John Sinclair 2240 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-1282-8 (ISBN)
Zuerst sah er den Hut, dann den Mann.
Hat er sich tatsächlich schon wieder einen neuen gekauft?, dachte Neal Sanders, als sein Kollege Gary Wind sich über den breiten Flur langsam ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz näherte. Um ihn herum war es hektisch und laut, Menschen riefen scheinbar wahllos Zahlen durch den Raum und tippten geräuschvoll auf Tastaturen herum, Telefone klingelten pausenlos. Ein ganz normaler Donnerstagmorgen an der Londoner Börse.
Sanders strich sich durch das dichte, graue Haar und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Dann hatte Gary seine Ankündigung wohl wahr gemacht und war gestern bei diesem neuen Hutmacher in der St. James Street gewesen. Er schwärmte ihm schon seit Tagen von diesem Laden vor. Sein Kollege war ein Hutnarr, er besaß mindestens ein Dutzend davon. Seine neueste Erwerbung war, soweit Sanders sich da auskannte, ein Porkpie-Hut, wie ihn oft die Musiker am Covent Garden trugen ...
Der dämonische Hutmacher
von Michael Schauer
Zuerst sah er den Hut, dann den Mann.
Hat er sich tatsächlich schon wieder einen neuen gekauft?, dachte Neal Sanders, als sein Kollege Gary Wind sich über den breiten Flur langsam ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz näherte. Um ihn herum war es hektisch und laut, Menschen riefen scheinbar wahllos Zahlen durch den Raum und tippten geräuschvoll auf Tastaturen herum, Telefone klingelten pausenlos. Ein ganz normaler Donnerstagmorgen an der Londoner Börse.
Sanders strich sich durch das dichte, graue Haar und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Dann hatte Gary seine Ankündigung wohl wahr gemacht und war gestern bei diesem neuen Hutmacher in der St. James Street gewesen. Er schwärmte ihm schon seit Tagen von diesem Laden vor. Sein Kollege war ein Hutnarr, er besaß mindestens ein Dutzend davon. Seine neueste Erwerbung war, soweit Sanders sich da auskannte, ein Porkpie-Hut, wie ihn oft die Musiker am Covent Garden trugen ...
Mit Kopfbedeckung am Arbeitsplatz zu erscheinen, war an der Börse eher unüblich, aber Gary war ein Ass in seinem Job und generierte hervorragende Umsätze, also ließen ihn seine Vorgesetzten gewähren, wenn auch mit einem leichten Zähneknirschen.
Immerhin achtete er auf dezente Farben. Der Hut war dunkelgrau und passte hervorragend zu seinem ebenfalls grauen Zweireiher mit dem purpurroten Einstecktuch. Winds schmales Gesicht war stets gebräunt, seine Züge waren fein geschnitten, die dunkelblonden, nackenlangen und sorgfältig frisierten Haare wallten unter dem Hut hervor. Verdammt, der Kerl hätte sogar mit einem Baseballcap elegant ausgesehen.
Gary Wind nahm wortlos am Schreibtisch gegenüber von Neal Sanders Platz, schaltete routiniert wie jeden Morgen seinen Computer ein und starrte auf den Monitor.
Sanders runzelte die Stirn. Was war denn mit dem los? Normalerweise wurde er stets mit einem fröhlichen, etwas zu überschwänglichen »Guten Morgen« begrüßt, und wenn sein Kollege sich einen neuen Hut geleistet hatte, musste Neal Sanders als allererstes sein Urteil darüber abgeben, obwohl er sich bei Kopfbedeckungen nun wirklich nicht besonders gut auskannte. Das nervte manchmal, aber eigentlich war Gary ein cooler Typ, also nahm Neal diese kleine Macke hin.
An diesem Morgen passierte jedoch nichts dergleichen. Gary blickte auf seinen Bildschirm, als spielte sich dort gerade die interessanteste Sache der Welt ab. Dabei sprach er kein Wort, und er tippte auch nicht auf seiner Tastatur. Die Hände hatte er flach vor sich auf den Schreibtisch gelegt. Sein Telefon begann zu klingeln, aber er hob nicht ab. Als wäre er eingefroren.
