Das Glück riecht nach Sommer (eBook)
464 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-28644-6 (ISBN)
Die große weite Welt muss es für die Ärztin Ina gar nicht sein. Nach dem Studium zog sie zurück in ihre alte Heimat an der Küste - zurück zu einem Mann, von dem sie dachte, er wäre ihre Zukunft. Doch der Mann ist längst Vergangenheit, und die Stelle im Husumer Krankenhaus ist Ina auch los. Kurzerhand folgt sie einem Jugendtraum und zieht nach Hamburg, wo sie in einer kleinen Laube am Alsterfleet unterschlüpft. Während sich das verwilderte Gartenstück unter ihren Händen in ein Blütenmeer verwandelt, blüht auch Ina wieder auf. Und sie erkennt: Nur, wenn sie auf ihr Herz hört, kann aus alten Träumen etwas ganz Neues entstehen ...
Meike Werkmeister ist Buchautorin und Journalistin. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wann immer sie Zeit hat, fährt sie an die Nordsee, wo sie oft auch die Ideen für ihre Geschichten findet.
1
»Hier bin ich.« Filiz’ Stimme hallte durchs angenehm kühle Treppenhaus. »Du musst nach ganz oben.«
Es fiel kaum Licht auf die ausgetretenen Holzstufen. Wer die wohl schon alles erklommen hatte in den bestimmt hundert Jahren, die das Haus alt war? Ich sah mich nach einem Aufzug um und musste über mich selbst lachen. Natürlich hatte ein so altes Haus keinen Aufzug, es sei denn, es war luxussaniert worden, doch so wirkte es nicht. Immerhin fand ich den leicht klebrigen Lichtschalter. Eine Neonröhre sprang flackernd an und beleuchtete eine Nische voller Kinderwagen und Laufräder unter dem Treppenaufgang. Na, dann los, dachte ich und zerrte den schweren Koffer Stufe für Stufe nach oben, wobei er mir bei jedem Schritt schmerzhaft gegen den Unterschenkel stieß.
»Brauchst du Hilfe beim Tragen?«, hörte ich Filiz, die weit weg klang.
»Geht schon«, rief ich schnaufend durch den länglichen Lichtspalt zwischen den lackierten Holzgeländern nach oben. Beim Hinaufsteigen entdeckte ich überall Sachen, für die mein Vater schnell seinen Akkuschrauber geholt hätte. In jeder Zwischenetage hingen schiefe Bilderrahmen mit Aquarellzeichnungen an wackeligen Nägeln. Ein gekipptes Fenster hatte einen kaputten Griff. Neben einem Schuhregal lehnten die ausgehängten Türen. Was man beim Anblick eines Treppenhauses alles über seine Nachbarn lernen konnte! Vor einer Tür stand ein Eimer mit Bioabfällen, eine Kartoffelschale war auf die Fußmatte gefallen. Aus der Wohnung gegenüber drang leise orientalische Musik. Räucherstäbchenaroma lag in der Luft. Ich erinnerte mich daran, dass Filiz neulich am Telefon geschwärmt hatte, in ihrem Mietshaus wohne eine so interessante Mischung: ältere Leute, die schon in diesem Viertel geboren wurden, junge Familien aus verschiedenen Kulturen und Studenten, die oft nur ein paar Monate blieben, bis sie in eine andere WG weiterzogen.
Im nächsten Stock lehnte eine kleine Puppe an einer Tür. Auf ihren Bauch hatte jemand ein Post-it geklebt. »Lag im Hof. Fines?«, stand etwas krakelig darauf geschrieben.
Gerade als ich mich fragte, wie viele Stockwerke dieses Haus eigentlich besaß, tauchte über mir am Geländer der dunkle Lockenkopf meiner Freundin im Gegenlicht auf. »Ina!« Sie stieß einen kleinen Jubelschrei aus, und ich beschleunigte meine Schritte, hastete mit letzter Kraft die übrigen Stufen hoch und ließ den Koffer auf den Boden plumpsen. »Meine Ina!« Filiz drückte mich fest an ihren sehnigen Körper. Hinter ihr sah ich die offen stehende Wohnungstür, vor der ein Haufen Stiefeletten, Sneakers und Sandalen lag. »Ich freue mich so, dass du da bist!«
»Ich mich auch«, brachte ich keuchend hervor. Ich sollte wirklich anfangen, Sport zu machen.
