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Wisting und der See des Vergessens (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99803-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wisting  und der See des Vergessens -  Jørn Lier Horst
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William Wisting erhält einen merkwürdigen Brief. Auf dem weißen Blatt steht lediglich die Zahlenfolge »12-1569/99«, die Fallnummer eines Mordes aus dem Jahr 1999. Die 17-jährige Tone verschwand damals auf dem Heimweg von der Arbeit, man fand kurz darauf ihre Leiche, der Täter wurde verurteilt. Scheinbar ein schnell geklärter Mord, der in Vergessenheit geriet, obwohl der Verurteilte stets seine Unschuld beteuerte. Mittlerweile hat er seine Strafe abgesessen. Und ausgerechnet jetzt hält das Verschwinden einer jungen Frau das Land in Atem. Ein Fall mit erschreckenden Parallelen zu Tones Ermordung! Wisting beginnt zu ermitteln, doch nicht jedem gefällt, dass er die Sache neu aufrollt ...

Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.  

Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.  

5


Die Post war noch nicht gekommen, als Wisting von zu Hause wegfuhr. Sicherheitshalber überprüfte er auch den Briefkasten von Line, aber der war ebenfalls leer.

Auf dem Weg nach Larvik kamen ihm zwei Feuerwehrfahrzeuge entgegen. Erst ein Mannschaftswagen und dann ein schwerer Leiterwagen. Wisting fuhr an den Straßenrand, um Platz zu machen. Die Männer in dem ersten Wagen machten sich einsatzbereit. Sie knöpften ihre Jacken zu und setzten ihre Helme auf. Wisting warf beim Weiterfahren einen Blick in den Spiegel, konnte aber nirgendwo Rauch entdecken.

Auf dem Hof des Polizeigebäudes gab es viele freie Parkplätze. Wisting stellte den Wagen so dicht wie möglich am Personaleingang ab und schloss dann die Tür auf.

Unten im Keller begrüßte er zwei Beamte, die nur den Sommer über hier arbeiteten und an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. In der Etage darüber war es still. Nicht das Geringste wies darauf hin, dass es in dem Vermisstenfall zu einem Durchbruch gekommen war oder dass es sonstige dramatische Entwicklungen gegeben hatte.

Wisting blieb an der Türöffnung zu Bjørg Karins Büro stehen und begrüßte sie.

»Ihre Akte ist gekommen. Liegt bei Ihnen im Büro.« Sie deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. »Frischen Kaffee gibt es übrigens auch.«

Wisting bedankte sich und lächelte.

»Ich besorg mir mal ’ne Tasse.«

Als er zurückkam, stand Bjørg Karin mit der Kanne bereit.

»Wie läuft’s denn hier überhaupt?«, fragte er.

»Wir kommen schon zurecht«, versicherte Bjørg Karin. »Aber Christine Thiis hat sich krankgemeldet. Jetzt stehen wir ohne Polizeijuristin da.«

Wisting nippte an seinem Kaffee.

»Ist es was Ernstes?«, fragte er.

»Ich glaube nicht. Sie war beim Arzt und soll sich wohl ein paar Tage ausruhen. Falls Sie mit Hammer reden möchten: Er ist zu einer Besprechung nach Drammen gefahren.«

»Danke, ich bin wirklich nur gekommen, um mir den alten Fall anzusehen.«

Bjørg Karin setzte sich wieder und blickte auf ihren Computerbildschirm.

»Wissen Sie, wo es brennt?«, fragte Wisting.

»Im Kleiser-Haus«, erwiderte Bjørg Karin.

»Schon wieder?«, fragte Wisting erstaunt.

Bjørg Karin rief die Meldungen der Einsatzzentrale auf.

»Vor zwanzig Minuten kam eine Meldung herein, dass das Feuer erneut ausgebrochen ist«, erklärte sie. »Muss wohl eine ganze Weile vor sich hin geschwelt haben.«

Das Feuer bei Antonia Kleiser war der letzte Fall, mit dem Wisting sich vor dem Urlaub beschäftigt hatte. Die Techniker hatten vermutet, dass die elektrische Anlage in dem alten Haus für den Brand verantwortlich war, aber noch lag kein endgültiger Bericht vor. Das Feuer war mitten in der Nacht ausgebrochen. Antonia Kleiser war zweiundachtzig Jahre alt und Witwe. Man hatte sie tot auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefunden.

