The Mothers - Sie müssen perfekt sein oder der Staat nimmt ihnen ihr Kind (eBook)
432 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60360-7 (ISBN)
Polly Ho-Yen lebt zusammen mit ihrem Ehemann in Bristol. Nach ihrem Englischstudium an der University of Birmingham hat sie viele Jahre im Verlagswesen und schließlich als Grundschullehrerin gearbeitet, bevor sie anfing, Geschichten für Kinder zu verfassen. Heute widmet sie sich ganz dem Schreiben und arbeitet zudem als Tutorin bei einer Online-Schreibwerkstatt. »The Mothers« ist ihr erster Roman für Erwachsene.
Polly Ho-Yen lebt zusammen mit ihrem Ehemann in Bristol. Nach ihrem Englischstudium an der University of Birmingham hat sie viele Jahre im Verlagswesen und schließlich als Grundschullehrerin gearbeitet, bevor sie anfing, Geschichten für Kinder zu verfassen. Heute widmet sie sich ganz dem Schreiben und arbeitet zudem als Tutorin bei einer Online-Schreibwerkstatt. »The Mothers« ist ihr erster Roman für Erwachsene.
DAMALS
Wir lernten uns auf Jakobs Namensfest kennen.
Familien und Freunde hatten sich in Evies und Sebs Garten versammelt, tranken Limonade und warteten darauf, dass das Barbecue begann.
Jakob trug einen Strampelanzug mit orangefarbenen Löwen und schlief bereits den ganzen Nachmittag in Evies Armen. Jedes Mal, wenn Evie und Jakob dicht gefolgt von Seb durch den Garten spazierten, teilte sich die Menge, um sie durchzulassen, und die Gäste senkten respektvoll die Stimmen. Es verlieh der formlosen Zusammenkunft eine seltsame Feierlichkeit.
Jakob füllte den Strampler noch nicht ganz aus. Mit vier Wochen wirkte er immer noch so winzig, dass ich mich fragte, warum sie das Namensfest derart kurz nach der Geburt geplant hatten. Bis Evie mir erklärte, dass das OSIP solche gesellschaftlichen Zusammenkünfte als Möglichkeit nutzte, um festzustellen, wie die jungen Eltern zurechtkamen. Es galt, ein Gleichgewicht zwischen sozialer Isolation und der nötigen Abgrenzung zum Schutz der physischen Gesundheit des Babys zu finden.
Ich hörte das Flüstern, als ich mich durch die Gästeschar schob.
Sie sieht gut aus, nicht wahr? Wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat …
Wie viele Induktionszyklen waren es am Ende?
Ich habe gehört, dass sie es beinahe nicht geschafft hätte.
Ich hörte nur die Hälfte des Gesprächs, und als ich mich umdrehte, konnte ich nicht sehen, wer gesprochen hatte. Einen Moment lang sah ich Evie vor mir, blass und verloren, wie sie beinahe in ihrem Krankenhausbett verschwand. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.
Eine ältere Frau, die ich nicht kannte, starrte Jakob noch hinterher, als die beiden schon lange weitergegangen waren. Ihr schien nicht bewusst, dass sie die Hände nach Mutter und Sohn ausstreckte, als stellte sie sich vor, ihn in ihren eigenen Armen zu halten. Doch dann erhob der Mann neben ihr seine laute, durchdringende Stimme, und ihre Hände sanken nach unten.
»Ich meine, wer hätte das gedacht!«, dröhnte er. »Wir hatten Angst vor Atombomben, Überbevölkerung und dem Klimawandel … aber doch nicht vor so etwas. Unfruchtbarkeit. Und noch immer ist völlig unklar, warum es dazu gekommen ist.«
»Ich habe neulich gehört, dass es etwas mit der Umweltverschmutzung zu tun haben könnte. Mit dem Mikroplastik«, erwiderte die ältere Frau. Sie redete leise, als würde es sie ermüden, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.
»Aber wenn es damit zu tun hätte, sollte es dann nicht besser werden, nachdem die Umweltverschmutzung eingedämmt wurde? Wir stehen jetzt seit Jahren bei einer Unfruchtbarkeitsquote von 99,98 Prozent.«
»Ich habe es nur gehört«, wiederholte sie in demselben müden Tonfall.
Dad stand etwas abseits und beugte sich über die Blumenbeete. Eine Hand steckte in seiner Hose, mit der anderen umfasste er ungelenk sein Glas. Er trug einen Mantel, obwohl alle anderen Gäste in T-Shirts und dünnen Baumwollhemden gekommen waren. Ich wusste, dass er sich noch unwohler fühlte als sonst, wenn die Sprache auf die wachsende Unfruchtbarkeit kam. Er sah aus, als würde er bald das Weite suchen. Ich machte mich auf den Weg zu ihm, doch da vernahm ich das sanfte Klingen eines Glases, das jemand mit einem Löffel angeschlagen hatte.
Seb stand mit erhobenem Drink vor den Gästen und machte sich bereit. Er nickte jemandem zu, der weiter hinten stand. Da er größer war als alle Anwesenden, fiel es ihm leicht, die Gästeschar zu überblicken. Seine Haare waren eine Spur zu lang, und ich sah vor mir, wie Evie vor der Party versucht hatte, sie zu bändigen.
»Ich möchte nur ein paar Worte sagen«, begann er, zuckte die Schultern und breitete mit einem ungezwungenen Lächeln die Arme aus, als wollte er uns mitteilen, dass es nun mal nicht anders ging. »Ich werde mich kurzfassen, das habe ich Evie versprochen.«
Sie tauschten einen verschwörerischen Blick, und Evies dunkle Augen blitzten liebevoll.
