Tote schweigen nie (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45952-2 (ISBN)
A. K. Turner, die viele Jahre als Produzentin für die BBC arbeitete, dreht Dokumentarfilme und True-Crime-Dokumentationen für das Fernsehen. Sie entwickelte die Figur der Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin, ursprünglich für eine BBC-Radio-Sendung. Val McDermid entdeckte die Autorin und lud sie zum Harrogate Crime Festival ein. Ihre ersten beiden Romane mit Cassie Raven, Tote schweigen nie und Wer mit den Toten spricht, haben die Leser*innen begeistert. A. K. Turner lebt in London.
A. K. Turner, die viele Jahre als Produzentin für die BBC arbeitete, dreht Dokumentarfilme und True-Crime-Dokumentationen für das Fernsehen. Sie entwickelte die Figur der Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin, ursprünglich für eine BBC-Radio-Sendung. Val McDermid entdeckte die Autorin und lud sie zum Harrogate Crime Festival ein. Ihre ersten beiden Romane mit Cassie Raven, Tote schweigen nie und Wer mit den Toten spricht, haben die Leser*innen begeistert. A. K. Turner lebt in London.
2. Kapitel
Wie immer war es sofort wieder vorbei. Das Ganze erinnerte Cassie an das Erwachen aus einem sehr lebhaften Traum, wenn der Verstand sich mühte, Details festzuhalten – nur um zu spüren, dass sie ihm entglitten, wie Wasser durch offene Finger rinnt.
Jedenfalls waren Mrs Connerys Worte nicht besonders hilfreich. In der Akte stand nichts von Asthma oder einem Emphysem. Sie überlegte noch, ob sie irgendetwas damit anfangen konnte – und wenn ja, was –, als sie hörte, wie die Tür aufging. Es war Doug, der Institutsleiter, gefolgt von einem hochgewachsenen jüngeren Mann mit weichen Ponyfransen, den er als Dr. Archie Cuff vorstellte, den neuen Pathologen.
Cassie streifte den Handschuh ab und streckte ihm die Hand hin.
»Cassie Raven ist unsere erfahrenste Sektionsassistentin«, verkündete Doug strahlend. »Sie sorgt dafür, dass hier alles glatt läuft.«
Obwohl er Manschettenknöpfe und Krawatte trug (Manschettenknöpfe?!), konnte Cuff höchstens dreißig sein, kaum fünf Jahre älter als Cassie. Ein einziger Blick verriet ihr, dass seine Wachsjacke wirklich von Barbour war und kein Imitat – auf dem Metallplättchen am Reißverschluss war der Firmenname eingraviert. Und nach seiner Krawatte zu urteilen – dunkelblaue Seide mit dicken weißen Schrägstreifen –, war er auf die Harrow School gegangen. Solche Dinge fielen Cassie auf, schon immer.
»Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Cathy.« Er hatte diesen unechten, semi-umgangssprachlichen Akzent drauf, den die jungen Mitglieder der Königlichen Familie so gern benutzten, sein Lächeln war so oberflächlich wie das eines Ministers, und daran, wie sein Blick über sie hinwegglitt, erkannte Cassie, dass er sie bereits in einer Schublade mit dem Etikett »Lakai« abgelegt hatte.
Es passierte nicht oft, dass Cassie jemanden vom ersten Moment an nicht leiden konnte, aber bei Archie Cuff machte sie eine Ausnahme.
»Ich mich auch«, antwortete sie. »Vor allem, wenn Sie das mit meinem Namen noch richtig hinkriegen.«
Röte stieg aus Cuffs gestreiftem Hemdkragen bis zu den rötlich blonden Koteletten empor, aber wenigstens sah er sie diesmal richtig an. Und nach dem kurzen Aufflackern des Abscheus zu urteilen, das über seine Züge huschte, gefiel ihm nicht besonders, was er sah – auch wenn es schwer zu sagen war, ob es an den schwarz gefärbten Haaren mit dem hochrasierten Undercut oder ihren Gesichtspiercings lag oder einfach nur an der Art und Weise, wie sie seinem Blick standhielt. Sie musste gegen den pubertären Impuls ankämpfen, ihren Kasack anzuheben, um ihm ihre Tattoos zu zeigen.
