Die magische Bombe tickte.
Sie lag im Rucksack eines dunkel gekleideten Mannes, der zusammen mit seinem Komplizen durch die langen Gänge des Palastes schritt. Niemand beachtete die beiden, denn in dem hektischen Durcheinander aus Dienstboten, Lieferanten und Soldaten gingen sie einfach unter.
Sie erreichten den Thronsaal. Kurz sahen sie sich um, aber auch hier achtete niemand auf sie. Vorsichtig nahm der dunkel gekleidete Mann den Rucksack von seinen Schultern. Ein weiterer sichernder Blick, dann verschwand der Lederbeutel unter einer reich verzierten Holztruhe. Wortlos drehten sich die beiden Männer um und verließen den Saal. Um sie herum bereiteten die Diener alles für die offizielle Ernennung des Meisterzauberers von San vor. Man erwartete zahlreiche Gäste. Darunter auch zwei Menschen von der Erde, die Moronthor und Nicandra genannt wurden…
»Warum kann es nicht immer so sein?«, murmelte Nicandra und kuschelte sich mit geschlossenen Augen an ihren Gefährten.
Die wohlige Wärme des prasselnden Kaminfeuers strich über ihren nackten Körper und vertrieb jeden Gedanken an den Herbst, der in Frankreich mit plötzlicher Kälte eingefallen war - ein paar Wochen zu früh für die Begriffe der beiden Menschen, aber an der Wetterlage und an den Jahreszeiten ließ sich nichts ändern.
»Weil…«, entgegnete Moronthor, war aber dann zu faul, den Satz zu Ende zu sprechen. Stattdessen legte er den Arm um Nicandra und blinzelte schläfrig in die orangefarbenen Flammen. Sie tanzten nach einer unhörbaren Musik über die Holzscheite. Ein tödlicher, zerstörerischer Tanz, der Holz fraß, aber durch die Zerstörung den Menschen auch Wärme schenkte und Licht. Nicht nur äußerliche, sondern auch innere Wärme. Und die fehlte oft genug in der kalten Welt einer gern selbstzerstörerischen Zivilisation.
Der wärmende Vernichtungstanz der züngelnden Flammen war perfekte Schönheit.
Endlich hatten Moronthor und Nicandra ein paar Tage Zeit, um sich von den Anstrengungen der letzten Monate zu erholen. Er hatte fast schon vergessen, wie es war, einfach in den Tag hineinzuleben, ohne jeden Moment mit einer Katastrophe rechnen zu müssen.
Ihr Leben raste zwischen Vampiren, Spinnenreitern, Poltergeistern und Unsterblichen hindurch wie auf einer unkontrollierbaren Achterbahnfahrt. In ständiger Bedrohung durch dämonische Wesenheiten, die der Hölle der Erde oder der anderer Welten entstammten.
Selbst wenn die Vernichtung des schwarzen Skeletts nun schon ein paar Wochen zurücklag, das regelrecht Jagd auf Moronthor gemacht hatte, gab es in diesen Wochen wenig Ruhe. [1]
Denn es gab ja auch noch ein paar andere, recht profane Dinge zu erledigen, die ebenfalls zeitaufwändig war. Zum Beispiel Gastvorträge an Universitäten vorbereiten und durchführen, Korrespondenz, das schriftliche Aufarbeiten der erlebten Phänomene fürs Archiv, entweder, um später einmal per Computerabfrage darauf zurückgreifen zu können, oder um daraus mehr oder weniger harmlos gefärbte Artikel für Fachzeitschriften und Bücher zu machen. Auch wenn ihm Nicandra hier eine Menge Arbeit abnahm - schließlich war sie nicht nur seine Lebensgefährtin und Kampfpartnerin bei der Dämonenjagd, sondern nach wie vor auch seine Sekretärin -, blieb doch ein sehr großer Teil an ihm selbst hängen. Vor allem die Gastvorlesungen an den Hochschulen in aller Herren Länder musste er schließlich selbst halten…
Und da war auch noch die Entwicklung Ty Senecas, die er argwöhnisch verfolgte. Der Mann, der vor seiner letzten Reinkarnierung durch Avalon noch Robert Tendyke gewesen war und jetzt als solcher nicht mehr angesprochen werden wollte, hatte sich offensichtlich verändert. Sein Charakter war aggressiver geworden, skrupelloser. Was sich auch auf seine Firmenpolitik erstreckte. Seinen früheren Geschäftsführer Rhet Riker, den er als Tendyke noch gefeuert hatte, hatte er als Seneca wieder eingestellt und verfolgte mit ihm zusammen den Plan, den Valenius-Konzern seiner Tendyke Industries im Rahmen einer »feindlichen Übernahme« einzugliedern. In dieser Hinsicht stand Moronthor genau zwischen den Fronten der rivalisierenden Wirtschaftsriesen - er war sowohl mit Tendyke als auch mit Carsten Valenius befreundet.
Und er wusste wirklich nicht, was er tun sollte. Denn er musste befürchten, von beiden schließlich in diese Auseinandersetzung hineingezogen zu werden.
