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Sein oder Nichtsein (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30355-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sein oder Nichtsein -  Klaus Pohl
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»Ist dieses Buch ein Theaterroman? Natürlich, aber weit mehr! Ist dieses Buch ein Liebesroman? Auch das. Ist dieses Buch ein Tagebuch, eine Komödie, eine Tragödie? All das.« Joachim Meyerhoff. Es ist und bleibt ein großes Geheimnis: Wie entsteht ein Kunstwerk? Klaus Pohl ist es mit seinem grandiosen Roman »Sein oder Nichtsein« gelungen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Denn er erzählt in seinem Buch von der Entstehung eines wirklich großen Kunstwerks, der denkwürdigen »Hamlet«-Inszenierung des Starregisseurs Peter Zadek aus dem Jahr 1999 mit der Schauspielerin Angela Winkler als Hamlet. Mit zu diesem kleinen Wunder hat sicher beigetragen, dass der Autor Klaus Pohl als Schauspieler in der Rolle des Horatio selbst Teil der Inszenierung war und so an den monatelangen Probenarbeiten in Straßburg teilgenommen hat. Und so erlebt der Leser, wie sich eine Gruppe der besten Theaterschauspieler der letzten Jahrzehnte - Angela Winkler, Ulrich Wildgruber, Otto Sander, Eva Mattes u. a. - auf eine Reise ins Unbekannte begibt. Dabei erlebt er ein Abenteuer nach dem anderen, heftige Kämpfe und zarte Liebesgeschichten, Wut und Hingabe, Konkurrenz und Freundschaft, Hysterie und Selbstzweifel, Tragödien und Komödien und am Ende das unvergleichliche Glück des Entdeckens und Gelingens. Und dies nicht nur auf der Probebühne, sondern im Leben aller Beteiligten vom Regie-Zampano bis zum Bühnenbildner und der Souffleurin ... Zugleich ist Klaus Pohls Roman dieser Inszenierung nicht nur ein kulturhistorisches Dokument, sondern selbst ein poetisches Kunststück voller überraschender Wendungen und intimer Portraits.

Klaus Pohl, geboren 1952 in Rothenburg ob der Tauber lebt in New York, Berlin und Wien. Er schreibt Theaterstücke, Drehbücher, Essays, Reportagen und Romane. 2020 las Pohl seinen Roman Sein oder Nichtsein als Hörbuch ein, das Theaterleute und Literaturkritiker zu Begeisterungsstürmen hinriss, danach in mehrere Auflagen ging und das jetzt als Buch erscheint.

Klaus Pohl, geboren 1952 in Rothenburg ob der Tauber lebt in New York, Berlin und Wien. Er schreibt Theaterstücke, Drehbücher, Essays, Reportagen und Romane. 2020 las Pohl seinen Roman Sein oder Nichtsein als Hörbuch ein, das Theaterleute und Literaturkritiker zu Begeisterungsstürmen hinriss, danach in mehrere Auflagen ging und das jetzt als Buch erscheint.

9


Wollen wir uns ins Münster setzen? Dort stört uns keiner, ich kann dir den Text abhören«, sagte ich.

»Würdest du das tun?«, fragte Angela.

»Klar. Ich bin dein Horatio. Dir gehört meine ganze Zeit.«

»Ich habe heute viel Zeit, Horror«, sagte sie. »Mein Sohn wird erst in ein paar Stunden aus der Schule nach Hause kommen. Ja, vielleicht setzen wir uns ins Münster und du hörst mich ab. Betest du?«

»Ob ich bete?«

»Ja?«

»Wenn ich betrunken bin.«

Sie jauchzte.

Ums Münster machte sie einen Bogen. Vor einem Ladengeschäft, das Schaufenster voll blauer Röcke, blieb sie stehen. Das Hamlet-Textbuch hielt sie auf dem Rücken, vorgebeugt besah sie die Röcke, studierte die Preisschilder.

Ich lief ihr einfach hinterher.

»Willst du dir nicht eine schöne französische Briefmarke kaufen?«

»Warum nicht«, sagte ich.

»Es gibt sehr schöne französische Briefmarken. Du schreibst doch ständig. Für wen schreibst du denn alles auf?«

»Für die anderen. Es ist ja im Stück dein Auftrag an mich, Hamlets Auftrag. Berichte von meinem Schicksal, sagst du zu mir, sterbend. Hamlet ist jetzt mein Schicksal. Es geht sonst verloren im Bergwerk des Gewesenen. Außerdem war es immer mein Traum, so wie bei dieser Inszenierung, auf der Hinterbühne zu sitzen, halb anwesend, halb abwesend, da und zugleich nicht da, vor mir ein Tisch, Papier und Stift, und während vorn das Stück geprobt wird, schreibe ich die Wirklichkeit im Theater auf. Unter dem reichen Wörterdach des großen Meisters Shakespeare. Wer weiß, was einmal daraus werden mag.«

»Was hast du denn heute aufgeschrieben?«

»Heute habe ich die Maler aufgeschrieben auf den hohen Leitern und wie unser Meister mit Annett über Ophelia und die Liebe gesprochen hat. Ach, ja: Und wie sehr Hermann Lause Angst hat als Geist von Hamlets totem Vater, dass er sich, sobald er gesehen wird, auflöst. Deshalb hielt er sich den silbrigen Ringordner mit dem Textbuch vor das Gesicht, um eine vorzeitige Auflösung zu verhindern. Er hat ja bereits während unserer Leseprobe mithilfe von Lochverstärkern die vorzeitige Auflösung des Textbuches verhindert.«

Sie lief mir voraus in das Postgebäude hinein, wir stellten uns vor einem Schalter an. Sie kaufte einen ganzen Bogen Briefmarken. Ich nahm sechs zu drei Franc mit dem Abbild eines aufgeschlagenen Buches.

