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Die Verteidigung (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
272 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26687-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Verteidigung - Fridolin Schley
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'Mit sprachlicher Virtuosität mischt Fridolin Schley Geschichte, Bilder und Quellen zu einem literarischen Sturm aus Fragen.' (Lena Gorelik) über Ernst von Weizsäcker und die Nürnberger Prozesse.
1947, die Nürnberger Prozesse: Einer der Angeklagten ist Ernst von Weizsäcker, SS-General und Spitzendiplomat unter Ribbentrop. Zu seinen Verteidigern zählt auch sein Sohn Richard, der vier Jahrzehnte später als Bundespräsident in seiner Rede vom 8. Mai über Kriegsschuld und die Befreiung Deutschlands vom Nazi-Gräuel sprechen wird. Eine historische Konstellation, die man kaum erfinden könnte: Hier stoßen - verkörpert in Vater und Sohn - das alte, schuldverstrickte Deutschland und die gerade erwachende Bundesrepublik aufeinander. In seinem literarischen Psychogramm tastet sich Fridolin Schley an die historischen Figuren heran und umkreist dabei die großen Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Unschuld, emotionaler und moralischer Verpflichtung.

Fridolin Schley, 1976 in München geboren, debütierte 2001 mit dem Roman Verloren, mein Vater. Es folgten Veröffentlichungen in den Bereichen Prosa, Essay und Literaturwissenschaft. Zu seinen Auszeichnungen zählt der Tukan-Preis für den Erzählband Wildes schönes Tier. Zuletzt erschien die von der Kritik hochgelobte Novelle Die Ungesichter.

1


Die Wahrheit wird euch frei machen. Vielleicht geht ihm plötzlich sein Taufspruch durch den Kopf und stößt etwas an, das daraufhin erwacht, oder er flüstert ihn schon im selben Moment, um den Saal für das Kommende zu beschwören, wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei. Ihm muss warm sein, er hat sich beeilt herzukommen, ihm muss kalt sein, es ist Winter, sie haben über Nacht nicht geheizt. Niemand soll es hier gemütlich haben. Indem er seiner eigenen Stimme nachhorcht, tauchen auch andere Geräusche auf aus der Stille, steigt ein Lautgesumm ganz langsam an und bilden sich Konturen um ihn aus, erst blass das Geländer, auf das er sich stützt, der weite Raum unter ihm, seine rechten Winkel aus schweren Tischen, Stuhlreihen, angefügten Pulten, ihre Linien flächig verschwommen, so dass man sie für Felder eines großen verschachtelten Spielbretts halten könnte, bis sie zunehmend an Schärfe gewinnen und sich einzelne Figuren zwischen ihnen abzeichnen, lebendig werden, tastend umherblicken, als hätten sie zunächst nur eine Ahnung, schließlich Gewissheit voneinander.

Wenn Richard sich über den Zuschauerbalkon beugt und steil hinabsieht, kann er dann erkennen, dass es an den drei langen, vom eigentlichen Verhandlungsgeschehen etwas abgetrennten Tischen der Mitarbeiterstäbe bereits zu wimmeln begonnen hat? Dort könnten alle Plätze schon belegt sein, man taxiert sich, markiert sein Terrain mit Unterlagen, Stifte werden gezückt, Kabel entwickelt, Kopfhörer aufgesetzt, manche lauschen mit geweiteten Augen ins Nichts, wie im Voraus erschrocken über das, was sie hier hören werden, doch nur keine Unsicherheit mit der neuen Technik zeigen. Köpfe nicken, Fußspitzen wippen, die Emsigkeit im Saal fällt erst auf, weil jeder Einzelne um gebotene Beherrschung bemüht scheint, und die anschwellende Geräuschglocke, weil kaum einer spricht. Eine nervöse Ruhe aus Stühlerücken und dem Klacken von Schnallen an Ledertaschen, dem Blättern durch die Prozessordnung oder die Nürnberger Tageszeitung, schließlich stehen sie heute alle drin. Von hier oben kann Richard die ausgebreitete Schlagzeile wahrscheinlich nicht entziffern, aber er wird sie kennen, auf dem Weg zum Gericht titelte sie von den Litfaßsäulen, Nachfolgeprozesse gehen weiter!, und die Neue Zeitung in München hat schon vorab verkündet, das Verfahren ist das größte und umfassendste von allen — nicht nur wegen der Zahl der angeklagten Prominenten, sondern auch wegen der Aufgabe, die sich die Anklage gestellt hat. Sie will nachweisen, daß das Gros der deutschen Diplomatie und Ministerialbeamten in einem noch bis vor kurzem nicht vermuteten Maß direkte Verantwortung für die Vernichtung von Menschenleben, für Kriegsverbrechen, für Raub und Mord nach gemeinsamem Plan trägt, ja daß der deutsche Beamte bei der Durchführung der befohlenen Verbrechen seine Auftraggeber teilweise überbot. Darunter die erkennungsdienstlichen Fotografien einiger Angeklagter, Namensschilder vor der Brust, Verbrecherbilder, DARRÉ, Richard W., DIETRICH, Otto — und ganz links, den anderen voran, der Vater.

