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Ritchie Girl (eBook)

Roman | »Ein packendes Buch, das tief in die Abgründe der deutschen Nachkriegsgeschichte vordringt.« Deutschlandfunk
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
464 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76968-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ritchie Girl - Andreas Pflüger
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Paula Bloom kehrt nach ihrer Ausbildung in Camp Ritchie, Maryland als amerikanische Besatzungsoffizierin in ein zerstörtes und gebrochenes Deutschland zurück, das sie vor neun Jahren über Nacht verlassen hatte. Als Tochter eines amerikanischen Geschäftsmannes führte sie im Berlin der Nazizeit ein Leben im goldenen Käfig. Ein Leben, das eine Lüge war. Jetzt glaubt Paula, dass sie niemals vergeben kann. Nicht den Deutschen. Und nicht sich selbst.

Während in Nürnberg über die Hauptkriegsverbrecher gerichtet wird, arbeitet man in einem Camp der US-Army nahe Frankfurt längst wieder mit Nazitätern zusammen. Im Maschinenraum des Kalten Krieges haben Pragmatiker das Sagen, an deren Zynismus Paula verzweifelt. Hier trifft sie auf Johann Kupfer, einen österreichischen Juden, der den Amerikanern seine Dienste anbietet. Er behauptet, der größte Spion des Zweiten Weltkriegs gewesen zu sein. Paula soll herausfinden, ob das die Wahrheit ist. Doch wer die Wahrheit sucht, muss sie auch ertragen.
In einem Roman von ungeheurer erzählerischer Wucht schreibt Pflüger über Schuld und Scham, aber auch über Hoffnung und die Kraft der Liebe.



Andreas Pfl&uuml;ger wurde 1957 in Th&uuml;ringen geboren. Er wuchs im Saarland auf und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Zu seinen Werken z&auml;hlen Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele, Drehb&uuml;cher, Dokumentarfilme und Romane. Nach dem Spionagethriller <em>Operation Rubikon</em>, seiner preisgekr&ouml;nten Bestseller-Trilogie um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron und <em>Ritchie Girl</em> legt Pfl&uuml;ger nun seinen sechsten Roman vor.

Mae West


Diese eine Welle würde sie nie vergessen. Noch bevor der taumelnde Bug des Schiffes sie rammte, fühlte Paula sie heranrollen, eine Walze von seelenloser Urgewalt, geschmiedet nur für den Moment, in dem sie den Stahl der U.S.S. Coleman zum Beben und Knirschen brachte und das zweite Unterdeck in ein Panoptikum von zitternden Fratzen verwandelte.

Sie starrte in die Augen von Violet auf der Pritsche über ihr, dachte, wie kann das sein, und wurde gewahr, dass sie auf dem Boden lag. Violets Mund klappte zu einem Schrei auf, stumm, weil Paulas Herzhämmern alles andere übertönte; die mollige Violet, gleich alt, keine dreißig, die am Pier in New Jersey von den Großeltern und einer Tante verabschiedet worden war, so innig, dass Paula, die kein Lebewohl bekam, von niemandem, einen Stich gespürt hatte.

Als der Schiffskörper wie eine Glocke dröhnte, auf die King Kong eindrosch, und die zweite Welle, jetzt aus nackter Angst, durch die sechshundert Menschen raste, die man in drei Lagen übereinandergestapelt hatte, füllte Violets weit auf‌klaffender Mund Paulas ganzes Blickfeld aus.

Sie vermeinte, in der Luft zu hängen, eine schwebende Jungfrau in einem Zaubertrick des Meeres. Sie wollte sich an einer Strebe festhalten, streckte sich, griff ins Leere. Sie ruderte mit den Armen, flog gegen ein Heizungsrohr.

Etwas schlug nach ihr. Es wurde stockfinster, dann flackerten die zwei roten Funzeln wieder, erloschen, flackerten. Vor Paula zuckten Gesichter von Männern auf, wirre Blicke, eine schneeweiße Faust, die den Schaft eines Bajonetts umschloss; Soldaten, die noch beim Kohlenbunkern in Gibraltar, wo der Hafen schwarz von britischen Kriegsschiffen gewesen war, an der Reling gestanden und Mädchen hinterhergepfiffen hatten, in den Mundwinkeln lässig Kippen.

Aber jetzt, nach drei Tagen Sturm und der dauernden Angst vor deutschen U-Booten, sah Paula in allen Augen, was auch sie wie eine Atemnot quälte: die Frage, ob sie in diesem Krieg, den die meisten bloß aus March of Time kannten, je ankämen oder ob sie hier unten sterben mussten, in diesem Gefängnis, das von Ungeziefer starrte, in dem es nach Diesel, Schmieröl, klammer Kleidung und Erbrochenem stank.

Als sie aus einem Dämmer hochschreckte, Bewusstlosigkeit näher als Schlaf, war es vorbei. Sie wusste nicht, ob Tag oder Nacht war. Das Schiff schaukelte sachte. Dass sie Fahrt machten, erkannte Paula nur am Stampfen der Motoren. Violet, die schon beim Ausrücken aus Camp Ritchie resolut erklärt hatte, dass sie auf gar keinen Fall ungeschminkt in den Krieg ziehen würde, malte die Lippen nach. Aber ihre Augen waren stumpf, noch in der Hölle der letzten Tage.

Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wagte Paula sich nach oben. Vom Fallreep warf sie einen Blick in das zweite Quartier, auch dort sechshundert, apathisch. Draußen herrschte tiefe Nacht. Soldaten lehnten an der Reling. Alle hatten Mae West am Hals, die Schwimmweste, die niemand ablegen durfte, nicht einmal beim Schlafen. Die Männer flüsterten, noch zerschlagen vom tagelangen Beten.

