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Schuld schwarz-weiß - Nina Laurinkari

Schuld schwarz-weiß

Vermisste Väter GmbH, 1. Fall

(Autor)

Buch | Softcover
336 Seiten
2022
GEV - Grenz-Echo-Verlag
978-3-86712-178-1 (ISBN)
CHF 24,90 inkl. MwSt
Zwei unterschiedliche Frauen auf der Suche. Auf der Suche nach einem verschollenen Vater und seinem verschwundenen Sohn. Auf ihren Wegen zur Wahrheit kommen sie an die Grenzen ihrer Werte und Energie, stolpern über Motive und Gerechtigkeit. Es geht um die kleinen und großen Gefühle des Lebens. Um das, was kommuniziert wird, und um das, was ausgelassen wird. Und es geht um die Wunden der Vergangenheit, um die Träume und um die Sorgen der Zukunft.So lösen die zwei jungen Frauen nicht nur den verworrenen ersten Auftrag der Privatdetektei "Vermisste Väter GmbH" in Brüssel - sie tauchen auch ab in ein Familientrauma, das es in sich hat.

Nina Laurinkari (geb. Uckel, 1986) kommt ­ursprünglich aus Berlin – ein glückliches Lehrerkind mit kostbaren Erinnerungen an diverse Rad- und Skitouren, unzählige Skatrunden, intensive Streitgespräche und einen behüteten Alltag (gespickt mit schwarzem Humor und Büchern aller Art). Sie hat vor dem Abitur ein Jahr in Südfrankreich verbracht und nach dem Abitur eines in Madrid. Ihr Studium hat Nina in den Niederlanden absolviert (Europarecht und Internationales Recht) - und danach elf Jahre in Brüssel ­gelebt und gearbeitet. Seit dem ersten Lockdown 2020 wohnt sie mit ihrem finnischen Mann und ihren ­beiden ­Töchtern in Helsinki.

Die Blätter tanzen im Wind; goldbraun, orange, tiefrot. Sie tanzen zusammen und doch nebeneinanderher, so frei und leicht und doch dem Wind ausgeliefert. Kommt eine Böe wirbeln sie hoch und laut gegeneinander; ebbt der Wind ab, so segeln sie sanft zu Boden, lassen sich zaghaft auf Moos und Gräsern nieder. Die Pforte, die sonst so achtsam geschlossen war, ächzt im Wind; die Scharniere beklagen den Ölmangel mit jedem Windstoß. Die Krähe stört sich daran nicht, sie folgt ihrem Gespür, hier muss es gleich sein. Hungrig ist sie. Sie hüpft über den Boden und hält inne. Dann stakst sie durch das Bett aus buntem Laub, hin zum Baum mit den baumelnden Turnschuhen. Den letzten Meter fliegt sie, schärft sich noch einmal den Schnabel am Ast und macht sich dann zu schaffen. Ein gefundenes Fressen.

1. Iris – Briefing 1.0 Er gibt mir nicht die Hand, die ich ihm zum Gruß hinhalte. Stattdessen drückt er mir einen Stapel Akten und Fotokopien in den Arm und wendet sich an die Empfangsdame hinter trübem Plexiglas, „Ist das die Neue vom Vermissten-Dingens.“ Keine Frage eigentlich, eher eine Feststellung. Die Frau nickt und widmet sich wieder ihrem Sudokurätsel, von dem ich sie vorhin nur schwer wegbekommen hatte. Unwirsch hatte sie hochgeblickt und kommentarlos eine Kurzwahl ins Telefon getippt, „Vermisste Väter warten“ genuschelt und sofort weiter an der Logikaufgabe gefeilt. Und ich hatte mir die Beine in den Bauch gestanden im trostlosen Eingangsbereich. Die Minuten kamen mir endlos vor, und mit jeder Umrundung des Zeigers auf der Uhr wurde ich nervöser, obwohl der Polizeialltag früher mein tägliches Brot war. Aber jetzt nicht mehr. Bloß nicht mehr. Und als Kommissar Franck Wouters um die Ecke kam und mich noch nicht mal von oben ansah, sondern gar nicht, da wusste ich auch wieder sofort, warum ich den Dienst quittiert hatte, damals. Wegen Typen wie ihm. „Na, kann kommen Sie mal mit in die Höhle des Löwen, Mademoiselle ...