Die Zeitungen rascheln, alles knistert, als breite sich ein Feuer aus, springe über auf das Pult der Protokollantin, die dort gerade den Verschluss des Stenographen aufklickt, und bis in die Saalecke, wo zwei Techniker des Bayerischen Rundfunks die Gelenke eines Stativs einrasten lassen. Über ihnen ist auf dem Sims der Holzvertäfelung ein Lautsprecher angebracht, er knackt und pocht dann dumpf, weil ein Gerichtsdiener das Mikrofon auf dem Richtertisch testet, mit dem Zeigefinger auf die Chromrillen klopft, so dass sich überall im Raum Köpfe in seine Richtung drehen. Sämtliche Unruhe verebbt und wächst wieder an, sobald er zwei Glühbirnen daneben in die Tischplatte schraubt, die Gewinde knirschen und gehen in das schleifende, metallene Ziehen der Elektrischen über, die jetzt draußen auf der Fürther Straße vorbeifährt und Richard daran erinnert, dass es da eine Welt gibt, Städte, Gebirge und das Meer. Vielleicht ist er auch zu sehr in Gedanken, um das Tramgeräusch mitzubekommen und dass trotz der Kälte noch einmal die Fenster geöffnet wurden, die schweren grünen Vorhänge zur Seite geschoben, um durchzulüften, oder wie sich der dünne Gardinenstoff dahinter bauscht und die hereinfallende Morgensonne zerstreut. Staub wirbelt auf, als der Gerichtsdiener auf das gepolsterte Leder der Richterstühle klopft, und glitzert im Licht, das zugleich die polierten Schuhe der Ankläger aufblitzen lässt und gegenüber in den Seidenbesätzen an den Roben der Verteidiger glänzt, während sie ernst ihre Aktenstapel vor sich ablegen und Platz nehmen, es spiegelt sich im Glas der Übersetzerkabinen und fängt sich schließlich in den bronzenen Früchten über dem Eingangsportal, wo nackte Jünglinge mit Tüchern den Baum der Erkenntnis flankieren und Schlangen aus dem Haar der Medusa züngeln, Flügel wachsen aus ihrem abgeschlagenen, von Schmerzen verzerrten Haupt. Ohne eine Miene zu verziehen, stehen die beiden Wachsoldaten links und rechts des Eingangs mit seitlich aufgepflanzten Gewehren, blicken ins Leere oder sehen, wie einer der Angeklagten seine Brille abnimmt und die Gläser anhaucht, das muss Otto von Erdmannsdorff sein. Eingepfercht sitzen die zwanzig Männer so eng, dass sich kaum einer rührt, und schweigen eisern, als schützte sie jeweils die Verachtung für die anderen, starren mit müdem Blick vor sich hin. Ihr abgetrennter Bereich ist der stillste im Raum, die Zeiger der Uhr über ihnen stehen auf 8.43 Uhr, und der Gerichtsdiener legt den Hammer auf dem Richtertisch ab, schiebt den Ständer mit der amerikanischen Fahne ein Stück weiter zum Fenster, die Zeiger stehen auf 9.02 Uhr, und ein Kameramann stolpert auf den Stufen vorm Zeugenstand, fängt sich gerade noch ab, jemand lacht, worauf sich ein junger Dolmetscher mit schwarzem Brillengestell in seiner Kabine ertappt fühlt und den Bissen Brot, auf dem er kaut, nicht mehr herunterbekommt, verstohlen schiebt er ihn von einer Backe in die andere. Man hüstelt, prüft seine Nägel, und auf der Pressetribüne streichen schon Stifte über Papier, Atmosphäre einfangen, erste Eindrücke sammeln, von unruhig trommelnden Fingerspitzen der Verteidiger, dem Zischeln auf den Zuschauerrängen und wie fahl alles wirkt, wie unter Raureif, als die Deckenröhren flackernd anspringen und dabei hinter den Fensterscharten der Rundfunkreporter kurz schemenhafte Gestalten aufscheinen, aufgeschreckte Gespenster.

