Dorian Hunter 96 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-3211-6 (ISBN)
Dorian Hunter schrie in Todesangst.
Er klammerte sich instinktiv an den Ys-Spiegel, den er wie ein Amulett um den Hals trug; er klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm, denn er war seine letzte Rettung. Wenn er diesem Inferno überhaupt noch entrinnen konnte, dann nur mit Hilfe des Spiegels. Hatte er damit nicht auch Luguri in die Flucht gejagt? Diesen Erzdämon aus ferner Vergangenheit, der in der Gestalt eines zottigen Scheusals das »Atlantic Palace Hotel« in seine Gewalt gebracht hatte?
Dorian vermutete, dass die Macht des Spiegels Luguris Einfluss gebrochen hatte. Dennoch glaubte er in diesen Sekunden an den sicheren Tod. Er schrie seine Angst hinaus, und der Laut brach sich an der Spiegelfläche und kam als vielfaches Echo zurück. Dabei sah er vor sich die Reflexion seines verzerrten Antlitzes, unter dessen Haut es rot und blau zu glühen begann.
1. Kapitel
Die magischen Ornamente, die schon etliche Dämonen gebannt hatten, verschmolzen mit den unbekannten Symbolen auf der leicht erhabenen Spiegelfläche. Und während Dorian im Ys-Spiegel sein Abbild sah, konnte er gleichzeitig hindurchblicken.
Hinter der Spiegelfläche lag eine andere Welt. Er sah einen Raum, der in einem grünlichen Licht strahlte. Die Wände, der Boden und die Decke bestanden aus Steinquadern. Dieser Ort versprach ihm Ruhe und Geborgenheit. Er konnte die Rettung sein.
Fort von hier, dachte der Dämonenkiller. Und der Spiegel übersetzte seine Gedanken in jene unbekannte Sprache, die nur der Besitzer des Ys-Spiegels beherrschte, wenn er sie auch nicht verstand. Wir müssen von hier weg, bevor wir unter den Trümmern des einstürzenden Hochhauses begraben werden.
Das dachte er, und er sagte etwas in der vergessenen Sprache.
Die Decke bekam plötzlich Sprünge. Ein Betonträger neigte sich zur Seite. Und dann begannen Trümmer herabzuregnen. Eine blutüberströmte Gestalt in der Kleidung eines Zimmermädchens versuchte verzweifelt, zu entkommen, aber ein Betonklotz begrub sie unter sich.
Dorian sah durch die Spiegelfläche wieder das Bild des grün leuchtenden Raumes. Dorthin müssen wir!, war sein einziger Gedanke.
Aber schon im nächsten Augenblick befand er sich erneut unter der sich neigenden Betondecke.
Irgendwo tauchte kurz und schemenhaft die Gestalt Magnus Gunnarssons auf. Er schrie etwas, das Dorian aber wegen des Lärms nicht verstehen konnte. Unga lag mit gebrochenen Gliedern in der Tiefe. Gunnarsson, verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau haltend, versuchte, einem einstürzenden Betonpfeiler auszuweichen.
Auf einmal hörte sich Dorian wieder in der fremden Sprache sprechen. Es war ein Hilferuf an die unerklärlichen Mächte, die in dem Spiegel wohnten. Und er hielt sich den Ys-Spiegel vors Gesicht. Er sah darin die Tätowierung, aber das Stigma erschreckte ihn nicht mehr.
Die Tätowierung verblasste. Der Lärm verstummte. Stille kehrte ein. Das Chaos war vorbei.
Eingekeilt in die Trümmer des Hochhauses, aber unverletzt, ließ der Dämonenkiller die Ruhe auf sich einwirken.
Er war gerettet.
»Hunter?«
Das war die Stimme von Magnus Gunnarsson.
»Hier!«, sagte Dorian apathisch. Er fühlte sich schwach. »Helfen Sie mir, Magnus!«
Die schlanke Gestalt des Isländers tauchte vor ihm auf. Er rutschte eine Schutthalde herunter und reichte Dorian die Hand.