“ Er macht eine winkende Handbewegung und geht los, schnurstracks an dem alten Aufzug vorbei und eine kleine Wendeltreppe hoch bis in den dritten Stock. Die schweren Türen hält er mir nicht auf; er gibt ihnen lediglich einen Stoß, sodass sie sich bis zum Anschlag öffnen. Ich hetze ihm hinterher und bin es jetzt schon leid. „Ähm … Luuminen, Iris Luuminen bin ich. Und Madame.“ Ohne ihn zu sehen, merke ich förmlich, wie sich sein Mund zu einem spöttischen Grinsen verzieht. „Soso …“ Er bleibt vor einer halb geöffneten Holztür stehen, auf der ein Sticker von einem Superhelden mit Übergewicht und Glatze klebt. Daneben stehen in schrägen Großbuchstaben „Briefing Room 2“ sowie die handschriftlichen Kommentare „franglais = mission impossible“ und „flanglais = mission impotente“. Beides erinnert mich an die Macht der schlechten Insiderwitze, die mich damals immer weiter ins Abseits gerückt hatte. Überhebliche Kollegen mit anspruchslosen und meist schlüpfrigen Witzen, die mich nicht in ihr Wissen und ihre Verbindungen einweihten. Und dann diese ständige Muttersprachsbarriere, die über all unseren Köpfen schwebte wie ein Damoklesschwert: französisch oder flämisch, drinnen oder draußen, echt oder unecht, Kannstewas oder Willstewas. Beides oder gar nur flämisch sprechen zu können, galt als streberhaft beziehungsweise lästig; auf Englisch zu verweisen, als Kriegserklärung. Wenn man darüber hinaus noch eine Frau war, konnte man es eigentlich gleich vergessen. „Nicht träumen, Fräulein … pardon, Madame Luumi. Immer hinein in die gute Stube.“ Franck Wouters stößt die Tür mit einem Bein auf und marschiert in einen schlecht beleuchteten Raum, in dem bereits eine Handvoll Kollegen warten. Die schöne Morgensonne hat es bei den hohen und schmalen Fenstern schwer; von den Deckenlampen funktioniert nur eine der drei Neonröhren. Franck Wouters zeigt auf mich und dann wortlos auf einen leeren Stuhl am Ende des langen Tisches. Während er an eine spärlich beschriftete Tafel schreitet, auf die ein brummender Beamer grelles Licht sendet, schiebe ich mich mit gesenktem Kopf und zusammengekniffenen Zähnen an besetzten Stühlen vorbei hin zu meinem zugewiesenen Platz. Unsympathisch ist mir Karlas Kommissar, ganz klar. Sie hatte mich vorgewarnt, er sei ein wenig speziell – Arschloch trifft es wohl eher. Franck Wouters klatscht in die Hände und fängt ohne Vorstellung oder Begrüßung in die Runde an, „So die Herrschaften. Fall David Dupont. Ein junger Mann aus Dilbeek verschwindet mit dem Ersparten seiner Mutter. Er wird Sonntagnachmittag das letzte Mal gesehen, von seiner Tante, Béatrice Dupont. Die setzt ihn am Bahnhof von Namur gegen vierzehn Uhr mit dem Auto ab, damit David den Zug nach Oostende nimmt. Richtung angeblicher Abschlussreise. In der im Voraus bezahlten Pension kommt er allerdings nie an. Von der Tante als vermisst gemeldet wird David erst zwei Tage später, sprich gestern. Und warum? Ganz einfach: Die Tante hat noch ein Scheißwochenende. Am Sonntagabend wird nämlich ihre Schwester, also Davids Mutter, tot in der Waldhütte der Familie bei Marcourt in den Ardennen aufgefunden. Kohlenstoffmonoxidvergiftung.“ Ein bulliger Kollege mit Flechtfrisur hebt seine Hand, „ähm – warum ist der Fall hier bei uns in Ixelles auf dem Tisch und nicht in Dilbeek?“ „Gute Frage, Jamal.“ Franck Wouters dreht sich um die halbe Achse und wendet sich dem Fragenden zu, „David wurde im Krankenhaus hinterm Flagey geboren – technisch gesehen ist er also Ixellois. Zumindest auf dem Papier.