»Hast du damals, in den Siebzigerjahren, Uli als Hamlet gesehen«, fragte sie mich, »als er jung war und genial? Mit der Sonnenblume? Im roten Mantel?«

»Oh ja. Nicht nur einmal. Er war überirdisch. Für mich unvergesslich, wie Uli seinen Bochumer Hamlet als einen anarchistischen Clown spielte, der es nicht fassen kann, dass die Puppe Hamlet nicht schmolz vor dem Glutofen der mütterlichen Geilheit & Wollust: ›O schmölze doch dies allzu feste Fleisch‹. Als die Puppe tatsächlich nicht schmolz, entfesselte er in der Rolle des Dänenprinzen eine von mir noch nie gesehene, nie erlebte Feuersbrunst der Sohnesraserei gegen sich und sein allzu festes Fleisch, eine Selbstzerstörungsorgie, der schließlich alles, seine Person mit eingeschlossen, zum Opfer fiel.«

»Siehst du. Das sagen alle. Überirdisch war er.«

»Überirdisch! Pure Verzweiflung und pure Lust an dieser puren Verzweiflung. Ausweglos sein Gefängnis, das Hamlet-Gefängnis.«

»Wie kann ich neben dem Mythos seines Bochumer Hamlet bestehen? Wie? Gar nicht. Ulis Hamlet ist noch immer unvergessen. Neben ihm kriege ich die Rolle nicht in den Kopf. Erst recht nicht in meinen Bauch. Horror, ich bin eine ziemlich schlechte Idee von unserem Regisseur. Denkst du nicht? Es wird eine große Blamage!«, rief sie.

Am Ende eines Platzes, um den wie betrunken krumme Fachwerkhäuschen standen, wartete ein Gasthaus mit einem kleinen Hof, in den die niedrigen roten Dächer hineinrutschen wollten. Der Wind kam nicht hinein, allein die Sonne mit ein paar warmen Fetzen. Dorthin flohen wir.

»Bitte sprich jetzt kein Wort mehr von Hamlet, Horror, ich nehme den Hamlet mit der Sonnenblume sehr ernst. Ich bin eine Frau, nicht mehr jung, was soll ich mit dieser Rolle anfangen? Der Hamlet braucht einen großen Schuss Pubertät. Um Himmels willen«, rief sie und ließ die dunkelbraunen Haare fliegen. »Jetzt rede ich die ganze Zeit von dem Kerl. Verflixt! Nicht mehr. Biologie. Soziologie. Trincolo. Horror, ich möchte ein großes Glas Schnaps trinken.«

»Haben Sie Schnaps?«, fragte ich die junge Kellnerin.

»Oui«, sagte sie.

»Haben Sie vielleicht polnischen Wodka?«, fragte ich.

»Haben wir vielleicht polnischen Wodka?«, rief die Kellnerin von derbem Gelächter begleitet in die Gaststube hinein, aus der ein Radio mit den Verkehrsnachrichten zu hören war. Sie lachte und verschwand. Einen Augenblick später kam sie mit einer Schnapsflasche daher ohne Etikett.

Die Flasche war halb voll, ein kurzer Pfropfen steckte drauf. »Wollen Sie probieren?«

»Polnisch?«

»Von unsrem Adam aus Krakau.«

Ich zog den Pfropfen heraus und roch an der Flasche. »Riecht wie Wyborowa. Bringen Sie uns bitte Wassergläser«, sagte ich.

Sie stellte die Flasche vor uns hin und brachte Wassergläser. »Trinken Sie, so viel Sie wollen, dann rechne ich es aus. Wir haben noch eine Bouteille davon. Das Zeug trinkt hier keiner«, sagte sie.

Ich goss ein. Und, schwups, schüttete Angela den Wodka runter. Ich tat es ihr auf der Stelle gleich. Dann füllte ich unsere Gläser noch einmal.

»So«, sagte sie. »Jetzt fühle ich mich schon sieben Zentimeter größer. Dieser Zampano. Das hat er sich so ausgedacht. Mich zu Hamlet machen!«

»Ja«, rief ich und stieß die revolutionär geballte Faust in die Höhe.

Sie hob ihr Glas an die Flasche. »Mehr.«

Ich goss nach. Sie trank – schwups – auch das zweite und das dritte Glas in einem Zug aus.

Als die zweite Flasche vor uns auf dem Tisch stand, traten zwei Akkordeonspieler in den Hof.