Filiz löste sich von mir und strahlte mich an. »Komm rein, Süße!«
Von drinnen drangen Stimmen zu uns heraus. Schon im Türrahmen roch ich, dass Zwiebeln angebraten wurden. Filiz schob mich vor sich her durch einen düsteren Flur, der voller Jacken hing und in dem sich weitere Schuhe türmten.
»Hat alles gut geklappt mit der Bahn?« Sie nahm mir meinen Koffer ab und ließ ihn hinter einer Tür verschwinden. Dann lief sie mir voran an zwei weiteren Türen vorbei, von denen eine geöffnet war und den Blick auf eine Matratze am Boden und einige Staffeleien mit Leinwänden freigab.
»Ja, hat alles gut geklappt, top Wegbeschreibung.«
Der Flur mündete zu meiner Überraschung in einen großen, lichtdurchfluteten Raum.
»Willkommen in unserem Reich«, Filiz breitete die Arme aus und führte ein kleines Tänzchen auf. Ihr ausgestellter Rock flog dabei in die Luft. Ich musste die Augen zusammenkneifen, so hell war es hier drin. Erstaunt sah ich mich um. Der Raum war größer als meine gesamte letzte Wohnung. Der Boden war aus Sichtbeton gegossen, der hier und da so aussah, als hätte er schon einige Partys erlebt. Er hatte zu zwei Seiten bodentiefe Fenster, hinter denen die Dächer der Stadt zu sehen waren. Offenbar war dies eine Art nachträglich ausgebauter Dachboden. Also doch ein wenig Luxussanierung. Verständlich, in dieser Lage in Hamburg versuchten die Vermieter vermutlich, so viel wie möglich aus jedem bewohnbaren Quadratmeter herauszuholen.
In einer Ecke gab es eine Sofalandschaft aus verschiedenen Couches und Sesseln, die überhaupt nicht zueinander passten. In der Mitte des Raumes lag eine lange Tischplatte auf zwei Metallböcken. Davor standen ebenfalls offensichtlich zufällig zusammengewürfelte Stühle. In der schlichten weißen Küchenzeile waren jede Menge verschiedene Teller, Tassen und Schalen in offene Wandregale sortiert. An der aus Beton gegossenen Arbeitsplatte schnitt eine kurvige Frau mit blond gesträhnter Turmfrisur etwas auf einem Brettchen. Neben ihr lehnte eine große Kurzhaarige in einem zeltartigen asymmetrischen Kleid und redete auf sie ein. Als sie uns bemerkte, verstummte sie und wandte uns das schmale, ungeschminkte Gesicht zu.
»Girls, wir haben Besuch«, sagte Filiz und schob mich vor sich her auf die beiden zu.
Die Kurzhaarige kam auf uns zu und hielt mir mit schmalem Lächeln ihre schlaffe Hand hin.
»Das ist Esther«, plapperte Filiz munter weiter, »sie wohnt im Zimmer am Ende des Flurs und schreibt gerade ihre Doktorarbeit zum Thema ›Emanzipation im Wandel der Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts‹.«
Esther winkte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz ab. Dann musterte sie mich. »Und wer bist du?«
»Das ist meine berühmte Studienfreundin Ina«, antwortete Filiz, ehe ich es konnte.
Die kleinere Frau kam einen Schritt näher und lächelte mich offen an. Alles an ihr wirkte irgendwie geschwungen, die langen Strähnen, die sich aus ihrer Turmfrisur um ihr pausbäckiges Gesicht kringelten, der Schmollmund, die mit viel Wimperntusche betonten Augen.
»Ich bin Vicky, freut mich.« Sie widmete sich wieder den Lauchzwiebeln auf ihrem Brettchen. »Fühl dich wie zu Hause!«
Neben ihr blubberte etwas in einem großen Topf. Hinter dem Brettchen stand eine riesige Butterbrotdose Hummus neben einer Papiertüte voller ovaler Fladenbrote. Bestimmt hatte Filiz’ Mutter Ayda ihr die Sachen für mich mitgegeben. Sie war mein Fan, seit ich bei meinem ersten Besuch bei Filiz’ Familie vor vielen Jahren durch meinen gesunden Appetit aufgefallen war. Wie lieb von Filiz, dass sie mir eine Art Willkommensdinner organisiert hatte, dachte ich, als es klingelte.
