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Eine andere Epoche (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76959-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine andere Epoche - Ulf Erdmann Ziegler
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Berlin, Bundestag, Herbst 2011. Die SPD schlummert in der Opposition, als an einem Novembertag in Eisenach ein ausgebranntes Wohnmobil gefunden wird: Das Ende einer rechtsextremen Terrorzelle stellt die noch junge Berliner Republik vor nahezu unlösbare Fragen. Plötzlich zur moralischen Instanz erhoben, brilliert der Abgeordnete Andi Nair als Vorsitzender des eingesetzten Untersuchungsausschusses. Protokolliert wird das Geschehen von seinem Büroleiter Wegman Frost, der die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann und in einen Strudel von Selbstzweifeln gerissen wird. Als Pflegekind mit ungewisser Herkunft hatte ihn sein Einsatz gegen Fremdenhass in die Politik geführt. Damit ist er nicht allein: Sein Freund aus Jugendtagen, Flo Janssen - einst als namenloses Baby aus dem brennenden Saigon ausgeflogen -, steht jetzt am Rednerpult des Reichstags und verkündet neoliberale Ideen. Der ist nicht irgendjemand, er ist der Vizekanzler.

Der neue Roman Ulf Erdmann Zieglers nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine andere Epoche erzählt von rechtem Terror, einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität. Leidenschaftliche Demokraten geraten an die Grenzen ihrer Erklärungsmuster. Sie ahnen das Ende einer Zeit, auf der ihre eigene Lebensgeschichte gegründet ist.



<p>Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neum&uuml;nster/ Holstein. Sein Roman <em>Hamburger Hochbahn</em> stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien <em>Nichts Wei&szlig;es</em>, sp&auml;ter nominiert f&uuml;r den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, &raquo;eine neue Art realistischen Erz&auml;hlens&laquo;. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.</p>

Sie sprachen so, dass der Fahrer kaum mithören konnte. Auch lief leise dessen Radio, aber nur vorn.

»Gibt es in Zwickau denn kein Finanzamt – dass mal einer fragt: Wovon leben Sie eigentlich?« Das fiel Wegman ein, als sie an Dessau vorbeifuhren. Es sah so aus, als würde es nachmittags um halb drei schon dunkel werden.

»Und was waren die von Beruf?«, schob er nach.

»Nichts«, antwortete Nair.

»Als was haben sie sich gegenüber den Nachbarn ausgegeben? Wer war der Postbote – ein Komplize?«

»Wegman, es soll kein Roman werden.«

»Nur weil du mich fragst.«

»Zwickau.«

»Das ist es, was mir einfällt. Ich finde das alles ganz, ganz unwahrscheinlich. Das ist nicht, als wenn die Mafia eine Pizzeria eröffnet. Das ist etwas anderes.«

Marion Wrede war das zweite von vier Kindern eines Pastors im holsteinischen Friedrichskoog, der seine Familie am Cembalo beim Singen von Bachkantaten begleitet hatte. Ein wackeres Mädchen, Rettungsschwimmerin an der Nordsee, hatte sie ihre Familie, zu deren völliger Verwunderung, am Tag nach der Verleihung des Abiturzeugnisses verlassen und zwei Wochen später in Düsseldorf eine Banklehre begonnen. Mit zwanzig Jahren saß sie in einem Sparkassencontainer in Hoyerswerda und vergab Kleinkredite für den Gebrauchtwagenkauf. Gleich nach der Lehre wechselte sie zur Deutschen Bank, wo ihre Talente erkannt wurden, man drängte sie zum Studieren, trug ihr nach dem Diplom eine erste Leitungsposition an – Börsengeschäfte – und schickte sie mit sechsundzwanzig Jahren nach New York, Joggen am East River, Dinnerpartys, Neunstundentage hinter Glas mit Sicht auf die glitzernden Achsen der großen Stadt.

