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Sind Sie das? (eBook)

Eine Spurensuche
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61175-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sind Sie das? -  Charles Lewinsky
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Was schmuggelt ein Schriftsteller bewusst oder unbewusst vom eigenen Leben in seine Bücher? Charles Lewinsky hat sich auf Spurensuche begeben und staunt, wie viel Persönliches sich ungewollt in seine Romane eingeschlichen hat. Was ihm nun die Gelegenheit gibt, sich in Anekdoten und Geständnissen an Hochgefühle ebenso zu erinnern wie an kritische Momente - so wie er sie in den eigenen Romanen als Spiegelungen wiederentdeckt hat.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ?Melnitz?. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. ?Der Halbbart? war nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Sein Werk erscheint in 16 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux, Frankreich, und im Winter in Zürich.

Wenn man fünfundsiebzig wird, kann man eine Kreuzfahrt buchen und beim Captain’s Dinner feststellen, dass einem der Smoking definitiv nicht mehr passt. Man kann endlich mal seine Fotoalben sortieren und dabei die Erfahrung machen, dass man bei vielen Gesichtern nicht mehr weiß, zu wem sie gehören. Man kann sich einen Porsche kaufen und ihn in der Garage stehen lassen, weil man sich ja doch nur noch mit der vertrauten Rostlaube auf die Straße traut.

Oder man kann ein Buch schreiben.

Jeder Schriftsteller hat ein Lieblingsprojekt, an das er seit Jahren immer wieder denkt und das er doch nie in Angriff genommen hat. Weil ein anderes Buch wichtiger erschien oder ein anderer Auftrag dringender. Oder – wenn es um Ausreden geht, sind wir Schriftsteller kreativ – weil das so oft angedachte Buch nur besser werden konnte, je länger er damit wartete.

Und dann steht so ein runder Geburtstag im Kalender und damit die Frage: »Wann, wenn nicht jetzt?«

Auf Kreuzfahrten werde ich seekrank. Meine Fotoalben sind geordnet. Den Porsche überlasse ich den Altersgenossen, die mit seinen Pferdestärken die eigene abnehmende Potenz zu ersetzen hoffen.

Aber das Buch, das schon so lang in meinem Hinterkopf rumort – das leiste ich mir zum Fünfundsiebzigsten.

Dieses Rumoren begann vor mehr als zehn Jahren. Es war bei einer Lesung, und ein unhöflicher Gymnasiallehrer stellte mir eine Frage.

Wo genau diese Lesung stattfand, weiß ich nicht mehr, wie überhaupt die Ungenauigkeit des Erinnerns in diesem Buch eine große Rolle spielen wird. Irgendwo im Luzernischen war es, zumindest glaubt mein Gedächtnis, das so zu wissen, aber wenn mir jemand, der dabei gewesen ist, schreiben sollte, nein, im Aargauischen oder Solothurnischen sei es gewesen, werde ich ihm nicht widersprechen. Auf jeden Fall war es eine Vorortsgemeinde, einer dieser schnell gewachsenen Orte, die noch nicht recht wissen, ob sie immer noch ein Dorf sein wollen oder schon eine Schlafstadt. Eine Metropole war es auf keinen Fall, dort wäre mir so etwas bestimmt nicht passiert.

Es ist aber passiert.

Johannistag war damals gerade erschienen, mein Roman über einen deutschen Gymnasiallehrer, der sich in ein französisches Dorf zurückzieht, weil er wegen einer Affäre mit einer Schülerin seinen Beruf aufgeben musste. Ich war auf einer jener Lesereisen, die zu einem neuen Buch gehören wie der Muskelkater zum Marathon, wie die Pflicht zur Kür – nur dass beim Bücherschreiben die Pflicht nach der Kür kommt. Abend für Abend sitzt man irgendwo auf einem Podium und liest vor, immer mit dem leisen Gefühl, man habe dasselbe Publikum vor sich wie gestern und vorgestern, mehr Frauen als Männer, mehr Alte als Junge, als ob die Zuhörer von Lesung zu Lesung mittransportiert würden. Man bekommt auch immer die gleichen Fragen gestellt – »Wo nehmen Sie bloß die Ideen her?« ist die beliebteste und unbeantwortbarste – und muss sich Mühe geben, nicht einfach das Tonband vorformulierter Antworten ablaufen zu lassen.