Wisting bedankte sich für den Kaffee, ging weiter und schloss die Tür zu seinem Büro auf. Der Schreibtisch war genauso aufgeräumt wie bei seinem Urlaubsantritt, abgesehen von einem großen Archivkarton, der in der Mitte thronte.

Er entfernte den Deckel und nahm den Inhalt heraus. Insgesamt fünf Dokumentenmappen mit grünem Umschlag, die von zwei morschen Gummibändern zusammengehalten wurden. Auf jeder einzelnen stand der Name des Beschuldigten. MOMRAK, Dan Vidar.

Die Mappen waren mit römischen Ziffern von eins bis fünf durchnummeriert. Nummer II enthielt alle Informationen über das Opfer und die ursprüngliche Vermisstenmeldung, welche die Ermittlung in Gang gesetzt hatte.

In Nummer III befanden sich die Ergebnisse der technischen Untersuchungen und in Nummer IV die Zeugenaussagen, während unter Nummer V alles zusammengefasst war, was mit dem Beschuldigten zu tun hatte.

Der Inhalt von Mappe I dokumentierte die Behandlung des Falles innerhalb der Behörde. Erst mehrere Vermerke des lokalen Polizeijuristen, der den Fall mit dem Antrag auf Untersuchungshaft an das zuständige Gericht geschickt hatte, dann die Antwort des Gerichts mit der entsprechenden Anordnung. In dem Schreiben an den Staatsanwalt war die Rede von Anklageerhebung auf Basis der Beweislage. Erfahrungsgemäß waren bei archivierten Fällen die interessantesten Informationen häufig in diesen Unterlagen zu finden.

Auch das Urteil war beigefügt, sowohl vom zuständigen Gericht als auch von der nächsthöheren Instanz, nachdem der Verurteilte in Berufung gegangen war. Wisting blätterte bis zur letzten Seite vor, wo Urteilsbegründung und Strafmaß verzeichnet waren:

Der Angeklagte hat eindeutige Anzeichen eines Rachemotivs erkennen lassen und scheint die Tat in keiner Weise zu bereuen. Die Mordhandlung stellt sich als äußerst egoistische Tat dar und wurde mit rücksichtsloser Aggression durchgeführt. Die Erklärung des Angeklagten vor Gericht wirkt unglaubwürdig, darüber hinaus gibt es nichts, was mildernde Umstände erkennen ließe. Das Gericht verurteilt den Beschuldigten gemäß Anklageschrift zu einer Gefängnisstrafe von siebzehn Jahren, wobei 168 in Untersuchungshaft verbrachte Tage anzurechnen sind. Das Gericht folgt hiermit dem Antrag der Staatsanwaltschaft.

Wisting hatte erwartet, dass der anonyme Briefschreiber seine Aufmerksamkeit auf einen ungelösten Fall lenken wollte, oder zumindest auf einen Fall, in dem es Zweifel an der Schuld des Angeklagten gegeben hatte. Dieses Urteil jedoch erschien klar und eindeutig.

Ein Urteil von siebzehn Jahren bedeutete, dass Dan Vidar Momrak seine Strafe inzwischen abgesessen hatte und sich wieder auf freiem Fuß befand. Wo er sich aufhielt und was er tat, würde sich vermutlich im Polizeiregister herausfinden lassen.

Wisting schaltete seinen Computer ein und nahm gleichzeitig im Augenwinkel wahr, dass jemand an der Tür auftauchte. Er blickte auf und lächelte. Es war Maren Dokken.

»Zurück aus dem Urlaub?«, fragte sie.

»Nein, ich musste hier nur schnell was erledigen.«

Nach einer Verletzung durch eine Explosion während eines Einsatzes war Maren Dokken von der Streifenpolizei in Wistings Abteilung versetzt worden. Auf der linken Wange hatte sie eine bis zum Ohr hinaufreichende Narbe, die sie unter ihrem offen getragenen Haar zu verbergen suchte. Bei der Explosion war insbesondere ihre Schulter verletzt worden, was dazu geführt hatte, dass sie ihren linken Arm nur noch eingeschränkt einsetzen konnte. Für den operativen Polizeidienst war sie daher nicht mehr tauglich. Da die Umstrukturierung der Polizeidistrikte zu einem Stellenabbau geführt hatte, war Maren Dokken umso mehr willkommen gewesen. Ganz abgesehen davon war sie überaus tüchtig. Vor über dreißig Jahren hatte Wisting mit ihrem Großvater zusammengearbeitet. Maren war ebenso geduldig wie er und besaß darüber hinaus die Fähigkeit, in komplexen Fällen die Übersicht zu behalten, Details zu erkennen und Zusammenhänge zu analysieren.

