Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord (eBook)
320 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-28947-8 (ISBN)
Gerade erst ist der Polizist Jean-Baptiste Adamsberg aus der tiefsten Pyrenäenprovinz nach Paris gekommen, doch sein Ruf eilt ihm voraus: Er sei still, ein Einzelgänger, der in seiner eigenen Welt lebt. Und er habe das Talent, komplizierte Fälle auf höchst ungewöhnliche Weise zu lösen. Anfangs eckt er mit seiner verschrobenen Art an, aber dann wird das Kommissariat des 5. Arrondissements zu einem Fall gerufen, der zuerst wenig mit einem Verbrechen zu tun zu haben scheint. In ganz Paris tauchen über Nacht merkwürdige blaue Kreidekreise auf. In deren Mitte liegt stets ein willkürlicher, wertloser Gegenstand: eine Bierdose, eine alte Fahrkarte, ein abgenagter Knochen. Seine Kollegen nehmen die Vorkommnisse nicht ernst, doch Adamsberg ahnt, dass der scheinbar harmlose Kreidezeichner einen perfiden Plan verfolgt. Und bald trifft ein, was Adamsberg befürchtete: Ein toter Mensch liegt im blauen Kreis ...
»Fred Vargas' Krimis sind etwas Besonderes - eigenwillig, mit geradezu genialem Plot und viel französischem Esprit!« Bestsellerautorin Sophie Bonnet
»Lässig, klug, anarchisch und manchmal ziemlich abgedreht - die Krimis von Fred Vargas sind sehr französisch und zum Niederknien gut.« Bestsellerautor Cay Rademacher
»Fred Vargas erschafft nicht nur Figuren, sondern echte Charaktere. Sie kennt die Abgründe, die Sehnsüchte und die Geheimnisse der Menschen - und Commissaire Adamsberg ist für mich einer der spannendsten Ermittler in der zeitgenössischen Literatur.« Bestsellerautor Alexander Oetker
Wenn Ihnen die Krimis um Kommissar Adamsberg gefallen, lesen Sie auch die Evangelisten-Reihe unserer internationalen Bestseller-Autorin Fred Vargas!
Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für »Fliehe weit und schnell« den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk und 2016 den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International für »Das barmherzige Fallbeil«.
2
Man hatte ihn zum Kommissar in Paris berufen, im 5. Arrondissement. Er ging zu Fuß zu seinem neuen Büro, es war sein zwölfter Tag.
Zum Glück war es Paris.
Es war die einzige Stadt des Landes, mit der er sich anfreunden konnte. Er hatte lange geglaubt, dass der Ort, an dem er lebte, ihm egal war, so egal wie die Nahrung, die er zu sich nahm, so egal wie die Möbel, die ihn umgaben, so egal wie die Kleidungsstücke, die er trug – geschenkte, geerbte, irgendwo gefundene Kleidungsstücke.
Aber mit dem Ort, an dem er lebte, war es schließlich nicht so einfach. Jean-Baptiste Adamsberg war barfuß durch das gesamte felsige Gebirge der Basses-Pyrénées gezogen. Er hatte dort gelebt und geschlafen, und später, als er Bulle geworden war, hatte er dort gearbeitet, sich mit Morden beschäftigt, mit Morden in steinernen Dörfern, Morden auf mineralischen Pfaden. Er kannte das Geräusch der Steine unter den Füßen auswendig, er kannte das Gebirge, das einen an sich drückt und einen bedroht wie ein alter, muskulöser Mann. In dem Kommissariat, in dem er mit fünfundzwanzig angefangen hatte, sagten sie, er sei ein »Wäldler«. Vielleicht in Anspielung auf seine Wildheit, seine Einsamkeit, er wusste es nicht genau. Und er fand es weder originell noch schmeichelhaft.