Dougs Blick huschte zwischen ihnen hin und her wie der eines unerfahrenen Schiedsrichters bei einem Käfigkampf, sein Lächeln geriet ins Wanken. »Na schön, dann lass ich euch mal machen.« Cassie war klar, dass er sie wahrscheinlich später an seine goldene Regel erinnern würde: »Denken Sie immer daran, der Pathologe kann Ihnen Ihren Job versüßen – oder zum Albtraum machen.«
Nachdem Cuff Mrs Connery kurz untersucht hatte, wobei sie außer dem Notwendigsten kaum etwas miteinander sprachen, überließ Cuff es Cassie, den Leichnam auszuräumen.
Sie setzte das Messer direkt unterhalb von Mrs Connerys Hals an. Dies war der Moment, wo sie aufhören musste, Kate Connery als Menschen zu sehen, und anfangen musste, sie als ein Rätsel zu betrachten, das gelöst werden musste, als unkartierte Landschaft. Wie könnte man ohne diesen Perspektivwechsel einen seiner Mitmenschen aufschneiden?
Nach dem ersten Einschnitt ließ ein entschlossener Zug mit dem Messer am Brustbein entlang das Gewebe so leicht aufklaffen wie einen alten Seidenvorhang. Sie hielt nicht inne, als sie die Weichteile des Bauches erreichte, nahm jedoch den Druck weg, um die Organe darunter nicht zu beschädigen, und beendete den Einschnitt direkt oberhalb des Schambeins.
Binnen fünf Minuten hatte die Knochenschere Mrs Connerys Brustkorb eröffnet, sodass Herz und Lunge frei lagen, und Cassie löste die Organe geschickt aus. Nachdem das erledigt war, hob sie mit beiden Händen sämtliche Eingeweide, von der Zunge bis zur Harnröhre, auf einmal heraus – sie waren verblüffend schwer – und legte sie behutsam in eine bereitstehende Plastikwanne. Dies war ein feierlicher Moment, sie kam sich dabei immer vor wie eine Hebamme des Todes.
Nun zum Gehirn. Cassie trat hinter den Kopf der Toten, rückte den Block zurecht, der ihren Nacken stützte, und machte sich daran, die Kopfhaut zu durchtrennen. Der Schnitt wurde von Ohr zu Ohr geführt, quer über den Scheitel, damit die Naht später von Mrs Connerys Haar verdeckt werden konnte – das war besonders wichtig, weil die Connerys eine Trauerfeier mit offenem Sarg geplant hatten. Als sie das dicke dunkle Haar scheitelte und einen Teil über die Stirn nach vorn kämmte, entdeckte sie einen glänzenden roten Fleck auf der Kopfhaut. Ein Ekzem? Wenn ja, dann war das in der Krankenakte nicht erwähnt worden, aber Ekzeme brachten einen ja auch nicht um.
Nachdem sie die aufgeschnittene Kopfhaut nach vorne und hinten auseinandergeklappt hatte, griff Cassie zur oszillierenden Knochensäge. Kurz darauf hatte sie die Schädeldecke vorsichtig abgehoben und löste das Gehirn aus. Während sie es einen Moment lang in den beiden Händen hielt, stellte sie sich vor, wie Kate Connery als lebendiger Mensch gewesen sein mochte – eine bodenständige, fröhliche Matriarchin, umgeben von Freunden und Familie bei einer Kneipentour durch Camden Town.
Als Archie Cuff in OP-Kleidung zurückkehrte, blieb die Atmosphäre zwischen ihnen frostig: In den gut vierzig Minuten, die er brauchte, um Mrs Connerys Organe zu sezieren, richtete er nur ein einziges Mal das Wort an Cassie – um sich zu beschweren, dass sein Skalpell stumpf sei. Das bestätigte ihren ersten Eindruck von ihm: Nur ein weiterer in der langen Reihe vornehmer Jüngelchen, für die Sektionsassistenten knapp über Schlachthausgehilfen rangierten. Ein erfahrenerer Pathologe hätte sie nach ihrer Einschätzung hinsichtlich der Todesursache gefragt, und das nicht nur aus Höflichkeit: Sektionsassistenten verbrachten sehr viel mehr Zeit mit den Leichen und bemerkten manchmal Hinweise, die sonst leicht übersehen werden konnten.