»Als Evie und ich beschlossen, gemeinsam mit der Induktion zu beginnen, hatten wir keine Ahnung, wie es enden würde.«
Mein Blick huschte unwillkürlich von Seb zu Evie. Sie stand stocksteif ein paar Schritte von ihm entfernt und drückte Jakob an sich, aber wenn ihre Hände frei gewesen wären, hätte sie wohl an ihrem Kleid herumgenestelt. Sie wollte ganz offensichtlich nicht, dass Seb diese Rede hielt.
Ich sah, wie sie kaum merklich zusammenzuckte, als er »Induktion« sagte, und sie starrte entschlossen auf Jakob hinunter, als könnte sie sich in seinem Gesicht verlieren. Wir kannten das Wort schon seit sehr jungen Jahren; hatten es in der Schule gelernt. Ich hörte immer noch die gesichtslose Stimme aus den Videos, und ihre Worte hallten in meinen Ohren wider: »Induktion ist der einzige Weg, um die winzige noch vorhandene Menge an brauchbaren Eizellen und Spermien zusammenzuführen.« Eisprungdiagramme, grafische Darstellungen von Embryonenstadien und Ausdrücke wie »Eizellenintensivernte« waren in meinem Kopf herumgeschwirrt und hatten mir damals schon Angst gemacht, obwohl ich noch nicht wirklich verstand, was das für uns zu bedeuten hatte.
Ich erinnerte mich, wie Evie und ich als Teenager versucht hatten, Stück für Stück einen Sinn darin zu finden. Etwas zu verstehen, das zu groß und zu fremdartig schien, um es zu begreifen. Erst mit der Zeit war mir klar geworden, dass es um unsere eigenen Körper ging. Dass diese abstrakten Diagramme in Wahrheit etwas mit uns zu tun hatten.
Je älter wir wurden, desto sachkundiger wurden Evies Bemerkungen zum Thema Induktion, doch als sie dann selbst damit begann, klang sie mit einem Mal abgebrüht. »Es ist ein Zahlenspiel«, erklärte sie mir müde nach einem weiteren erfolglosen Zyklus und kurz vor dem nächsten Versuch. Sie wollte nicht darüber reden, dass die Wirkstoffkombinationen, die zur Stimulation der Eierstöcke verabreicht wurden, oft zu Überreaktionen führten, die wiederum Blutgerinnsel, dauerhafte Organschäden und Herzinfarkte verursachten. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir in der Schule etwas darüber erfahren hätten. Nachdem Evie mit der Induktion begonnen hatte, hatte ich mich selbst schlaugemacht und heimlich die Beipackzettel ihrer Medikamente gelesen. Die in harmloser kleiner Schrift aufgelisteten Nebenwirkungen machten mich benommen. Ich wollte es nicht glauben. Ich begrub das Wissen tief in mir, doch seit damals hatte mich das Unwohlsein nicht mehr losgelassen.
Ich zwang mich, mich wieder auf Seb zu konzentrieren, als könnte ich dadurch die Schatten aus meinen Gedanken verbannen.
»Aber ich hatte immer, die ganze Zeit über, ein Bild vor Augen, von dem ich nicht einmal Evie erzählt habe. Ich sah vor mir, wie wir unser Kind den Menschen vorstellen, die uns auf dieser Welt am meisten bedeuten. Egal, wie hart es war, dieses Bild ließ mich durchhalten. Und jetzt, wo ich hier stehe und euch Jakob vorstelle, unseren wunderschönen Sohn, ist es, als würde ein Traum …«
Sebs Stimme brach, und er verstummte.
Zuerst klang es, als würde er lachen. Es folgte nervöses Gekicher da und dort, während seine Schultern zu beben begannen und er das Gesicht verzog. Er schaffte es nicht, das Beben zu unterdrücken, das von ihm Besitz ergriff. Wir sahen zu, wie sein Körper in sich zusammenfiel, als hätte jemand die Fäden, die ihn aufrecht gehalten hatten, mit einem einzigen, grausamen Hieb durchtrennt. Evie eilte auf ihn zu, das Gesicht sorgenvoll verzerrt, und als sie ihn in die Arme schloss, erklang ein unverkennbares Schluchzen. Es konnte unmöglich zu dem Mann gehören, der vor wenigen Momenten mit seiner kleinen Ansprache begonnen hatte.
Wie zur Antwort hallte ein kollektives Stöhnen, ein vereintes Klagen durch den Garten. Es klang beinahe enttäuscht. Als ob ein solches Ende nicht vorgesehen gewesen wäre. Mehrere Leute eilten Evie hinterher zu Seb, während wir übrigen uns verlegen im Hintergrund hielten und versuchten, nicht zu starren, gleichzeitig aber unfähig waren, den Blick von Sebs tränenüberströmtem Gesicht abzuwenden.
»Schon gut, mir geht es gut.« Seine Worte gingen beinahe in den wohlwollenden Wünschen und Beruhigungen der umstehenden Gäste unter.
Jemand, an den ich mich mittlerweile nicht mehr erinnern kann, hob sein Glas und rief: »Auf Evie und Seb! Und auf den kleinen Jakob!«, aber er wurde zischend...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2023 |
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Übersetzer | Sonja Rebernik-Heidegger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dark Lullaby |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Alles • Alles, was wir geben mussten • Der Report der Magd • Dystopie • dystopischer Roman • Familie • Großbritannien • Kazuo Ishiguro • Kindesentführung • Kindeswohl • Margaret Atwood • Spannung • Starke Frau • Unfruchtbarkeit • was wir geben mussten • Zukunftsroman • Zukunftsvision |
ISBN-10 | 3-492-60360-2 / 3492603602 |
ISBN-13 | 978-3-492-60360-7 / 9783492603607 |
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