»Ich geh schnell.« Filiz verschwand in Richtung Tür.
Etwas verloren stand ich neben Vicky und Esther, die weiterkochten und dabei, so viel glaubte ich zu verstehen, über die Textnachrichten eines Mannes diskutierten. Filiz hatte mir schon am Telefon von ihren beiden Mitbewohnerinnen erzählt, mit denen sie seit ein paar Monaten in dieser Wohngemeinschaft lebte. Beide waren offenbar ein paar Jahre jünger als wir und – wie Filiz es genannt hatte – etwas »speziell«. Esther war offensichtlich die ein wenig verspannte Juristin mit dem Putzfimmel, mit der sie nächtelang über Sinn und Unsinn gendergerechter Sprache diskutieren konnte. Vicky musste folglich die chaotische Malerin sein, die mit ihrem Freund eine offene Beziehung führte, weswegen es regelmäßig zu melodramatischen Szenen kam. Als sie die gehackten Lauchzwiebeln in eine Pfanne kippte, bemerkte ich die Farbe unter ihren kurzen Fingernägeln. War das ein Nachthemd, das sie da trug?
»Kann ich euch irgendwie helfen?«, traute ich mich dazwischenzuquatschen, als Vicky gerade darüber sinnierte, wie ein Kuss-Emoji in einem bestimmten Kontext zu interpretieren sei. Esther überlegte kurz und zeigte dann auf einen großen Einkaufskorb, der an einer Wand lehnte. »Da sind Knabbersachen, magst du die in Schalen verteilen? Nimm dir einfach welche aus dem Regal.« Ihrem Tonfall konnte ich entnehmen, dass sie es gewohnt war, anderen Anweisungen zu geben.
Ich hob einen Stapel bunte Schüsseln vom Regalbrett und stellte sie nebeneinander auf die lange Tafel. Als ich die ersten Chipstüten aus der Einkaufstasche zog und mich langsam wunderte, wer heute noch alles zu uns stoßen würde, kam Filiz mit zwei Frauen in Hippie-Rüschenkleidern und zwei Männern in Jeans und weißen Turnschuhen zurück. Sie wurden überschwänglich von Esther und Vicky begrüßt, die alle vier auf den Mund küsste. Ich wurde beiläufig vorgestellt, dann begannen die anderen, Gläser aus einem Küchenschrank zu nehmen und mitgebrachte Miniwraps auf Tabletts anzurichten.
Filiz holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank und reichte mir eine. »Tut mir leid, morgen haben wir mehr Ruhe.«
»Du?«, raunte ich ihr zu, während Meersalz-Ofenchips aus der Tüte in meiner Hand knisternd in eine der Schalen fielen. »Wer sind die alle?«
»Ach«, Filiz wuschelte sich durch die Locken. »Die sind wegen der Party hier und helfen bei den Vorbereitungen.«
»Party?«
Sie zwirbelte eine wilde Strähne von ihrer Stirn. »Hab ich dir doch erzählt.«
Noch ehe ich widersprechen konnte, klingelte es, und wieder entwischte meine Freundin mir.
Als ich alle Snacks auf sämtlichen Tischen im Raum verteilt hatte, waren bereits an die dreißig Leute anwesend. Ich stand etwas ratlos am Rand und sah ihnen zu, wie sie kichernd miteinander anstießen und Eiswürfel aus dem amerikanischen Kühlschrank in Salatschüsseln und Eimern in Richtung Badewanne trugen. Vicky war nun offenbar mit Kochen fertig, verschwand in ihrem Zimmer und kam in einem knappen Overall und mit schimmerndem Lipgloss zurück. Esther zupfte an Vickys Hosensaum, als sei sie ihre Mutter und nicht einverstanden, dass er im oberen Drittel ihrer braungebrannten...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Bestseller • Bücher Roman • eBooks • Frauenromane • Liebesromane • Neuerscheinung • Neuerscheinung Roman • Nordsee • Romane für Frauen • Softcover • Sommerbuch • Taschenbuch |
ISBN-10 | 3-641-28644-1 / 3641286441 |
ISBN-13 | 978-3-641-28644-6 / 9783641286446 |
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