Möglich, dass Richard für einen Augenblick nicht mehr weiß, was er hier eigentlich soll. Dass ihn das leise, von sicher weit über hundert Zuschauern ausgehende Rauschen in seinem Rücken und das angespannte Gewusel vor ihm im Saal an den Fidelio in Göttingen erinnert oder an den Rosenkavalier, wenn das Orchester sich kurz vor Beginn einstimmt und sein missklingendes Durcheinander die Erwartung noch steigert, bis in die hintersten Plätze, wo Hartmut, Peter und Wolfgang nun ohne ihn sitzen, auf Karten zu einer Mark, er denkt an ihren Rückweg nach der Oper, ihr beflügeltes Summen der Melodien und wie sich die Sperrstunde um zehn bald drohend nähert, sie auseinanderstreben, erst gemächlich, der Zeit überlegen, aber mit jeder weiteren Minute eiliger, bis sie fast rennen, nichts freier, als alleine durch die Nacht zu rennen. In Göttingen sitzen die Kommilitonen gerade in zerschlissenen, umgefärbten Uniformteilen in der Vorlesung, während sich hier einer der Angeklagten den Schlipsknoten strafft, muss Schellenberg sein, und Richard denkt an die Gier nach Musik seit dem Krieg. Nach Wissen, nach weiten Gedankenwelten und ihren Maßstäben, die die juristische Fakultät ihnen nur in Klauseln und peniblen Paragraphen vermittelt, meist ohne größeren Zusammenhang, und je genauer er auch jetzt auf Einzelheiten im Raum vor sich achtet, desto weniger kann er ihn als Ganzes fassen. Schattierungen vom Braun des Holzes, vom Grau der Anzüge, nur der rote Samt einiger Stuhlbezüge sticht hervor zwischen Tischreihen, die nach Partei und Funktion besetzt sind, zwischen überfüllten Bänken hinter Trennwänden und aus Zuständigkeiten zusammengeschobenen Karrees — kantige Bereiche, eingeteiltes Prozedere, jede Form ist mit einer anderen verwinkelt und bildet mit ihr schon Teile einer nächstgrößeren Struktur, der heillose Versuch, aufs Engste zu gliedern, was sich noch während des Ordnens schon wieder entzieht. Wie sollen sie darin nur Gerechtigkeit finden.

Die Richter scheinen von solchen Zweifeln frei, sie müssen es sein. In wenigen Minuten werden sich Powers, Christianson und Maguire hinter den massiven Kasten ihres Tisches setzen, der drei Stufen erhöht über dem Geschehen thront, und der Vorsitzende wird das Mikrofon vor sich einschalten und nach einem schrillen...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 100. • Bundespräsident • Deutsche • Deutschland • Diplomat • Ernst • Geburtstag • Geschichte • Kataloge • Kriegsschuld • Mein • Nachkriegsdeutschland • nazivergangenheit • #ohnefolie • ohnefolie • Ribbentrop • Richard • schönes • Schwimmbadsommer • SS-General • Ungesichter • Vater • Verantwortung • Vergangenheitsbewältigung • verloren • Wahrheit • Weizäcker • WILDES
ISBN-10 3-446-26687-9 / 3446266879
ISBN-13 978-3-446-26687-2 / 9783446266872
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