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Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01010-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen -  Anne Stern
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Band 4 der Bestsellerreihe, in dem die Berliner Hebamme Hulda Gold die wichtigste Entscheidung ihres Lebens treffen muss. 1925: Hulda Gold ist in der Frauenklinik in Berlin-Mitte zur leitenden Hebamme aufgestiegen. Sie kämpft für das Wohlergehen der Schwangeren gegen die Übermacht der männlichen Ärzte. Nur zu dem jungen Arzt Johann Wenckow hat sie großes Vertrauen. Zwischen ihnen entsteht ein zartes Band - obwohl er aus der wohlhabenden Villengegend Frohnau stammt und seine Eltern nicht gerade begeistert sind von der Verbindung ihres vielversprechenden Sohnes mit der unabhängigen Hebamme. Hulda selbst fühlt sich zwischen den Welten hin- und hergerissen. Zum einen ist da das quirlige Viertel in Schöneberg, wo sie immer noch «Fräulein Hulda» ist, zum anderen die reiche Villenkolonie an der Havel mit all ihren Erwartungen und ihrer strengen Etikette. Aber wo Glanz ist, ist auch Schatten. Und schon bald merkt Hulda, dass ein Leben wenig zählt, wenn es darum geht, die Traditionen aufrechtzuerhalten. Was für eine Frau! Hulda Gold ist Hebamme, Spürnase, Seelentrösterin - und sehr beliebte Reihenheldin.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

1.


Samstag, 19. September 1925

Bert blickte von seinem Buch auf und suchte mit den Augen den Winterfeldtplatz ab, als hielte er Ausschau nach einem Halt, einem Platz, wo er Anker werfen konnte nach seinem Bad in der mitreißenden Lektüre. Er fand ihn in der üppigen Gestalt von Frau Grünmeier, die ein paar Meter weiter mit beiden Armen – von beachtlichem Umfang – in einem Blumenkübel steckte. Als sie ihn bemerkte, nickte sie kurz angebunden zu ihm herüber und wich seinem Blick aus. Sie stemmte die erdigen Hände in die Kittelschürze und betrachtete dann sehr angelegentlich die gelben, roten und dunkelvioletten Astern, die ringsum in Töpfen und Emaille-Eimern blühten. Die kalte Morgenluft war erfüllt vom Duft nach schwarzer, fetter, feuchter Erde, nach Blüten und Frühherbst.

Bert spürte einen kleinen Stich in der Magengegend – die Besitzerin des Blumenstands auf dem Marktplatz hieß seine Eskapaden, wie sie neulich hinter vorgehaltener Hand, doch für Bert deutlich hörbar, zum Fleischer gesagt hatte, nicht gut. Wo komme man denn da hin? Ein Mann, der einen anderen Mann zum Tanzen ausführte und, Gott behüte, sogar Schlimmeres? Immerhin, Bert, sie und die anderen Marktverkäufer kannten sich alle schon viel zu lange, als dass dieses Wissen um Berts Neigungen, das im vergangenen Jahr wie ein Lauffeuer um die Stände, seinen Zeitungskiosk und die hier am Winterfeldtplatz gebieterisch thronende Matthiaskirche gegangen war, ihren Alltag gestört hätte. Die Kühle aber, die Bert seitdem aus Frau Grünmeiers teigigem Gesicht ansprang, die schmerzte ihn wie ein eisiger Wind.

Gedankenverloren streichelte er den Einband seines Buches und ließ die Augen weiterwandern. Das Laub der Linden hatte sich tiefgelb verfärbt und schwebte nach und nach zu Boden, rottete sich dort in Haufen zusammen und raschelte bei den Schritten der frühmorgendlichen Passanten. Die Blüten der Weißdornbüsche waren längst verwelkt, jetzt trugen sie die kleinen, apfelähnlichen Früchte. Unwiederbringlich war der Sommer vorbei, doch Bert spürte nur ein winziges Bedauern. Berlin im Herbst, das war ohnehin das Beste! Wenn die morgendlichen Nebel sich sachte über die Dächer der Mietskasernen von Schöneberg hinweghoben, die Sonne so klar wie sonst nie aus einem hellblauen Himmel schien, um die Farbenpracht unten in den Straßen zu entzünden, und die Luft so frisch schmeckte wie Quellwasser, dann fühlte er sich lebendiger als in den stickigen Wochen zuvor, wenn die Mauern der Stadt niemals abzukühlen schienen.