Sterne so fett wie mit Fingerfarben an den Himmel gemalt, aber nirgends Land. Paula saugte die klare Salzluft ein, um die Angst nicht mehr zu schmecken. Sie spürte Blicke. Vermutlich waren die Frauen des Women’s Army Corps, die sich an Bord befanden, für diese Männer die letzten Amerikanerinnen, die sie auf lange Zeit zu Gesicht bekamen. Sie verstand das. Doch jetzt wollte sie für sich sein. Sie sehnte sich danach, den widerwärtigen Geruch loszuwerden, wollte ihr Zittern nicht hinter Geplänkel verstecken.

Erneut fragte sie sich, wohin man sie bringen würde. Allein die höheren Offiziere kannten das Ziel. Einem mickrigen First Sergeant wie ihr blieben nur Mutmaßungen. Bei ihrem letzten Deckaufenthalt war es nach Osten gegangen; das konnte alles und nichts bedeuten. Vielleicht Malta, ein sonniger Posten in dem dortigen Hauptquartier, das die amerikanisch-britischen Operationen im Mittelmeerraum koordinierte.

Oder Sizilien, wo der Krieg längst vorbei war.

Wenn sie Pech hatte: Griechenland. Dort kämpften die Engländer gegen kommunistische Partisanen, wie Paula in Camp Ritchie erfahren hatte. Die Alliierten tauschten das Personal je nach Bedarf; keiner wurde nach einer Wunschliste gefragt.

Paula sah zum Himmel und suchte den Polarstern, rätselte, welcher es war. Violet wüsste es. In Ritchie waren die Männer in Wetterbeobachtungen geschult worden, und Violet war für das Unterrichtsmaterial zuständig gewesen. Obgleich sie eine Zeit auf derselben Stube gelegen hatten, kannten sie einander nur flüchtig. Paula wusste wenig mehr von Violet, als dass sie aus Texas stammte und ihr Mann bei den Bombern im Pazifik war. Als Dexter ausrücken musste und Violet sich in Galveston an der Bushaltestelle von ihm verabschiedet hatte, war sie von einer sympathischen Frau in der Uniform des Women’s Army Corps angesprochen worden. Die Frau hatte sie gefragt, ob sie helfen wolle, ihren Mann schnell heimzubringen. Kaum hatte Violet genickt, war sie um eine Unterschrift gebeten worden. Sie hielt es für eine Art Petition, wurde indes eines Besseren belehrt, als sie sich kurz darauf in Ritchie wiederfand.

»Trotzdem Schwein gehabt«, hatte sie erklärt, nachdem sie ihre Geschichte dort zum Besten gegeben hatte. »Als ich eine Woche hier war, kam Hurricane Surprise auf einen Sprung in Galveston vorbei und hat unser Haus zum Baden in die West Bay geschickt. Stellt euch vor, ich wäre drin gewesen; ich kann doch gar nicht schwimmen.« Sie war eine von denen, die sich über den verrückten Jitterbug, den ein Leben tanzen konnte, keine großen Gedanken machten. Violet und Paula waren die einzigen Schreibkräfte an Bord; die anderen Frauen gehörten dem Schwesterncorps an, GI Nightingales. Etliche würden auf der Coleman bleiben, um bei der Rückfahrt die Verwundeten zu pflegen, die sie in ihrem Zielhafen aufnähmen. Die Übrigen kämen sicher an die Front.

Paula dachte an Sam, ihren besten Freund in Ritchie. Wie mochte es ihm ergangen sein? Ende November hatte sie einen Brief von ihm bekommen, Zeilen, bei denen er hoffen musste, dass sie durch die Zensur gehen würden. Ritchie besaß dafür eine eigene Dienststelle, und Sam konnte nicht wissen, dass Paula inzwischen eine von denen war, die in der Feldpost alles schwärzten, was Hinweise auf das jeweilige Einsatzgebiet und die dortige Lage hätte geben können. Ihre Vorgesetzten glaubten, dass Frauen ein scharfes Gespür dafür hätten, verborgene Botschaften in den Briefen zu entdecken.

Als ob Schnüffeln uns im Blut läge, hatte Paula gedacht.

Aber es ließ sich nicht leugnen, sie war sehr gut darin. Auch Sam hatte ihr einen Hinweis hinterlassen, als er schrieb, dass das Essen erstaunlich lecker ist, fast wie an dem Tag im Camp, als man uns diesen Vortrag über Sexualhygiene hielt und wir so lachen mussten. Es hatte Paula verraten, dass Sam in Frankreich war, denn an besagtem Abend hatte ihr neuer Koch, ein Franzose, der zuvor Küchenchef im Waldorf Astoria gewesen war, ein fulminantes Cassoulet aufgetischt, und Ritchie hatte sich für eine Stunde in einen fast lebenswerten Ort verwandelt.

Die Arbeit in der Zensurstelle war nur ein kleiner Teil von Paulas Arbeit gewesen. Sie beherrschte fließend Französisch und Deutsch; vor allem hatte sie Nachrichten der Résistance übersetzt, außerdem Funksprüche von Widerstandsgruppen wie der Roten Kapelle. Doch am härtesten war die Zensur der Feldpost für die in Ritchie stationierten Frauen, deren Männer im Krieg kämpften. Häufig hatte sie schlimme Nächte, wachgehalten von der Frage, ob sie das Recht hatte, ihnen zu unterschlagen, wie es um ihre Liebsten stand. Das waren dieselben Frauen, die sie aufsuchen musste, wenn deren Antwortbriefe nicht patriotisch genug waren. Sie hatte ihnen einzuschärfen, keine Sorgen zu...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-76968-5 / 3518769685
ISBN-13 978-3-518-76968-3 / 9783518769683
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