Er hatte eine der jungen Inspektorinnen gefragt, warum, sie war seine direkte Vorgesetzte, die er gerne geküsst hätte, die aber zehn Jahre älter war, sodass er es nicht wagte. Sie wurde verlegen, sie meinte: »Wie soll ich sagen, betrachten Sie sich mal in einem Spiegel, dann verstehen Sie schon von allein.« Abends hatte er missmutig, weil er hellhäutige, hochgewachsene Gestalten liebte, seinen kleinen, stämmigen, dunklen Körper betrachtet, und am nächsten Tag hatte er gesagt: »Ich habe mich vor den Spiegel gestellt, ich habe hineingesehen, aber ich habe nicht richtig verstanden, was Sie meinen.«
»Adamsberg«, hatte die Inspektorin etwas müde, etwas überfordert erwidert, »warum sagen Sie solche Sachen? Warum fragen Sie so was? Wir arbeiten an einem Uhrendiebstahl, das ist alles, was es zu wissen gibt, und ich habe nicht die Absicht, über Ihren Körper zu reden.« Und sie hatte hinzugefügt: »Ich werde nicht bezahlt, um über Ihren Körper zu reden.«
»Schon gut«, hatte Jean-Baptiste gesagt, »regen Sie sich nicht so auf.«
Eine Stunde später hatte er gehört, wie die Schreibmaschine innehielt und die Inspektorin nach ihm rief. Sie war verstimmt. »Klären wir das«, hatte sie gesagt, »sagen wir, es ist der Körper eines Waldkindes, das ist alles.« Er hatte geantwortet: »Wollen Sie sagen, er sei primitiv, er sei hässlich?« Da war sie ihm noch überforderter vorgekommen. »Bringen Sie mich nicht dazu zu sagen, Sie seien schön, Adamsberg, aber Sie haben Anmut genug, kommen Sie damit im Leben zurecht«, und Müdigkeit und Zärtlichkeit hatten in ihrer Stimme gelegen, dessen war er sicher. So sicher, dass er sich noch mit einem leichten Kribbeln daran erinnerte, vor allem, weil das mit ihr nie wieder vorgekommen war. Er hatte mit klopfendem Herzen auf die weitere Entwicklung gewartet. Vielleicht würde sie ihn küssen, vielleicht, aber sie hörte auf, ihn zu duzen, und sie hatte nie mehr etwas dazu bemerkt. Nur dies noch, und sie sagte es irgendwie hoffnungslos: »Und Sie haben nichts bei der Polizei verloren, Jean-Baptiste. Die Polizei ist nicht der Wald.«
Sie hatte sich getäuscht. Im Lauf der folgenden fünf Jahre hatte er Schlag auf Schlag vier Morde aufgeklärt – auf eine Weise, die seine Kollegen verblüffend fanden, das heißt ungerecht und provozierend. »Du tust keinen Strich, Adamsberg«, sagten sie ihm, »du sitzt da, trödelst rum, träumst, betrachtest die Wände, kritzelst auf den Knien kleine Skizzen auf Zettel, als ob du die Weisheit gepachtet und das ganze Leben vor dir hättest, und dann kommst du eines Tages unbekümmert und freundlich an und sagst: ›Man sollte den Herrn Pfarrer verhaften, er hat den Kleinen erwürgt, damit er nicht redet.‹«
Auf diese Weise war das Waldkind mit den vier Morden zunächst Inspektor geworden, dann Kommissar, und kritzelte noch immer stundenlang winzige Zeichnungen auf den Knien, auf völlig unförmigen Hosen. Vor zwei Wochen hatte man ihm Paris vorgeschlagen. Er hatte seinen mit Graffiti übersäten Schreibtisch hinter sich gelassen, den er zwanzig Jahre lang vollgekritzelt hatte, ohne dass das Leben ihn je ermüdet hätte.
Und dennoch, was konnten die Leute ihn manchmal nerven! Als ob er zu häufig im Voraus wüsste, was er hören würde. Und jedes Mal dachte er: »Jetzt wird der Typ das und das sagen«, und er ärgerte sich über sich selbst, er fand sich unausstehlich, und das noch mehr, wenn der Typ es tatsächlich sagte. Dann litt er und flehte, irgendein Gott möge ihm eines Tages die Überraschung und nicht das Wissen gewähren.
Jean-Baptiste Adamsberg rührte in seinem Kaffee, er saß in einem Bistro auf der Straßenseite gegenüber seinem neuen Kommissariat. Wusste er jetzt besser, warum man ihn für einen Wäldler gehalten hatte? Ja, er sah in der Sache schon ein bisschen klarer, aber die Leute reden ja auch einfach so drauflos. Er vor allem. Eins jedenfalls war sicher, dass allein Paris in der Lage war, ihm die Welt der Steine wiederzugeben, die er brauchte, wie ihm klar wurde.
Paris, die Stadt aus Stein.
Natürlich gab es hier auch Bäume, das war unvermeidlich, aber sie waren einem egal, er brauchte sie einfach nur nicht anzusehen. Und die Grünanlagen müsste er einfach nur meiden, und alles liefe gut. In Sachen Vegetation mochte Adamsberg ausschließlich kümmerliche Büsche und unterirdisch wachsendes Gemüse. Sicher war auch, dass er sich offensichtlich gar nicht so verändert hatte, denn die Blicke seiner neuen Kollegen erinnerten ihn an die in den Pyrenäen vor zwanzig Jahren, es war dieselbe diskrete Bestürzung, die hinter seinem Rücken gemurmelten Worte, ein gewisses Kopfschütteln, verärgert zusammengekniffene Lippen und die zum Zeichen der Machtlosigkeit ausgebreiteten Arme. All diese lautlosen Reaktionen, die ausdrückten: Was ist das bloß für einer?