Während Cuff zum Waschbecken ging, um sich die blutigen Handschuhe abzuspülen, machte Cassie sich daran, Mrs Connerys Organe in einen Plastikbeutel zu packen, bereit, wieder mit ihrem Körper vereint zu werden.
»Und, wie lautet die Diagnose?«, fragte sie.
»Da gibt’s keine schlüssige Todesursache«, antwortete er achselzuckend. »Wir müssen abwarten, ob das Labor was Brauchbares findet.« Mrs Connerys Körperflüssigkeiten würden histopathologisch auf Drogen und Gewebeproben ihrer Organe auf Krankheitsanzeichen untersucht werden.
»Haben Sie in der Lunge Petechien gefunden?«, erkundigte sich Cassie beiläufig.
Cuff drehte sich zu ihr um. »Wieso?« Also hatte er welche gefunden.
Sie hob eine Schulter. »Ich fand nur, dass ihr Gesicht ziemlich verkrampft aussah.«
Ich kriege keine Luft.
Petechien – winzige geplatzte Blutgefäße – konnten ein Zeichen von Sauerstoffmangel sein.
Cuff wirkte plötzlich nervös. »Sie lag auf dem Bauch, als sie gefunden wurde. Nach dem neuesten Forschungsstand kann eine Bauchlage post mortem durchaus zu petechialen Einblutungen führen.« Er brachte ein herablassendes Lächeln zustande. »Falls Sie scharf auf einen saftigen Mord sind, haben Sie Pech, fürchte ich. Es gibt keinerlei Anzeichen für Strangulation oder gewaltsam herbeigeführtes Ersticken.«
Cassie wusste genau wie er, dass Ersticken durchaus auch eine medizinische Ursache haben konnte, doch sie verkniff sich eine Erwiderung. Als sie ein kleines Stück Niere für das Labor in ein Gefäß mit Formaldehyd fallen ließ, fiel ihr Blick auf Mrs Connerys Leichnam auf dem Autopsietisch: der Brustkorb lag aufgespreizt da wie ein offenes Buch, finstere Leere dort, wo ihre Organe hingehörten. Über dem geschändeten Körper wirkte ihr glänzendes, brünettes Haar fehl am Platze.
Das Licht der Deckenbeleuchtung flackerte grell und zwang Cassie, die Augen zu schließen. Der allgegenwärtige Formaldehydgestank war plötzlich stark genug, um hinten im Rachen zu brennen. Hinter ihren Augenlidern flackerten Bilder: Mrs Connerys rotfleckiges Gesicht, dieser schuppige Fleck auf ihrer Kopfhaut. Ihre Kehle wurde eng wie aus Mitgefühl – und jäh fiel jedes Puzzleteil an seinen Platz.
»Ich geh nur mal schnell aufs Klo«, sagte sie zu Cuff, ehe sie in den Flur hinausschlüpfte und dort ihr Handy zückte.
»Mr Connery? … Hier ist Cassie Raven, von der Pathologie.«
Zehn Minuten später war sie zurück. »Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie zu Cuff. »Aber ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Mrs Connerys Mann.«
»Ihrem Mann …?« Er klang verwirrt. Die Vorstellung, dass ein Leichnam einen Ehepartner haben könnte, schien ihm fremd zu sein.
»Ja. Bevor er gestern Abend aus dem Haus gegangen ist, hatte sie ihm gesagt, dass sie sich die Haare färben wollte.«
»Ich verstehe nicht, was …«
»Er sagt, sie hätte schon zwei Mal allergisch auf ihr Haarfärbemittel reagiert. Nichts allzu Ernstes. Aber es sieht aus, als hätte es...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2021 |
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Reihe/Serie | Raven & Flyte ermitteln | Raven & Flyte ermitteln |
Übersetzer | Marie-Luise Bezzenberger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-426-45952-3 / 3426459523 |
ISBN-13 | 978-3-426-45952-2 / 9783426459522 |
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Größe: 2,4 MB
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