Mit all diesen Dingen hatte er in den letzten Wochen eine kaum weniger hektische Zeit verbracht als bei der Dämonenjagd. An so etwas wie Urlaub war schon lange nicht mehr zu denken. Es gab allenfalls mal ein paar Tage der Ruhe zum kurzen Ausspannen und Abschalten.
Moronthor machte sich keine Illusionen. Er wusste, dass diese Ruhe nicht das Ende der Achterbahnfahrt war. Es war nur eine kurze Pause, die mit dem nächsten dringenden Fall, dem nächsten rätselhaften Mord oder dem nächsten hinterhältigen Angriff enden würde.
Vielleicht schon in der nächsten Minute.
Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis erschien Moronthor manchmal tatsächlich wie eine lebenslange Achterbahn. Irgendwann waren er und Nicandra aufgesprungen, hatten sich dem Übersinnlichen gestellt, ohne die Konsequenzen zu kennen. Freunde waren gestorben, Allianzen zerbrochen - und doch ging die Fahrt immer weiter, einem unbestimmbaren Ziel entgegen.
Wenn es überhaupt ein Ziel gibt, dachte der Parapsychologe.
»Was ist los?«, fragte Nicandra leise und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. Sie hatte seine Ablenkung gespürt, seine leichte Verkrampfung, die die zärtliche Umarmung störte.
Moronthor stützte sich auf. »Nichts, ich habe mich nur gefragt, warum Tankstellen, die rund um die Uhr geöffnet sind, Schlösser an den Türen haben. Macht doch keinen Sinn, oder?«
Seine Gefährtin runzelte die Stirn. Wenn sie gemerkt hatte, dass er sie nicht an seinen Gedanken teilhaben lassen wollte, dann zeigte sie es nicht.
»Das sind die wirklich wichtigen Fragen des Lebens«, ging sie auf seine Bemerkung ein. »Wieso zum Beispiel liegen unter Flugzeugsitzen Schwimmwesten und keine Fallschirme?«
Moronthor grinste. Die Melancholie, die ihn gerade noch ergriffen hatte, fiel von ihm ab. Er beugte sich vor und küsste seine Gefährtin leidenschaftlich.
Nicandra umarmte ihn erneut und zog ihn auf den weichen Teppich herab. Zog ihn auf sich, wollte ihn ganz spüren.
Die Türglocke drang gedämpft zu ihnen vor. Jemand klingelte am Haupteingang.
Dass das Geräusch hier im Kaminzimmer zu hören war, war schon fast bestürzend.
Moronthor seufzte und sah auf die Uhr. »Es ist fast zwei Uhr morgens. Ich seh' wohl besser mal nach.«
»Lass das William machen«, entgegnete Nicandra kopfschüttelnd. »Wenn es was Wichtiges ist, wird er es uns schon sagen.«
Das war allerdings richtig. Der schottische Butler wusste sehr genau, wen er abzuwimmeln hatte - und wen nicht.
Der Parapsychologe ließ sich auf den Teppich sinken.
»Wo du Recht hast…«, murmelte er, als Nicandra sich an ihn schmiegte.
Es klopfte.
Mit einem gleichzeitig ausgesprochenen Fluch richteten sich Moronthor und seine Gefährtin auf. Der Parapsychologe bedeckte ihre Blößen rasch mit einer Decke, bevor er »Ja« rief. William war zwar nicht direkt prüde, aber der Anblick nackter Körper brachte ihn stets ein wenig aus der Fassung.
Die Tür öffnete sich und der Butler trat ein.
»Monsieur, Mademoiselle«, sagte er steif. »In der Halle stehen zwei Pferdemenschen und ein Affe, die Sie gerne sprechen würden.«
***
Die Hitze brachte die Luft über der Wüste zum Flimmern.
Eine einsame Frau saß im Schneidersitz auf einem Felsen und starrte ins Nichts. Unbarmherzig brannte die Mittagssonne auf ihrer Haut und dörrte ihren abgemagerten Körper weiter aus.
Die Frau hatte schon vor Stunden aufgehört zu schwitzen.
Jetzt befand sie sich in einem Stadium irgendwo zwischen Leben und Tod. Eine innere Stimme sagte ihr, sie würde sterben, wenn sie nicht bald etwas trank, aber die Frau ignorierte den Wasserschlauch neben ihrem Knie.
Sie wartete auf die Visionen.
Es war ein gefährliches Spiel, auf das sie sich eingelassen hatte. Die Visionen kamen nur, wenn sie ihren Körper an den Rand des Todes brachte - und selbst dann nicht immer.
Die Frau hatte inzwischen gelernt, an welchem Punkt sie umkehren musste, um nicht in die Ohnmacht zu fallen, die mit dem Tod endete. Anfangs musste der Meister ihr noch helfen, aber schon bald beherrschte sie das schwierige Ritual ganz allein.
»Meine Tochter«, sagte eine tiefe Stimme in diesem Moment.
Die Frau brachte sich mühsam aus ihrer Trance zurück in die Welt, von der sie umgeben war.
Sie neigte den Oberkörper nach vorn und senkte den Blick.
»Meister«, sagte sie ehrfürchtig.
»Die Zeit ist gekommen. Steh auf und folge mir.«
»Ja, Meister.«
Die Frau erhob sich...