“ Jamal schnalzt und lehnt sich auf seinem Stuhl nach hinten. Einige Augenbrauen heben sich; Franck Wouters fährt fort, „Davids Mutter hieß Hélène Véronique Dupont und war Krankenschwester in Namur. Darüber hinaus war die Gute stark tablettenabhängig; beide Badezimmerschränke in der Mietwohnung in Dilbeek und im Waldhäuslein bei Marcourt waren bis oben hin voll mit Schlaftabletten und Antidepressiva. Auch im Blut der Toten konnten die Kollegen eine hohe Menge Schlafmittel ausmachen – und die Kaminluke im Waldhaus war zu. Der Kamin war noch warm, als man sie fand. Mama Hélène wollte also anscheinend auf Nummer sicher gehen …“ Franck Wouters bläht seine Backen auf und beugt sich dann über einen Laptop, der auf dem Tisch vor ihm steht. Er drückt darauf herum, bis ein Bild auf die Tafel projiziert wird: Ein dünner, ernst blickender junger Mann mit Schirmmütze ist zu sehen, der schräg hinter einer verhalten lächelnden Frau steht; im Hintergrund Bäume und eine Lichtung, von der aus man in der Ferne ein Tal mit einer Handvoll Häusern ausmachen kann. Das Foto ist ein bisschen schief und verwackelt – ein Profi war hier nicht am Werk. „Hélène Dupont war alleinerziehende Mutter, und David laut Zeugen schulfaul und eher zurückgeblieben … wer hätte da nicht Pillen eingeworfen.“ Franck Wouters zwinkert einem jungen Kollegen nahe der Tür zu. Wieder muss ich meine Zähne zusammenbeißen; seine nicht gerade einfühlsame Art finde ich unangebracht, sie irritiert mich. Ungerührt geht Franck Wouters die Faktenlage weiter durch; dass der Tod von Davids Mutter auf den frühen Nachmittag geschätzt wird, sprich, während ihr Sohn von der Tante herumkutschiert wird. Dass es im Waldhaus der Familie keinerlei Spuren auf Fremdeinwirkung gibt. Dass Hélène Dupont friedlich auf dem Sofa lag, als man sie abends fand, nachdem ein Notruf durch die Schwester einging, die im Herrenhaus vergeblich mit dem Abendbrot auf Hélène gewartet hatte. Ich muss kurz daran denken, wie oft ich als Kind mit meinem Bruder und meiner Mutter am gedeckten Abendbrottisch auf meinen Vater gewartet hatte. Wie angespannt meine Mutter immer war und jedes Mal das Schlimmste befürchtete; wie losgelöst und gleichzeitig vorwurfsvoll sie war, wenn er dann heimkam. „Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert“, war ihr Standardkommentar; „du weißt doch, dass ich immer nach Hause komme“, seine Standardantwort. Aber hier nicht. Hier kam der erwartete Gast nicht zum Essen. „… und während Hélène Dupont obduziert wird, macht Sohnemann David irgendwo ein verlängertes Partywochenende auf Kosten seiner toten Mutter.“ Franck Wouters stemmt seine Hände in die Hüften, „die Tante hat auf Nachfrage bestätigt, dass sie für David bei der am nächsten liegenden Bankfiliale angehalten hatte. Die gesamten Ersparnisse wurden abgehoben. Knapp 1.950 Euro.“ Er blickt einen kurzen Moment hin zum verwackelten Familienfoto, „Krankenpflege ist eine einzige Scheiße, für alle Beteiligten. Wahrscheinlich liegt David jetzt noch besoffen unter einem Kneipentisch. Oder er hat in irgendeinem Puff im Nirgendwo alle Hände voll zu tun.