»Ist das der Vermisstenfall?«, fragte er und deutete auf die Papiere in ihrer Hand.

Maren nickte. »Alle arbeiten zurzeit daran.«

»Und wohin entwickelt es sich?«

»Gegen ihren Mann.«

»Was habt ihr rausgefunden?«

»Nichts Konkretes, aber irgendetwas stimmt da nicht.«

Wisting lehnte sich zurück. Er wollte mehr hören.

»Er hat dreimal ausgesagt«, begann Maren. »Zuerst, als die Streife zu ihm nach Hause kam, nachdem er seine Frau als vermisst gemeldet hatte, und dann noch zweimal in Vernehmungen. Er hat jedes Mal das Gleiche gesagt.«

Wisting legte den Kopf ein wenig schräg.

»Also, wortwörtlich«, fuhr Maren fort. »Wenn man dieselbe Geschichte mehrmals erzählt, gibt es in der Regel feine, voneinander abweichende Nuancen. Ein kleines Detail wird ausgelassen, und stattdessen wird etwas anderes erwähnt. Man drückt sich unterschiedlich aus, verwendet andere Adjektive oder Substantive. Etwa um zehn Uhr wird zu gegen zehn Uhr. Solche Dinge. Erik Roll hingegen bleibt bei exakt derselben Aussage, als hätte er sie auswendig gelernt. Verstehst du, was ich meine?«

Wisting wusste genau, was sie meinte. Eine erdachte Geschichte mehrmals zu wiederholen war relativ schwierig. Derjenige, der sie erfunden hatte, konzentrierte sich meist auf die Wiedergabe desselben Handlungsverlaufs. Daher war ein gewisses schauspielerisches Talent vonnöten, um glaubwürdig zu wirken.

»Worum ging es überhaupt bei der Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden?«, fragte er. »Was war der Grund, weshalb sie früher nach Hause gegangen ist?«

»Geld. Sie haben sich erst darüber gestritten, wer die Rechnung in der Kneipe bezahlen soll, und schließlich ging es um die finanzielle Situation der beiden im Allgemeinen. Die ist offenbar recht schwierig.«

Geld und Eifersucht, dachte Wisting. Das waren typische Motive für Verbrechen.

Irgendwo im Gang klingelte ein Telefon.

»Das ist meins«, sagte Maren und eilte davon.

Wisting zog das erste Dokument aus dem Karton. Meldung eines Vermisstenfalls. Der Bericht war von einer Beamtin des Lensmannbüros namens Kathe Ulstrup geschrieben worden. Der eigentliche Bericht war kurz und basierte auf einem Telefongespräch mit dem Vater von Tone Vaterland. Daraus ging hervor, dass seine Tochter zuletzt beim Verlassen der Arbeitsstelle um 20:30 Uhr am Vorabend gesehen worden war. Als die Vermisstenmeldung aufgenommen wurde, waren siebzehn Stunden vergangen.

Die ersten Befragungen bestätigten, dass Tone irgendwo auf dem Weg zwischen dem Imbiss, wo sie arbeitete, und ihrem Elternhaus im Damstien verschwunden sein musste. Die Entfernung zwischen beiden Orten betrug drei Kilometer. Arbeitskollegen berichteten, dass sie wie üblich nach Schichtende vom Imbiss weggefahren war, aber keiner der Nachbarn hatte sie nach Hause kommen sehen.

Die erste Hypothese der...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Reihe/Serie Wistings Cold Cases
Wistings Cold Cases
Wistings Cold Cases
Übersetzer Andreas Brunstermann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel SAK 1569
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Adrian Stiller • alter Fall • Cold Case • Ein kalter Fall • Hauptkommissar • Line Wisting • Neuerscheinung 2021 • Norwegen • Skandinavienkrimi • skandinavische Bücher • Unterhaltung • William Wisting
ISBN-10 3-492-99803-8 / 3492998038
ISBN-13 978-3-492-99803-1 / 9783492998031
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