An diesem Abend war alles anders. Mein Gesprächspartner war der Veranstalter der Lesung, ein Gymnasiallehrer, der in seiner Gemeinde wohl für Kultur in jeder Form zuständig war. Beschreiben könnte ich ihn nicht, es wird ein nicht mehr ganz junger Mann gewesen sein. Aber die eine Frage, die er mir stellte, werde ich nie vergessen.

»Die Hauptfigur Ihres Romans ist ein Pädophiler. Sind Sie das?«

Nun ist die Verwechslung von Figur und Autor an sich nichts Ungewöhnliches. Wer selber keine Phantasie hat, kann sich nur schwer vorstellen, dass jemand anderes über diese Fähigkeit verfügt. Und es gibt ja auch genügend Autoren, die in wechselnden Verkleidungen immer nur über sich selber schreiben. Je nachdem, welche Interessen die Protagonisten meines letzten Buches gerade hatten, hat man mich nach diesem Prinzip schon für einen Fachmann für Geigenbau oder für einen frommen Bibelkenner gehalten. Was beides der Wirklichkeit nicht näher kommt als die Behauptung, ich würde nächstens am Opernhaus in Schwanensee mittanzen. Eine Verlagsmitarbeiterin, die mich noch nie persönlich getroffen hatte, meinte aus der Lektüre des Melnitz-Manuskripts sogar schließen zu können, ich müsse ein sehr modebewusster Mensch sein, was bei allen Bekannten, denen ich es erzählte, schallendes Gelächter auslöste. Dass ich mich für die Szenen, die in einem Kleiderladen spielten, fachkundig gelesen hatte, hatte ja nichts an meiner Unfähigkeit geändert, zu einem Hemd den passenden Pullover auszuwählen. Wie es ein Theaterkollege einmal auf den Punkt gebracht hat: »Du kannst tragen, was du willst – dir steht nix.«

Wie gesagt: Dass ein naiver Leser den Unterschied zwischen Beschreiber und Beschriebenem nicht erkennt und den Autor mit seinen Figuren verwechselt, das kommt immer wieder vor. Wenn bei einer Lesung die entsprechenden Fragen gestellt werden, versucht man in der Regel, diese komplizierte Beziehung in aller Ruhe aufzudröseln, erklärt, dass nicht jede Erzählung eine Nacherzählung sein muss, dass Joanne K. Rowling nicht zaubern kann und Agatha Christie nie einen Mord begehen musste.

In der Regel.

Aber wenn einem öffentlich unterstellt wird, die Verführung Minderjähriger habe man doch bestimmt aus eigener Erfahrung geschildert, dann greift man nicht zum rhetorischen Florett, sondern nimmt den Zweihänder und schlägt zu. Ich habe meinem Gesprächspartner damals erklärt, ich kenne nur zwei Arten von Leuten, die diese Art von Fragen stellten: solche, die noch nie ein Buch gelesen hätten, und Gymnasiallehrer. Danach war die Veranstaltung sehr schnell zu Ende.

Ich erzähle die Geschichte hier nicht, um mich der Brillanz meiner Riposte zu rühmen. (Die Formulierung »brillante Riposte«, merke ich gerade, habe ich bei mir selber abgeschrieben. Sie stammt aus dem Roman Melnitz.) Vielleicht habe ich sie mir in der Erinnerung auch nachträglich noch ein bisschen zurechtgeschliffen; Erinnern ist ja meist nur ein Sich-selber-recht-Geben. Nein, ich berichte davon, weil diese Erkundigung nach meiner vermeintlichen Pädophilie über eine ganze Reihe gedanklicher Umwege zum Auslöser für dieses Buch geworden ist. Eigentlich müsste ich dem unsensiblen Fragesteller dafür dankbar sein.