“ Franck Wouters zwinkert wieder in die Runde, in der sich viele Münder zu einem Lächeln verziehen. Eine junge Frau in der Ecke blickt verunsichert zu Boden, und ich mache ein Geräusch zwischen Prusten und Schnauben. Ich finde ihn pietät- und taktlos – er gibt sich seit Beginn des Briefings zynisch und überheblich. Oder einfach desinteressiert. Wer ihn wohl zu diesem Job gezwungen hatte damals? Sein Vater oder ein erfolgreicherer Bruder vielleicht. Oder ein leeres Konto, das nach einer unkündbaren Verbeamtung schrie? Vielleicht sogar seine eigene Frau. Eine, die zu Hause die Hosen anhat, ihn kleinhält und tagaus, tagein bitterböse Pfeilspitzen abschießt. Weil er es nicht zur Fédérale geschafft hatte, in fünfundzwanzig Jahren Polizeidienst – aber sie hätte ja schon von Anfang an sagen können, er habe nicht genug Pfiff. Warum auch immer – er kommt mir vor wie einer, der nirgendwo glücklich ist. Einer, der weder auf der Arbeit noch nach Feierabend einen Hemdknopf öffnet und mal lächelt. Weder andere anlächelt noch sich selbst im Spiegel. Der seinen Dauerfrust an anderen auslassen muss. Traurig irgendwie. Aber auch ätzend. Unsympathisch ist er mir. Und ich ihm wohl auch. Franck Wouters schaut kaum in meine Richtung, „irgendwelche Anmerkungen bis hierhin?“ Ich fühle, dass mein Gesicht glüht, vor Frustration über seine Unflätigkeit und vor meiner eigenen Unsicherheit, das Wort in der unbekannten Runde zu erheben. Beides ärgert mich, „ähm … ja … also, woher kommen Sie zu dem Schluss, dass David irgendwo feiern ist? Vielleicht … ist er ja auch in der Nähe untergetaucht, aus Scham vor dem Diebstahl. Oder er hat doch etwas mit dem Ableben seiner Mutter zu tun?“ Franck Wouters seufzt, „alle Zeugenaussagen deuten klar auf einen freiwilligen Abgang hin. Und auch der Statistik nach machen wir hier viel zu viel Wind um einen Ausreißer. Zweidrittel aller Vermissten sind männlich; die Hälfte aller Vermissten taucht innerhalb einer Woche wieder auf. Und nach einem Monat sind gut achtzig Prozent aller Vermisstenfälle gelöst ... aber das müssten Sie ja eigentlich besser wissen ...“, er grient, „ich stelle trotzdem einmal folgende Rechnung auf: Seit Sonntagmittag ist David weg vom Radar. Heute ist Mittwoch. Das heißt, er hat jetzt noch ein schönes langes Wochenende vor sich. Schulabschluss macht man nur einmal, und mit mehr Geld macht es bekanntlich eben auch mehr Spaß.“ Der Kollege mit Flechtfrisur rempelt seinem rundwangigen Sitznachbarn den Ellenbogen in die Seite; der nuschelt etwas und die ganze Riege neben mir bricht in schallendes Gelächter aus. Jetzt runzelt auch Franck Wouters seine Augenbrauen; immerhin scheint er nicht viel von heimlichen Ellenbogenwitzeleien zu halten. Ich hake noch einmal nach, „Sie glauben also, es gibt kein Vergehen?“ Franck Wouters nickt und guckt mir zum ersten Mal ins Gesicht, seine Augen sind wach und weicher als erwartet, „ja, genau. David macht ein verlängertes Schulabschluss-besäufnis irgendwo, wo man per Anhalter, Fernbus oder mit den Öffentlichen leicht hinkommt. Alles, was besser ist als das Kackkaff Oostende – und da gibt es ja so einiges, nicht wahr?“ Er dreht sich von mir weg und klatscht in die Hände, „so, liebes Team. Genug palavert. Ich schlage vor: Wir warten ab. Dem Burschen geht bald das Geld aus, er kommt nach Hause und bemerkt, dass Frau Mama nicht daheim ist. Und dann kontaktiert er Rotz und Wasser heulend schon irgendwen … die Tante, den Vermieter aus Dilbeek ... – uns vielleicht!“ Franck Wouters sieht zufrieden aus. Ich räuspere mich und ergreife noch einmal das Wort, „… oder er kontaktiert diesen verschollenen Bruder, oder seinen Vater ... haben Sie Informationen über den, die sie rausgeben können?“ „Nein. Ein Vater wurde nie gemeldet. Nirgendwo. Gibts nicht, ist nicht.