Er hatte behutsam und ruhig gelächelt, behutsam und ruhig hatte er die Hände geschüttelt, hatte erklärt und zugehört, weil Adamsberg immer alles behutsam und ruhig machte. Aber nach elf Tagen näherten sich ihm seine Kollegen noch immer mit dem Ausdruck von Menschen, die sich fragen, mit welcher neuen Gattung sie es hier nun eigentlich zu tun haben, womit man ihn wohl füttern, wie man wohl mit ihm reden müsste, wie man ihn wohl zerstreuen oder Interesse bei ihm wecken könnte. Seit elf Tagen war das Kommissariat des 5. Arrondissements in Gewisper versunken, als ob ein heikles Geheimnis das normale Leben hätte innehalten lassen.
Der einzige Unterschied zu Adamsbergs Anfängen in den Pyrenäen lag darin, dass sein guter Ruf die Dinge jetzt ein wenig einfacher machte. Aber darüber vergaß man trotzdem nicht, dass er von anderswo herkam. Gestern hatte er den ältesten Pariser der Truppe leise sagen hören: »Er kommt aus den Pyrenäen, verstehst du, also quasi vom Ende der Welt.«
Adamsberg hätte seit einer halben Stunde im Büro sein müssen, aber er saß noch immer im Bistro gegenüber und rührte in seinem Kaffee.
Nicht, dass er es sich erlaubte, zu spät zu kommen, weil ihm heute, mit fünfundvierzig, ein gewisser Respekt entgegengebracht wurde. Er war schon mit zwanzig immer zu spät gekommen. Sogar bei seiner Geburt war er sechzehn Tage zu spät dran gewesen. Adamsberg hatte keine Uhr, aber er war auch nicht in der Lage zu erklären, warum nicht, er hatte nichts gegen Uhren. Auch nicht gegen Schirme. Eigentlich gegen gar nichts. Nicht, dass er nur das hätte tun wollen, was er mochte, es lag einfach daran, dass er sich nicht zu etwas zwingen konnte, wenn seine Stimmung etwas Gegenteiliges bevorzugte. Das hatte er noch nie gekonnt, nicht einmal, als er der schönen Inspektorin gefallen wollte. Nicht einmal für sie. Man hatte gesagt, Adamsberg sei ein hoffnungsloser Fall, und manchmal war das auch seine Ansicht. Aber nicht immer.
Und heute war seine Stimmung so, dass er langsam in einem Kaffee rühren musste. Vor drei Tagen war jemand in seinem Stofflager ermordet worden. Seine Geschäfte schienen so zwielichtig, dass drei von den Inspektoren seine Kundenkartei durchforsteten, in der Überzeugung, den Mörder darin zu finden.
Adamsberg machte sich um den Fall keine allzu großen Sorgen, seitdem er die Familie des Toten gesehen hatte. Seine Inspektoren suchten einen betrügerischen Kunden, sie hatten sogar eine ernsthafte Spur, und er sah sich den Stiefsohn des Toten an, Patrice Vernoux, ein hübscher Kerl, dreiundzwanzig, zart, romantisch. Mehr machte er nicht, er sah ihn sich einfach nur an. Er hatte ihn schon dreimal aus verschiedenen Gründen ins Kommissariat bestellt und ließ ihn von egal was erzählen: Was er von der Glatzköpfigkeit seines Stiefvaters halte, ob ihn das anwidere, ob er Stofffabriken möge, was er darüber dächte, wenn es einen Streik der Elektrizitätswerke gäbe, wie er es sich erkläre, dass sich so viele Leute für Ahnenforschung interessierten.
Beim letzten Mal, gestern, war das Gespräch folgendermaßen abgelaufen:
»Finden Sie sich schön?«, hatte Adamsberg gefragt.
»Es fällt mir schwer, nein zu sagen.«
»Sie haben recht.«
»Könnten Sie mir sagen, warum ich hier bin?«
»Ja. Wegen Ihres Stiefvaters natürlich. Es hat Sie doch gefuchst, dass er mit Ihrer Mutter schlief, haben Sie mir gesagt.«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Ich hätte sowieso nichts dagegen tun können, außer ihn umzubringen, und das habe ich nicht getan....
Erscheint lt. Verlag | 23.5.2022 |
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Reihe/Serie | Kommissar Adamsberg ermittelt | Kommissar Adamsberg ermittelt |
Übersetzer | Tobias Scheffel |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L'homme aux cercles bleus |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Adamsberg • Alexander Oetker • Bannalec • Cay Rademacher • Das barmherzige Fallbeil • Der Zorn der Einsiedlerin • Die Nacht des Zorns • eBooks • Ermittlerkrimi • Frankreich • frankreich-krimi • Frankreich-Urlaub • Kommissar • Krimi • Krimiklassiker • Kriminalromane • Krimis • Mordserie • Neuerscheinung • Paris • Preisträgerin • Pyrenäen • Regionalkrimi • Sophie Bonnet • Spiegel-Bestsellerautorin |
ISBN-10 | 3-641-28947-5 / 3641289475 |
ISBN-13 | 978-3-641-28947-8 / 9783641289478 |
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