»Sind Sie das?«

Von der Unhöflichkeit der Vermutung einmal abgesehen, ist das eine sehr interessante Frage. So interessant, dass ich beschlossen habe, ihr nachzugehen.

»Sind Sie das?«

Tom Stoppard hat einmal in einer Vorlesung gesagt, wenn andere Leute über seine Stücke redeten, komme ihm das jedes Mal vor, als ob ein Zöllner in seinem Gepäck wühle und dabei Dinge zutage fördere, von denen er sich beim besten Willen nicht erklären könne, wie sie da hineingeraten seien. Obwohl sie unbestreitbar ihm gehörten. Sie mussten ihm aus Versehen in seine Koffer hineingerutscht sein.

Was packt man eigentlich im Lauf eines Schreiberlebens alles, ohne es zu merken, in seine Gepäckstücke? Was schmuggelt man – bewusst oder unbewusst – an Privatem, Eigenem, Höchstpersönlichem in seinen Büchern zum Leser? Welche Erinnerungen, Beobachtungen, Erfahrungen gehören gar nicht den Romanfiguren, sondern dem Autor? Wie viel von sich selber hat man – absichtlich oder unabsichtlich – in seine schriftstellerischen Arbeiten einfließen lassen?

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr reizte es mich, das einmal bei mir selber zu überprüfen. Warum soll man die kritische Durchsicht seiner Bücher immer den Germanisten und Literaturkritikern überlassen? Warum nicht selber in den eigenen Koffern nach persönlichem Schmuggelgut fahnden? Mit einem guten Dutzend Romane stehen genügend davon auf dem Laufband. Vielleicht lässt sich aus ihnen Interessantes zutage fördern.

Wann, wenn nicht jetzt?

Die Versuchsanordnung, die ich mir ausgedacht habe, sieht so aus: Ich werde alle meine Romane vom ersten bis zum letzten Satz durchlesen, streng in der Reihenfolge, wie sie in fast vierzig Jahren erschienen sind. Und jedes Mal, wenn mir etwas auffällt, das nicht nur in die Romanhandlung gehört, sondern auch in meine eigene Geschichte, will ich dieses Mosaiksteinchen herauspicken und festhalten. Ganz ohne den Versuch, die Steinchen zu ordnen und zu einem Bild zusammenzusetzen. Ich werde sie einfach, so wie sie mir auffallen, hintereinanderlegen. Auch das gehört zu den Spielregeln, die ich mir selber verordne.

Natürlich habe ich einen Hintergedanken dabei. Es wäre schön, wenn sich aus der gesammelten Konterbande ein Selbstbild zusammensetzte, in dem ich Dinge über mich entdecken kann, die mir vorher gar nicht bewusst waren. Aber vielleicht – das haben Experimente so an sich – kommt auch etwas ganz anderes dabei heraus.

Nur eines soll es auf keinen Fall werden: eine Autobiographie. Ich bin da ganz der Ansicht des berühmten Danebenformulierers Sam Goldwyn, der einmal gemeint hat, niemand solle seine Autobiographie schreiben, bevor er tot sei. (Und bei manchen Menschen wäre es auch dann noch zu früh.) Das eine oder andere meiner Bücher mag vielleicht interessant sein – mein Leben ist es nicht, nur schon, weil mir das Hemingway’sche Bedürfnis nach Abenteuern schon immer gefehlt hat. Mit der bahnbrechenden Erkenntnis: »Am liebsten saß er abends neben seiner Frau auf dem Sofa« stürmt kein Biograph die Bestsellerlisten.

Wer soll so ein Buch lesen, das nur aus einer ungeordneten Abfolge von Assoziationen und Erinnerungen besteht?

Keine Ahnung. Leser sind mir in diesem Fall auch gar nicht...

Erscheint lt. Verlag 24.3.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Autobiographisch • Erinnerungen • Fernsehen • Frankreich • Inspiration • Lesung • Romane • Rückblick • Schreiben • Schriftstellerleben • Schweiz • Theatermilieu
ISBN-10 3-257-61175-7 / 3257611757
ISBN-13 978-3-257-61175-5 / 9783257611755
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