Ich gab ihnen 100 Franc.

»Spielt«, sagte ich.

Sie spielten rumänische Lieder.

Angela goss schon wieder nach. »Wie gut mir der polnische Wodka tut.«

Die beiden Musikanten spielten, bis sich die Tische durch die alte Kastanie hinauf in den Himmel erhoben. Angela lachte und jauchzte. »Ich würde gerne Speck essen, harten Käse, und schwarzes altes Brot kauen«, rief sie.

Ich winkte der Bedienung.

»Oui«, sagte sie.

Ein paar Minuten später trug sie Speck auf und Käse und altes Weißbrot, dazu einen Topf scharfen Senf. Sie zeigte auf das Weißbrot. »Soll ich es schwarz machen?«

»Unbedingt«, rief ich.

Das Mädchen lief ins Gasthaus und kam mit schwarzer Schuhcreme zurück. Ich sah sie fragend an. »Monsieur. Fürs Brot. Sie wollen es schwarz.« Ich nickte.

»Ich glaube, Horror, du spinnst«, sagte Angela.

»Ja«, sagte ich. »Ich bin zur Aufheiterung der Truppe engagiert. Passt zu meiner Rolle als Horatio perfekt. Ich werde den Regisseur ermahnen, wenn er dich schlecht behandelt. Du hast doch nichts dagegen, dass ich dich so sehr liebe?«

»Gar nichts!«, jauchzte sie.

Die beiden Musikanten legten sich mächtig ins Zeug, sie spielten verflucht schöne Tanzlieder.

Wir sahen in den Straßburger Abendhimmel. »Jetzt wird alles gut«, lachte ich.

»Sie dürfen gerne wiederkommen«, sagte die Kellnerin, als ich den polnischen Schnaps und den Speck, den harten Käse und das alte Weißbrot bezahlte und ihr für die Schuhcreme ein anständiges Trinkgeld gab.

»Ich zeige dir was«, sagte Angela.

Sie führte mich kreuz und quer durch die Gassen von Petite France. Wir waren mehr oder mehr weniger beschwipst. Wir sprachen in Versen. Vor einem winzigen Fahrradgeschäft blieb Angela stehen.

»Siehst du das rote Fahrrad dort hinten? Das hübsche rote Fahrrad? Siehst du es?«

»Ja, das sehe ich«, sagte ich.

»Gefällt es dir«, fragte sie mich.

»Sehr. Es ruft dich«, sagte ich.

»Nicht wahr«, sagte sie. »Es ruft mich.«

»Willst du es?« fragte ich. »Ich schenke es dir.«

»Nicht heute«, sagte sie. »Es soll mich noch eine Weile rufen. Warten wir ab, was passiert, warten wir wenigstens die erste gute Probe ab. Ich kann schließlich nicht auf einem Fahrrad zurück nach Berlin fahren. Verstehst du?«

Ich nickte. Ich wurde ganz traurig. Wollte sie wirklich nach Berlin zurück?

An einer Ecke blieb sie stehen. »Also«, sagte sie. »Ich muss jetzt nach Hause in meine Wohngemeinschaft zu meinem Sohn und zu Eva und ihrem Sohn Josef. Ich muss noch Schularbeiten machen mit Tammo, und ich muss auch noch fünfzig Seiten Hamlet-Text lernen mit der duftenden Souffleuse, sie wartet bestimmt schon auf mich, Text büffeln, bis die Wände in der Kanonenhalle weiß sind. Horror, ich mag weiße Wände, aber keine Wohngemeinschaften. Verflixt! Text lernen mag ich erst recht nicht. Uff. Ich hab ganz schön einen sitzen.«

Sie umarmte mich, küsste mich und stieß mich gegen ein Hauseck. Schließlich warf sie den Kopf in den Nacken und sang in den Himmel hinauf, der jetzt ein violetter Sturmhimmel war: »Sombreros et mantilles« – so verschwand sie im Straßburger Gässchengewirr.

Ich war glücklich verwirrt, ich wollte auf der Stelle das hübsche rote Fahrrad kaufen. Aber als ich vor die Ladentür trat, machte mir der fette Ladenbesitzer Zeichen. »Finis!« Er spannte einen Regenschirm auf. Und weg war er. Wie in einem alten französischen Film.

Ich floh vor dem loskrachenden Unwetter in meine Wohnung am Quai Saint Thomas. Ich stellte mich vor das Fenster und sah auf die Ill hinunter. Liebe und Leidenschaft entwickeln sich nicht...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angela Winkler • Das Literarische Quartett • Der Audio-Verlag • Eva Mattes • Hamlet • Hamlet-Inszenierung • Horatio • Hörbuch • Joachim Meyerhoff • Klaus Pohl • Literarisches Quartett • Peter Zadek • Probentagebuch • Schauspieler • Sein oder nicht Sein • Sein oder Nichtsein • Shakespeare • Starregisseur • Theater • Theaterstück • Ulrich Wildgruber • ZDF
ISBN-10 3-462-30355-4 / 3462303554
ISBN-13 978-3-462-30355-1 / 9783462303551
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