklich schwer fiel ihr der Abschied nicht. Sie eckte leicht an und war alles andere als diplomatisch. Das hing allerdings auch mit ihrem großen Sinn für Gerechtigkeit zusammen, der letztlich für ihre Berufsentscheidung den Ausschlag gegeben hatte.
Doch wenn so ein stromlinienförmiger Charakter wie Julia Braddock viel mehr Erfolg hatte als sie selbst, dann war die Polizeiausbildung vielleicht ein Fehler gewesen. Shona schüttelte den Kopf, als müsse sie einen bösen Traum abschütteln. Sie hatte in letzter Zeit zu viel gepaukt, das lag ihr nicht. In Finnsay begann ein neuer Lebensabschnitt für sie. Der Polizeischule weinte sie jetzt schon keine Träne nach.
*
Am nächsten Morgen herrschte strahlender Sonnenschein. Shona wurde von ihrer Mutter zum Hafen gebracht. Victoria McGill war extra aus Edinburgh angereist, um ihrer Tochter Good Bye zu sagen. Wenigstens hatte Shona verhindern können, dass ihre Mom auf der Abschiedsfeier am Vorabend...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7389-7283-8 / 3738972838 |
ISBN-13 | 978-3-7389-7283-2 / 9783738972832 |
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