»Gary, alles klar bei dir?«, fragte Sanders.
Sein Kollege antwortete nicht. Er zuckte nicht mal mit der Wimper.
»He, Mann, was ist denn los? Ist dir irgendwas ...«
Neal Sanders verstummte. Garys Hut und sein Kopf darunter waren wie aus dem Nichts von einem roten Schimmer umgeben. Der Schimmer pulsierte im Takt eines Herzschlags, wurde dabei heller und dunkler und war im nächsten Moment wieder verschwunden. Das Ganze hatte nur einige Sekunden gedauert.
Was war denn ...?
Sanders brachte den Gedanken nicht zu Ende. Seine Augen weiteten sich. Ihm blieb die Luft weg, als habe ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus, als schnürten ihm unsichtbare Hände die Kehle zu. Diesen Anblick konnte er nicht begreifen, er wollte es nicht glauben.
Das vertraute Gesicht von Gary Wind hatte sich in einen bleichen Totenschädel verwandelt!
Sein Kollege oder zumindest das Ding, das bis eben noch sein Kollege gewesen war, griff in die Innentasche seines Jacketts – mit ganz einer ganz normalen, menschlichen Hand, wie Sanders bemerkte –, zog einen kleinen Revolver hervor und zielte auf ihn.
Der Anblick der auf ihn gerichteten Mündung riss Sanders aus seiner Starre. In dem Moment, als der Schuss krachte, warf er sich zur Seite. Etwas schlug schmerzhaft gegen seine Schulter, dann fiel er zu Boden. Unter dem Schreibtisch hindurch sah er Garys Beine. In diesem Moment erhob er sich und ging davon. Weitere Schüsse krachten, entsetzte Schreie waren zu hören.
Sanders rappelte sich auf. An der Stelle, wo die Kugel ihn getroffen hatte, war sein Hemd bereits blutdurchtränkt, aber durch das Adrenalin spürte er keine Schmerzen. Er spähte über den Schreibtisch hinweg. Von Gary Wind war nichts zu sehen, aber noch immer fielen Schüsse, Menschen liefen wild durcheinander. Mit einer Hand griff er nach seinem Handy, das neben der Tastatur seines Computers lag, und rutschte dann wieder unter den Tisch. Für den Fall, dass Gary zurückkommen sollte, bot er zumindest etwas Schutz.
Hektisch wählte Neal Sanders den Notruf.
Freie Tage hatte ich viel zu selten, und ich war fest entschlossen, den heutigen zu genießen. Aber erst, nachdem ich meine Wohnung aufgeräumt hatte, denn das war seit Langem wieder einmal fällig. Danach würde ich dieses neue indische Lokal zwei Straßen weiter ausprobieren und den Abend mit einem hoffentlich spannenden Champions-League-Spiel im Fernsehen beschließen. Ja, an diesem Tag wollte ich mich nur auf mich konzentrieren.
Als das Telefon klingelte, ahnte ich schon, dass meine Pläne soeben Makulatur geworden waren. Ich wappnete mich innerlich und hob ab. »Sinclair?«
»John, ich störe Sie wirklich nur ungern an Ihrem freien Tag.« Die vertraute Stimme von Sir James Powell drang an mein Ohr.
»Und Sie würden es wahrscheinlich auch nicht tun, wenn es nicht dringend wäre«, sagte ich und ließ meine Blicke durch mein unaufgeräumtes Wohnzimmer wandern. Der Zustand würde wohl noch eine Weile anhalten.
»Sehen Sie zufällig gerade die Nachrichten?«
»Nein, mein Fernseher ist ausgeschaltet.«
»Schalten Sie BBC ein.«
»Einen Moment, Sir.«
Wo war denn die Fernbedienung? Dort, direkt neben dem Fernseher natürlich. Ich schnappte das Gerät, schaltete es ein und wählte den Programmplatz des Nachrichtensenders. Vor dem Londoner Börsengebäude stand eine blonde Reporterin in einem roten Mantel und sprach aufgeregt in ihr Mikrofon.