»Sind Sie unverletzt?«, erkundigte sich Gunnarsson mehr interessiert als mitfühlend. Er war schon ein eiskalter Bursche.
»Das wird sich gleich herausstellen«, erwiderte Dorian.
Mit der Hilfe des Isländers kam er frei. Er verspürte nur ein leichtes Stechen in der Leistengegend.
»Ich bin so weit in Ordnung«, stellte Dorian fest und schüttelte ungläubig den Kopf. »Dass wir das überlebt haben!«
Gunnarsson verzog spöttisch den Mund.
»Sie glauben doch nicht an ein Wunder, Dorian?« Er deutete auf den Ys-Spiegel, der um Dorians Hals baumelte. »Danken Sie lieber Ihrem Amulett. Für mich besteht kein Zweifel, dass uns der Spiegel gerettet hat. Er hat uns aus dem gefährlichen Gebiet gebracht.«
Dorian blickte sich ungläubig um. »Liegen wir denn nicht unter den Trümmern des eingestürzten Hochhauses?«
Soviel er sehen konnte, waren das die Betonplatten und -träger des Hotels. Vereinzelt sah er Teile zertrümmerter Möbelstücke. Dort lag eine zerbrochene Puppe, daneben ragte die steife Hand des Zimmermädchens aus dem Schutt.
»Kommen Sie mit!«, forderte der Isländer ihn auf.
Dorian verstaute den Spiegel unter seinem zerschlissenen Hemd und folgte Magnus Gunnarsson, der sich durch einen Spalt zwischen zwei Betonklötzen zwängte.
Auf einmal erinnerte sich Dorian des Cro Magnons.
»Unga!«, entfuhr es ihm. »Ich habe gesehen, wie er mit gebrochenen Gliedern in der Tiefe gelegen ist. Wir müssen nach ihm suchen.«
Gunnarsson gab keine Antwort. Er war durch den Spalt verschwunden. Als Dorian ihm gefolgt war, fand er sich in einem Gewölbe wieder, dessen Wände grünlich leuchteten. Die Luft roch modrig. Der Boden war glitschig. Die Wände glänzten vor Nässe. Irgendwo tropfte Wasser.
»Dieser Raum gehört wohl nicht zum ›Atlantic Palace Hotel‹«, meinte Gunnarsson spöttisch. »Damit dürfte klar sein, dass wir an einen anderen Ort versetzt wurden.«
»Aber – wo sind wir?«, fragte Dorian.
Er blickte sich um. Hinter ihm lag der Schutthaufen.
»Wo wir uns befinden, kann ich Ihnen leider nicht sagen«, meinte Gunnarsson, »aber ich ahne, wie wir hierher gekommen sind. Ich vermute, dass Sie im Augenblick der höchsten Not unbewusst die Kräfte des Spiegels mobilisiert haben und uns dadurch retteten. Eine andere Erklärung habe ich nicht.«
Dorian nickte. Auch er hatte irgendwie den Eindruck gehabt, dass in seiner größten Todesangst eine Art geistige Verbindung zwischen ihm und dem Ys-Spiegel entstanden war. Erklären konnte er sich diesen Vorgang jedoch nicht. Er erinnerte sich nur daran, dieses grün leuchtende Gewölbe durch den Spiegel gesehen zu haben.
»Wir werden schon noch herausfinden, wo wir uns hier befinden«, sagte Gunnarsson. »Am besten, wir erkunden sofort die nähere Umgebung.«
Dorian wollte widersprechen, doch ein Geräusch in seinem Rücken hinderte ihn daran. Er fuhr herum. Das Scharren kam aus der Richtung des Trümmerfeldes. Schutt kam in Bewegung. Einige Brocken rollten den Hang herunter. Dann tauchte zwischen den Trümmern eine große, blutüberströmte Hand auf.
»Unga!«, rief Dorian erschrocken. Aber als Antwort kam nur ein lang gezogenes Stöhnen.