Sie mochte die aalglatte Schale ihrer Zunft, an sich selbst und auch an anderen Frauen, eine Annäherung an die männliche Ausstattung – Schulterpolster, Nadelstreifen, Bügelfalten. Die Pastorentochter hatte es schon früh abgelehnt, den Körper auszustellen, die Jeans eine Nummer zu groß und den gestrickten Pullover drüber als Vorhang. So sah ein norddeutsches Mädchen eben aus. Aber derselbe Körper konnte genauso gut auf silbernen Pumps übers Parkett klicken, im kleinen Schwarzen, sie hatte das im ersten Herbst im Rheinland ausprobiert. Nein, da war der Bankerinnendress der bessere Ersatz, die elegantere Fassung von Unsichtbarkeit. Die Muckibude mit Acrylschweiß war gar nicht in Frage gekommen bis New York, wo sie, früh gewarnt, Kollegen nie an sich ranließ, keine Berührung der Arme, wenn man gemeinsam auf den Bildschirm schaute, kein Lüpfen der Augenbrauen im Fahrstuhl und, nein, keine sogenannten Dates, die sich auf ein Regelsystem bezogen, das sie ohnehin nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte. Das war eine einsame Strecke gewesen, das erste Jahr, der Leib wird erst etwas tumb, dann knisternd, und obwohl sie ja die Avancen der jungen Männer im Büro nicht wollte und der älteren auch nicht, war es dennoch schmerzhaft, irgendwann unter die Dinge des Alltags eingereiht zu werden, ein Möbel aus Deutschland. Komische Frau, spekulieren tut sie mit Leidenschaft.

Das Fitnesstraining war es dann doch gewesen, wieso war sie nicht gleich drauf gekommen, da waren zunächst mal alle ähnlich, das Outfit, der Habitus, die mechanische Arbeit an den Geräten – Männer und Frauen, manche irgendetwas dazwischen, Alter nicht wichtig, die Berufe weit gestreut: Verkäufer, IT-Leute, Juristen, Designer, Krankenschwestern, Musiker. Das fiel Marion leicht, vom Laufband steigen und in ein Gespräch fallen, nichts Längeres, nichts Verbindliches. Aber wenn man sich die Essentials merkte, sah man nach wenigen Wochen beim Eintreten die ganze Gesellschaft vor sich, und jeder gehörte automatisch dazu; sie selbst als eine von vielen mit gespannten Waden und festem Po und dem kleinen bisschen Zuviel an Muskeln in den Oberarmen. Sie ähnelten sich, diese weiß beleuchteten Hallen hinter getöntem Glas, und nach der ersten Affäre, im Laufe derer sie ihren Körper wiedergefunden hatte, und einer zweiten, die sie hätte in eine Liebe verwandeln mögen, aber nicht konnte, wechselte sie ins dritte Studio, wo sie entdeckte, dass die interessanteren Leute nach neun Uhr am Abend trainierten, und da begegnete sie einem zum Rundlichen neigenden Mann, gestutzter schwarzer Vollbart; eine urplötzliche Begegnung der Augen im Moment der Erschöpfung nach der Anstrengung an den Maschinen; die Gesichter feucht und die Pupillen groß. Marion öffnete den Mund, sie hatte das schon Hunderte von Malen gemacht, »Hi there«, etwas würde ihr schon einfallen, was aber nicht der Fall war. Es kam einfach nichts aus ihr raus. Und der Typ kicherte auf kindliche Weise, gab ihr, was in der Muckibude nie, aber wirklich nie vorkam, die Hand und sagte: »Hello, I am Matteo.«

Wegman gefiel das so gut, dass er es sich ein zweites Mal erzählen ließ. Am Kopfende der Sitzgruppe, einstmals der Platz eines Kachelofens, hatte Marion – auf Kosten von Capital Real – einen kanadischen Woodburner, schamottummantelt, aufstellen lassen. Die Flammen leckten von innen am hitzebeständigen Glas, das in eine schmiedeeiserne Tür eingepasst war, die mittels einer Feder automatisch schloss. Ellie gefiel sich in der Rolle, noch einen Scheit nachzulegen, was bei der sparsamen Technologie des Ofens frühestens nach einer halben Stunde notwendig war. Sie hatte nichts dagegen, schlafen zu gehen, aber eine Kränkung war es doch, dass auch andere Leute das Holz bewegen konnten, bis in die Nacht. Dafür kümmerte sie sich gleich nach dem Aufstehen um die Asche.

Als er die New Yorker Anekdote ein drittes Mal hören wollte, wandte Marion ein, dass er ja selbst eine nordamerikanische Geschichte zu erzählen habe, schließlich sei er, das verstehe sie doch richtig, in Amerika geboren worden, so wie Ellie auch. Er versuchte sich herauszuwitzeln, daran könne er sich nicht mehr erinnern, aber Marion schloss die Ofentür und schwieg.