“ Seine Augen schauen jetzt leicht alarmiert in meine Richtung; dass er an die vom „Vermissten-Dingens“ unter der Hand polizeiinterne Informationen weitergibt und gewisse Ermittlungsstränge privat delegiert, das ist eine mündliche Abmachung zwischen ihm und Karla, meiner Chefin. Seit gut zehn Jahren stehen die beiden in gegenseitiger Schuld, unzählige Paragrafen ignoriert und offizielle Verfahren umgangen zu haben. Die unauffällige Symbiose funktioniert reibungslos: Der Polizeikommissar der Brüsseler Gemeinde Ixelles/Elsene bekommt Fährten und Adressen zugesteckt, an die er sonst schwer herankäme, und Karlas Privatdetektei profitiert von gelegentlichen Auszügen aus Personen- und Fahndungsregistern. Und sie bekommt die Möglichkeit, hin und wieder einem polizeiinternen Briefing beizuwohnen. Ganz unverbindlich und allgemein als Koordinatorin für Vermisstenfälle vorgestellt, irgendjemand vom „Vermissten-Dingens“ eben. Nachfragen von Kollegen gibt es keine, und wenn, dann wird mit gerollten Augen auf „Vorgaben von oben“ hingewiesen, auf den „Wunsch früher Einbindung von Nichtregierungselementen“, auf die „konzeptionelle Überlappung von fachbezogenen Wissenskanälen“, auf „bürokratische Transparenz“ und „soziale Verantwortlichkeit“. Und schnell winkt der neugierige Kollege dann ab, „jaja, schon klar, nichts für ungut“. So bleibt die Karla-Wouters-Symbiose unter dem Radar und trägt von Fall zu Fall Früchte, leise und effektiv. Bloß mit meiner Person scheint das Ganze ein wenig zu wanken. „Aber was, wenn David etwas zugestoßen ist? Wenn er sich oder andere gefährden will?!“ Meine Stimme klingt schrill und mein Kopf glüht; Franck Wouters verzieht das Gesicht, „na, na, da ist nix. Der Junge ist weder vorbestraft noch durchgeknallt. Er hat laut Zeugenaussagen eine vertraute Beziehung zur Mutter, einen geregelten Alltag ohne Drogen und Gewalt, und er ist ein durchschnittlicher schlechter Schüler. Typ Eigenbrötler und Spätzünder. Zweimal ist er sitzengeblieben, jetzt hat er endlich zu siebenundfünfzig Prozent seinen Abschluss in der Tasche; Schule ist scheinbar nicht sein Ding. Seine Ausbildung in der Krankenstation der Mutter in Namur sollte in zwei Wochen losgehen. Das können Sie aber auch alles in den Unterlagen nachlesen, die unsere Referendarin fleißig kopiert hat.“ Franck Wouters zeigt erst auf die junge Frau in der Ecke, dann auf den verrutschten Papierstapel, den ich achtlos quer auf den Tisch gelegt habe. Er zieht missbilligend eine Augenbraue hoch, redet aber weiter, „und diese Geschichte mit dem verschollenen großen Bruder ist ewig her, gut zwanzig Jahre. Der verschwand zwar schon mit sechzehn, aber immerhin mit einem Abschiedsbrief an die Zurückgebliebenen. Stil: ‚ich-mache-mich-auf-in-die-große-weite-Welt‘. Tja … und jetzt wollte eben auch David mal etwas anderes machen als Gassi gehen oder mit der Familie Pilze, Kräuter und Beeren zu sammeln. Mit neunzehn auch kein Wunder – viel zu späte Erkenntnis, wenn Sie mich fragen.“ Er wedelt mit der Hand, „also low priority für diesen Fall bis Montagmorgen. Die Vermisstenzelle der Fédérale und die Staatsanwaltschaft sind zwar formell seit gestern informiert, aber die haben auch Besseres zu tun ... Sprich, weiterhin nur das minimal Übliche die nächsten Tage: noch mal öffentliche Verkehrsmittel und Taxiunternehmen abklopfen – Pieter und Jahn, macht ihr das. Und auch Interpol anhauen, die sollen den Steckbrief in den Verteiler aufnehmen. Oscar, schau dich in der Nachtszene um, der blaue Aktenordner da von der Sitte hat schon eine gute Zusammenstellung. Marie, du kannst ihm dabei über die Schultern gucken – aber nicht anlehnen“, er grinst und die Referendarin bekommt einen puterroten Kopf, „und Jamal, frag du doch mal beim Drogendezernat nach, ob die irgendetwas Auffälliges registriert haben; eine Großbestellung schlägt ja meist Wellen. Aber wahrscheinlich hat David für was Chemisches eh nicht das Profil. Also eher Alkoholleiche – schick den Steckbrief an die Krankenhäuser raus, dass die mal die Augen aufhalten.