Breaking News: Anschlag auf Börse, war in einem roten Band in Höhe ihrer Hüfte zu lesen. Ich stellte den Ton lauter.
»... gibt es noch keinerlei Hinweise, warum Gary Wind heute Morgen mit einer Waffe an seinem Arbeitsplatz erschien, drei seiner Kollegen erschoss und zwei weitere verletzte, einen davon schwer. Augenzeugen berichten, sie hätten nichts Auffälliges beobachtet, bis ...«
Ich drückte den Ton stumm. »Meinen Sie die Sache an der Börse, Sir James?«
»Genau die.«
»Schlimme Geschichte. Aber was hat das mit uns zu tun?«
»Ein Kollege von Gary Wind will beobachtet haben, wie sich der Kopf des Mannes kurz vor dem Amoklauf in einen Totenschädel verwandelte.«
»In einen Totenschädel?«
»Ganz genau. Natürlich halten wir diese Information vor der Presse geheim. Wie es scheint, ist diese Sache niemand anderem aufgefallen, aber wahrscheinlich ging alles viel zu schnell und die Leute haben nur noch daran gedacht, heil aus dem Gebäude zu kommen. Wind hat sich die letzte Kugel selbst in den Kopf geschossen. Als man ihn fand, war sein Gesicht völlig normal.«
»Vielleicht hat sich der Kollege die Sache nur eingebildet?«
»Das ist zwar immer möglich, aber er ist völlig sicher. Wind hat ihm gegenübergesessen und unvermittelt die Waffe gezogen, nachdem er sich verwandelt hatte. Der Mann konnte sich gerade noch zur Seite werfen. Er ist mit einer Schusswunde an der Schulter und einem leichten Schock davongekommen.«
»Wie heißt er, und wo finde ich ihn?«
»Der Name des Mannes lautet Neal Sanders. Er liegt im London Bridge Hospital. Fahren Sie hin, und sprechen Sie mit ihm. Suko ist bereits unterwegs.«
»Ich würde mir gerne die Leiche von Gary Wind ansehen. Vielleicht reagiert mein Kreuz auf sie.«
»Einverstanden. Der Tote liegt in der Gerichtsmedizin. Ich werde dort Ihr Erscheinen ankündigen.«
Ich verabschiedete mich von Sir James, legte auf, schnappte mir meine Jacke und verließ meine Wohnung.
Keine halbe Stunde später stand ich mit Suko am Krankenbett von Neal Sanders. Der Mann hatte einen dicken Verband an der Schulter und war sehr blass, was nach dem, was er erlebt hatte, nicht verwunderlich war. Und dabei hatte er noch Glück gehabt. Immerhin waren drei seiner Kollegen zu Tode gekommen, der andere Verletzte lag mit einer schweren Kopfwunde auf der Intensivstation, und es war nicht klar, ob er es überstehen würde.
»Und Sie sind ganz sicher, dass sich sein Kopf in einen Totenschädel verwandelt hat?«, fragte Suko den Mann.
»So sicher, wie ich jetzt ein Loch in der Schulter habe. Ich hab's Ihnen doch schon zweimal erzählt«, brauste er auf.
»Wir glauben Ihnen, Mister Sanders«, beruhigte ich ihn. »Aber wir müssen bei solchen Vorkommnissen besonders sicher gehen.«
»Gab es denn irgendwelche Anzeichen für eine Veränderung in Mister Winds Wesen?«, setzte Suko die...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2021 |
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Reihe/Serie | John Sinclair |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Academy • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • e Book • eBook • E-Book • e books • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horrorthriller • Horror-Thriller • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Tony-Ballard • Top • Walking Dead |
ISBN-10 | 3-7517-1282-8 / 3751712828 |
ISBN-13 | 978-3-7517-1282-8 / 9783751712828 |
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