Es fing ja schon damit an, dass er eine Frau, die, seit er sieben Jahre alt war, nicht viel mehr als »Guten Tag« zu ihm gesagt hatte, seine Mutter nennen musste. Jedenfalls, wenn jemand die Geschichte verstehen sollte. Dabei war seine Erinnerung keineswegs ausgelöscht. Es gab da einen kleinen Jungen unter sehr vielen, sehr hohen Nadelbäumen, und in jedem Haus war er willkommen. Da war auch ein Vater, mit schwarzem Haar bis zu den Schultern und Bewegungen wie mit Kohlestift gezeichnet. Aus dem Bild dieses Mannes war er herausgetreten wie aus einem Spiegel; was einst dieser Mann gewesen war, war er heute selbst.

Als er in Bückeburg zehn Jahre alt war, begann er Eike zu fragen. Der war nie in Amerika gewesen. Er kannte einige Berichte seiner Schwester von ihrem Leben dort, die nicht zueinander passen wollten. Dann fiel ihm ein, dass es Briefe gab, es waren drei, und Wegman las sie alle zehnmal mindestens, er konnte sie jetzt noch fast auswendig. Sie stammten alle aus der Zeit vor seiner Geburt.

Demnach war Susanne, frisch gebackene Diplomsoziologin, im Frühjahr 1970 mit ihrem Freund, dem Amerikanisten Hans-Joachim, aufgebrochen, um Forschungen unter den Ärmsten der USA zu betreiben. Ein Buch wollten sie schreiben, das schon seinen Titel hatte: Die Vergessenen Amerikas. Es sollte einen allgemeinen und einen empirischen Teil haben. Beginnend auf einer Atlantikinsel vor der Küste Virginias, deren Brauchtum und Aberglaube mit der Zeit der Sklaverei irgendwie in Verbindung standen, waren sie ins Landesinnere gereist, die üblichen Schauplätze meidend, und hatten einen Koffer voll besprochener Tonbänder gesammelt, als sie auf dem Weg nach Westen auf einen Ureinwohner trafen, dessen Auto liegengeblieben war. Der lebte allerdings nicht mit seinen Leuten in einer Wagenburg, sondern lenkte sie zur Holzhaussiedlung am See. »Sie gehört zu einem Ort namens Hope, und ich lese das als Zeichen«, hatte sie ihrem Bruder geschrieben.

Die Geschichte bis zur Geburt war leichter erzählt als der Rest. Dieser war entscheidend gewesen für sein Leben. Was er wirklich darüber wusste, waren Gerüchte aus zweiter und dritter Hand, vermischt mit vagen Erinnerungen. Selbst, ob seine Eltern verheiratet gewesen waren und später geschieden – er wusste es nicht. Indem Marion jetzt fragte, musste Wegman daran denken, wie er selbst Eike bedrängt hatte, und am Ende war es ihm wie ein Märchen erschienen, das in Grausamkeit endet.

»Ich meine, Rotkäppchen endet ja...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 11. September • Adoption • Amerika • Antirassismus • Atomausstieg • Attentat • Aufklärung • Bankenkrise • Banküberfall • Beate Zschäpe • Berlin • Bettina Wulff • Bombenanschlag • Bückeburg • Bundespräsident • Bundesrepublik • Bundestag • Christian Wulff • Demokratie • Diskriminierung • Einbürgerung • Eisenach • Familie • Fremdenhass • Freundschaft • Friedrich-Hebbel-Preis 2008 • Gastarbeiter • Gentrifizierung • Gerechtigkeit • Gesellschaft • Gewalt • Grundgesetz • Hannover • Heimat • Herkunft • Idaho • Identität • Indianer • Indigene Völker • Kindheit • Korruption • Liebe • Migration • Mord • Nationalität • Neue Bundesländer • Niedersachsen • Nine Eleven • NSU • Opposition • Ostdeutschland • Parlament • people of colour • Politik • Polizei • Prenzlauer Berg • Presse • Rassismus • Rechtsextremismus • Republikaner • Schaumburg • Skandal • SPD • Staat • Systemtheorie • Terrorismus • Untersuchungsausschuss • Uwe Böhnhardt • Uwe Mundlos • Vater • Verfassung • Verfassungsschutz • Westdeutschland • Wiedervereinigung • Xenophobie • Zugehörigkeit • Zwickau
ISBN-10 3-518-76959-6 / 3518769596
ISBN-13 978-3-518-76959-1 / 9783518769591
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