Zwei junge Frauen kamen heran. Sie hatten sich untergehakt, einander ähnlich wie ein Ei dem anderen in ihren plissierten Faltenröcken, den adretten Blusen und den runden Hauben auf dem Kopf. Letztere bildeten einen starken Kontrast zu ihren scharf geschnittenen geometrischen Kurzhaarfrisuren, wie sie jetzt der Dernier Cri in den Berliner Straßen waren. Ein Hut in Lindgrün, der andere in Dunkelblau. Sekretärinnen auf dem Weg ins Büro, dachte Bert und bewunderte ihre schmalen Taillen und die Selbstsicherheit ihrer Schritte. Sie begrüßten ihn mit dem höflichen Desinteresse, das junge Damen gegenüber alten Herren oft an den Tag legten, und Bert machte sich nichts draus, sondern deutete einen Diener an und griff, schon bevor sie ihre Wünsche äußern konnten, zu einer Zeitschrift. Und richtig!

«Einmal die Elegante Welt, bitte», sagte die Dunkelblaue und spitzte die ohnehin zu einem ewigen Kussmund gemalten Lippen. Ihre Augen weiteten sich bei dem Titelbild begehrlich.

«Sieh mal, Vicky», sagte sie aufgeregt und deutete auf das glänzende Bild, «dieses Tenniskleid hab ich bei Wertheim gesehen!»

«Hast du ja oft genug erzählt», antwortete ihre Freundin und ließ lässig Rauch aus ihrem Mund entweichen, die Zigarettenspitze mit der Lord-Zigarette – Nikotinarm: Der Liebling der Damen – in der Hand wie die natürliche Verlängerung ihres Arms. «Würde dir hervorragend stehen.»

«Leider spiele ich ja nicht», sagte die Dunkelblaue mit einem Nicken zum Tennisschläger in der Hand des Modells und seufzte bekümmert.

Bert unterdrückte ein Schmunzeln. Diese Mädchen träumten von der großen weiten Welt wie alle jungen Dinger, während sie tagein, tagaus in den Büros hinter ihren klappernden Maschinen hockten, sich krumm machten, dem monotonen Klick-Klack der Tasten ausgesetzt, und Diktate für ihren Boss aufnahmen. Sie konnten noch so viele Hochglanz-Zeitschriften kaufen, auf denen mondäne Tennisgirls abgebildet waren – ihr Alltag blieb doch klein und grau. Vom Gehalt einer Sekretärin konnte so eine mehr schlecht als recht über die Runden kommen, denn weibliche Erwerbstätigkeit galt immer noch weniger als die der Männer. Bert betrachtete das Fotomodell auf der Zeitschrift. Blonde, wilde Locken, ein gestählter Körper in blau-weißer Baumwolle, der wimpernbeschattete Blick in die Ferne gerichtet wie eine Heroine, während sie mit dem Schläger den Ball anvisierte. Das Idealbild aller modernen jungen Frauen in Berlin, ja, wohl in der ganzen Welt.

Und für die meisten doch so fern der Realität, dachte Bert. Aber warum, fragte er sich, sinnierte er heute derart über das Schicksal fremder Frauen? In seinem Leben gab es nur eine Frau, die ihm wirklich etwas bedeutete. Aber mit Romantik hatte das nichts zu tun. Hulda Gold war wie eine Tochter für ihn, wie eine Enkelin vielleicht, und sie war alles, was er an Familie jemals haben würde, das stand fest. Sie wusste als Hebamme einiges zu erzählen über das Schicksal der Schöneberger Frauen. Die gingen in die Fabrik oder ins Kontor zur Arbeit, verließen im Dunkeln das Haus und kamen im Dunkeln zurück. Sie schleppten, wenn sie denn bei der kriegsbedingten Männerknappheit – allzu viele junge Männer waren vor Jahren auf den Schlachtfeldern in Frankreich, in Belgien und Russland zerfetzt worden – einen Ehemann fanden, Jahre ihres Lebens verweinte Gören durch die engen Kochstuben oder kleinen Bürgerwohnungen. Sie rackerten sich durch unendliche Wäscheberge, Putztage, verdienten sich an Nähmaschinen ein Zubrot oder drehten in Heimarbeit Zigaretten. Ein Tag war wie der andere, nur sonntags unterbrochen vom Kirchenkaffee oder einem Kinobesuch. Und selbst die wohlhabenden Frauen, die ein Mädchen hatten oder doch eine Zugehfrau, in deren Schränken mehr hing als ein Alltags- und ein Sonntagskleid, deren Wohnungen im Vorderhaus über eine Badewanne verfügten und eine Innentoilette – selbst sie spürten doch das Joch der Frauen! Sie bekamen meistens mehrere Kinder, gehorchten ihren Männern, keiften gegen die Dienstboten und hatten wenig Abwechslung, von aufwendigen Abendessen abgesehen, die sie für die Geschäftsfreunde ihrer Gatten ausrichteten und von denen sie, der schlanken Linie wegen, selbst kaum etwas anrührten. Nein, von wenigen Freigeistern abgesehen, die es wagten, diese engen häuslichen Pfade zu verlassen und sich als Künstlerinnen oder Schauspielerinnen durchs Leben zu schlagen, war eine Frau, vielleicht von den Studierten abgesehen, in Berts Augen weiß Gott nicht zu beneiden. Ob mit Nerzstola oder Schultertuch.