“ Alle nicken, keiner fragt nach. Ich fühle mich wie ein sturer Teenager, der nicht nachgeben will, „aber … was, wenn Gefahr in Verzug ist? Das … das können Sie doch nicht einfach ausschließen!“ „Oh doch, bis Montagmorgen kann ich das sehr wohl.“ Jetzt lächelt er, „eine Woche Minimalaufwand, und basta. Wenn David sich bis dahin nicht gemeldet hat, können wir uns dann immer noch Sorgen machen. Sie hören doch, womit wir hier für den Ausreißer schon unsere Zeit verplempern ... und wir haben hier auch anderes zu tun, als jeden Stein umzudrehen ... Also, an die Arbeit, Leute, zack zack!“ Er entlässt seine Kollegen mit einer scheuchenden Handbewegung und greift sich betont locker seine Kaffeetasse, „... das können ja SIE machen bis nächste Woche.“ Er dreht sich zu mir um und ist auf einmal ruhig, aufmerksam, trinkt einen Schluck seines Kaffees. „Kalt, aber trotzdem lecker“, kommentiert er. Ich wüsste nicht, was ich darauf antworten soll, also lasse ich es sein. „Grüßen Sie Karla von mir, Frau Luuminen. Sagen Sie ihr, sie ist mir noch ein Frühstück schuldig.“ Ich bin überrascht, dass er meinen Namen auf einmal doch auf dem Schirm hat, und nicke verwirrt, „ja klar.“ „Danke. Und gucken Sie doch bitte bei der Trauerfeier von Hélène Dupont vorbei, die ist morgen um 15:30. Vielleicht treffen Sie dort auf David. Oder seinen Vater – das wäre ein Lottogewinn, nicht?“ Jetzt grinst er mich an, und sieht trotz ergrauter Schläfen auf einmal jung und etwas spitzbübisch aus. Ob Karla was mit ihm hat? schießt es mir durch den Kopf, während er etwas auf ein Papier kritzelt und es mir dann über den Tisch schiebt, „hier, meine neue Handynummer. Sie können mich jederzeit anrufen – geben Sie die auch an Karla weiter, bitte, die kann sich wie gesagt eh mal wieder bei mir melden.“ Bitte, danke? Ich stehe verwirrt am Tischende und mag nicht glauben, dass dieser Mann derselbige ist, der mir die letzte halbe Stunde lang so unsympathisch war. Und Franck Wouters setzt noch einen drauf: „Wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben kann: Mischen Sie sich nicht zu viel in meine Briefings ein das nächste Mal. Auch wenn Ihre Fragen gut waren – Sie und Karla sind für die Antworten da. Und Antworten zu finden, das bedarf Zeit. Und die haben Sie jetzt erst einmal bis Montag. Und eine Menge Arbeit. Stecken Sie da am besten Ihre Energie rein.“ Er lächelt schon wieder, und macht sich doch tatsächlich den obersten Hemdknopf auf. Dann trinkt er seinen erkalteten Kaffee mit einem Schluck aus, klopft zweimal auf den Tisch und geht an mir mit zügigen, energischen Schritten vorbei, „Tschö mit ö. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“

Erscheinungsdatum
Verlagsort Eupen
Sprache deutsch
Maße 130 x 210 mm
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Ardennen • Brüssel • Familientrauma • Sohn • Suche • Vater
ISBN-10 3-86712-178-8 / 3867121788
ISBN-13 978-3-86712-178-1 / 9783867121781
Zustand Neuware
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