Der Dämonenkiller eilte herbei und stürmte die Schutthalde hoch. Mit den bloßen Händen schaufelte er den Schutt beiseite, bis er den zu der Hand gehörenden Arm freigelegt hatte. Dahinter wurde das Gesicht des Cro Magnons sichtbar. Es war mit Staub und Blut besudelt. Die Schmutzschicht zerteilten Schweißperlen. In Ungas Gesicht zuckte es.
»Wir befreien dich, Unga«, versprach Dorian. Und über die Schulter rief er dem Isländer zu: »Helfen Sie mir, Unga zu bergen, Magnus!«
Als Dorian Ungas Arm berührte, schrie dieser unterdrückt auf.
»Alles gebrochen«, brachte der Cro Magnon mit bebenden Lippen hervor.
Der Isländer hatte sich langsam und mit schlurfenden Schritten genähert. Jetzt blickte er unbewegt auf den vor Schmerz stöhnenden Cro Magnon hinunter.
»Was stehen Sie so untätig da?«, herrschte Dorian ihn an. »Wir müssen Unga befreien.«
»Ich überlege«, sagte Magnus Gunnarsson nachdenklich.
»Was gibt es da noch zu überlegen?«, erregte sich der Dämonenkiller. »Wir müssen Unga helfen.«
»Wirklich?« Der Isländer hob eine Braue. »Überlegen Sie doch mal, Dorian! In seinem Zustand wäre Unga für uns nur hinderlich. Mit gebrochenen Gliedern kann er uns überhaupt nichts nützen.«
»Ich stufe ihn nicht nach seiner Nützlichkeit ein«, fuhr Dorian ihn an.
»Gut, gut«, sagte der Isländer beschwichtigend. »Dann betrachten wir das Problem eben von einer anderen Warte aus. Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen gesagt habe, Dorian? Wir drei liegen miteinander im Wettstreit. Wir haben alle drei dasselbe Ziel. Doch nur einer kann als Sieger hervorgehen. Unga ist Ihr Konkurrent – ebenso der meine. Wenn Unga ausgeschaltet ist, ist bereits eine Vorentscheidung gefallen. Es heißt dann nur noch: Sie oder ich.«
»Was für ein eiskalter Hund Sie sind!«, sagte Dorian wütend. Er zitterte am ganzen Körper. »In Ordnung, Magnus. Wenn Sie Unga im Stich lassen wollen, dann können Sie auch nicht mehr auf mich zählen. Schauen Sie zu, wie Sie allein zurechtkommen!«
Magnus Gunnarsson schüttelte bedauernd den Kopf. »Was für ein sentimentaler Narr Sie sind, Dorian! Entweder Sie haben noch nicht erkannt, worum es uns eigentlich geht, oder Sie sind eben ein Weichling. Wie dem auch ist, ich ersehe daraus, dass Sie für mich kein ernsthafter Konkurrent sind.«
»Halten Sie den Mund!«, erwiderte Dorian gereizt. »Wenn Sie Unga nicht helfen wollen, dann verschwinden Sie endlich! Wir werden auch ohne Sie auskommen.«
Gunnarsson seufzte. »Eben nicht. Solange wir hier festsitzen, sind wir aufeinander angewiesen.« Er stieß Dorian an. »Gehen Sie beiseite! Ich werde sehen, was ich für Unga tun kann.«
Dorian machte dem Isländer Platz, blieb aber so nahe bei ihm, dass er ihm über die Schulter blicken und sehen konnte, was er mit Unga anstellte. Der Isländer machte kreisende Bewegungen über Ungas ausgestrecktem Arm und murmelte irgendetwas dazu. Zwischendurch sagte er: »Der Arm ist mehrfach gebrochen. Ich werde versuchen, ihn zu heilen.«
Dorian presste die Lippen aufeinander. Er wusste schon längst, dass Magnus Gunnarsson die weiße Magie wie kein...
Erscheint lt. Verlag | 3.5.2022 |
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Reihe/Serie | Dorian Hunter - Horror-Serie |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
ISBN-10 | 3-7517-3211-X / 375173211X |
ISBN-13 | 978-3-7517-3211-6 / 9783751732116 |
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