«Macht eine Mark, bitte schön», sagte er zu dem Mädchen mit dem dunkelblauen Hut. Sie zahlte, lächelte flüchtig und ließ die Elegante Welt in ihre Aktentasche plumpsen, die sie, wie Bert hätte wetten können, davon abgesehen leer mit sich herumtrug, um sich den Anschein von Wichtigkeit zu geben. Sie hakte ihre Freundin wieder unter, und beide entschwanden, über die neueste Schnittmode für Röcke schwatzend, in Richtung Nollendorfplatz, wo die Hochbahn fuhr. Er stellte sie sich vor, wie sie mit ihren schlanken Beinen, auf die sie mangels Geldmittel die Strumpfhosen nur aufgemalt hatten, in einen der Wagen sprangen und sich in der ratternden Röhre, die auf den über die Stadt gespannten Viadukten dahinschoss, zu ihrem Arbeitsplatz tragen ließen. Jeden Tag aufs Neue.

«Morgen, Bert», sagte eine Stimme, und er blickte auf und sah direkt in die hellen Augen von Hulda, darüber ein paar wilde dunkle Ponyfransen und der rote Filzhut, der an den Rändern schon ein wenig schäbig war. Wenn Fräulein Hulda ihre taubenblaue Seidenkappe gegen das olle Ding eintauschte, konnte man wirklich mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Sommer vorbei war.

Eben noch hatte er an sie gedacht!

«Guten Morgen.» Er trat aus seinem Kiosk auf sie zu und dienerte, tiefer diesmal als bei den beiden jungen Gänsen zuvor, denn Fräulein Hulda verdiente eigentlich ein morgendliches Lever wie eine Fürstin, fand er. Allerdings ließ ihr Aufzug für eine solche heute etwas zu wünschen übrig. Hulda hielt einen angebissenen Schusterjungen in der Hand und kaute. Die Krümel, die sich um ihre Mundwinkel angesammelt hatten, ließen sie rührend jung wirken, dabei war sie, wie er wusste, um die dreißig. «Sind Sie aus dem Bett gefallen?» Er musterte den schief geknöpften Mantel und den zerknitterten Blusenkragen, der darunter hervorlugte.

«So schlimm?», fragte sie und errötete leicht, während sie ihre lederne Tasche abstellte. Nervös nestelte sie am Kragen und strich sich den Mantel glatt. «Ich habe verschlafen», sagte sie, «jedenfalls dachte ich das!»

«Immer noch keine Uhr?»

Sie schüttelte den Kopf und bändigte eine vorwitzige dunkle Locke ihres kurzgeschnittenen Haars hinters Ohr. «Ich hab die Turmuhr schlagen hören und muss mich, schlaftrunken, wie ich war, verzählt haben», murmelte sie, «bin mit Herzrasen aus dem Haus gesaust und sah dann, dass es eine Stunde früher ist, als ich dachte.» Hilflos grinste sie und hob die halb aufgegessene Stulle hoch. «Na, wenigstens hab ich so noch ein Brötchen ergattert beim...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2021
Reihe/Serie Die Hebamme von Berlin
Die Hebamme von Berlin
Zusatzinfo Mit 1 4-farb. Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1920er Jahre • 20er • 20er Jahre • Arzt • Babylon Berlin • Berlin • Berlin Krimi • Berlin-Mitte • Berlin Roman • Bestseller • Carmen Korn • Charité • Ehe • Familienfehde • Familiengeheimnisse • Familiensaga • Frau • Frauenschicksal • Geburt • Geburtsheilkunde • Geburtsklinik • Gemälde • Geschenke für Frauen • goldene Zwanziger Jahre • Gynäkologie • Hebamme • Hebammensaga • Hebammen Saga • Hebammenwissen • Heirat • historischer Krimi • Historische Romane • Historischer Roman • Klinik • Kommissar • Krankenhaus • Krankenschwester • Krimi • Kriminalroman • Kunst • Liebe • Liebesromane • Medizin • Saga • Schicksal • Schöneberg • Schwangere • Schwangerschaft • spiegel bestseller • Spiegel Bestseller-Autorin • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Starke Frau • Todesfall • Weimarer Republik • Zwanzigerjahre • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-01010-2 / 3644010102
ISBN-13 978-3-644-01010-9 / 9783644010109
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