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Die kleine Schwester (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61138-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die kleine Schwester -  Raymond Chandler
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Orfamay Quest kommt aus der Provinz nach Los Angeles. Sie sorgt sich um ihren vermissten Bruder. Das ist die Version, die sie Privatdetektiv Philip Marlowe auftischt. Die Spur führt hinter die Kulissen von Hollywood, wo Orfamays große Schwester ein Leinwandstar ist. Marlowe gerät in eine Welt aus Gangstern und Glamour, Cops und Fedoras. Ein Meisterwerk mit wunderbarster Film-noir-Atmosphäre. Und gleichzeitig eine gnadenlose Entlarvung der Traumfabrik. Fortsetzung der Neuedition der ?Philip-Marlowe?-Romane. Chandlers großer Hollywood-Roman in brillanter Neuübersetzung von Robin Detje. Mit einem Nachwort von Michael Connelly.

Raymond Chandler, geboren 1888 in Chicago, wuchs in England auf. Er übte verschiedenste Berufe aus, bevor er ab 1932 ernsthaft zu schreiben begann. Chandler wurde nicht nur mit seinen Romanen um den Privatdetektiv Philip Marlowe zum Klassiker der Kriminalliteratur. Er verfasste auch berühmte Drehbücher für Billy Wilder und Alfred Hitchcock. Raymond Chandler starb 1959 in La Jolla, Kalifornien.

Fünf Minuten später klingelte es an der Tür zu dem halben Büro, das ich als Wartezimmer nutze. Ich hörte die Tür gehen. Die Durchgangstür war nur angelehnt. Ich lauschte und folgerte, dass sich jemand im Büro geirrt hatte und wieder verschwunden war. Da klopf‌te es leise. Ein leises Hüsteln zum selben Zweck. Ich nahm die Füße vom Tisch, stand auf und ging nachsehen. Da war sie. Sie musste nicht erst den Mund aufmachen, ich wusste es auch so. Nie hätte jemand weniger nach Lady Macbeth aussehen können. Sie war ein kleines, braves adrettes Mädchen mit glatten braunen Haaren in steifer Frisur und einer randlosen Brille. Sie trug ein braunes Schneiderkostüm, und über der Schulter hing ihr eine jener klobigen Taschen, die an eine barmherzige Schwester denken ließen, mit dem Verbandszeug auf dem Weg zu den Verwundeten. Auf den glatten braunen Haaren saß ein ausrangierter Hut ihrer Mutter. Sie trug kein Make-up, keinen Lippenstift und keinen Schmuck. Mit der randlosen Brille sah sie nach Bibliothekarin aus.

»Das ist keine Art, mit Menschen am Telefon zu reden«, sagte sie streng. »Sie sollten sich schämen.«

»Ich lasse es mir nur nicht anmerken, aus lauter Stolz«, sagte ich. »Treten Sie ein.« Ich hielt ihr die Tür auf. Dann rückte ich ihr einen Stuhl zurecht.

Sie setzte sich auf die vordersten zwei Zentimeter der Stuhlkante. »Wenn ich so mit einem von Dr. Zugsmiths Patienten reden würde«, meinte sie, »wäre ich meine Stellung los. Er ist da sehr empfindlich – selbst bei den schwierigen Fällen.«

»Wie geht es dem alten Knaben? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich damals vom Garagendach gefallen bin.«

Sie sah mich überrascht und sehr ernst an. »Aber Dr. Zugsmith können Sie unmöglich kennen.« Zwischen ihren Lippen ging die Spitze einer eher anämischen Zunge ins Leere.

»Ich kenne einen Dr. George Zugsmith«, sagte ich, »in Santa Rosa.«

»O nein. Hier geht es um Dr. Alfred Zugsmith in Manhattan. Manhattan, Kansas, wissen Sie, nicht Manhattan, New York.«

»Das muss ein anderer Dr. Zugsmith sein«, meinte ich. »Und Sie heißen?«

»Ich weiß noch nicht, ob ich Ihnen das verraten möchte.«

»Sind hier nur auf Schaufensterbummel, was?«

»So könnte man es nennen. Bevor ich meine Familienangelegenheiten vor einem völlig Fremden ausbreite, muss ich mir sicher sein, dass er mein Vertrauen verdient.«

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein steiler Zahn sind?«

Die Augen hinter den randlosen Gläsern blitzten. »Das will ich nicht hoffen.«

Ich griff nach meiner Pfeife und fing an, sie zu stopfen. »Hoffen ist das falsche Wort«, sagte ich. »Lassen Sie den Hut weg und besorgen Sie sich eine von diesen Katzenaugenbrillen mit buntem Gestell. Sie wissen schon, die mit den schrägstehenden Gläsern, irgendwie exotisch …«

»Das würde Dr. Zugsmith nie erlauben«, sagte sie schnell. Dann fragte sie: »Meinen Sie wirklich?« Wobei sie zart errötete.

Ich hielt ein Zündholz an die Pfeife und paffte Rauch über den Schreibtisch. Sie wich zurück.

»Wenn Sie mich engagieren«, sagte ich, »dann bin es ich, den Sie engagieren. So wie ich bin. Wenn Sie glauben, dass Sie in diesem Geschäft einen Laienprediger finden werden, sind Sie verrückt. Vorhin habe ich aufgelegt, aber Sie sind trotzdem raufgekommen. Sie brauchen also Hilfe. Was ist Ihr Name und Problem?«

Sie starrte mich einfach nur an.

»Hören Sie«, sagte ich. »Sie kommen aus Manhattan, Kansas. Das letzte Mal, als ich den Weltalmanach auswendig gelernt habe, war das ein kleiner Ort nicht weit von Topeka. Ungefähr zwölf‌tausend Einwohner. Sie arbeiten für Dr. Alfred Zugsmith und suchen jemand namens Orrin. Manhattan ist eine Kleinstadt. Es kann nicht anders sein. In Kansas gibt es nur ein halbes Dutzend Orte, die es nicht sind. Ich weiß jetzt schon genug über Sie, um Ihre komplette Familiengeschichte auszuforschen.«

»Aber was hätten Sie denn davon?«, fragte sie erschrocken.

»Ich?«, sagte ich. »Nichts, und nichts liegt mir ferner. Ich habe die Geschichten der Menschen satt. Ich sitze hier nur, weil ich sonst nirgendwo hinkann. Ich will nicht arbeiten. Ich will überhaupt nichts.«

»Sie reden zu viel.«

»Ja«, sagte ich, »ich rede zu viel. Einsame Männer reden immer zu viel. Oder sie reden überhaupt nicht. Wollen wir zur Sache kommen? Sie sehen nicht aus wie die Sorte, die zu Privatdetektiven geht, vor allem nicht zu Privatdetektiven, die sie nicht kennt.«

»Das weiß ich«, sagte sie leise. »Und Orrin wäre fuchsteufelswild. Meine Mutter wäre mir auch sehr böse. Ich habe Ihren Namen aus dem Telefonbuch …«

»Nach welchem Prinzip?«, fragte ich. »Und mit geschlossenen oder offenen Augen?«

Sie starrte mich einen Moment lang an, als wäre ich verrückt. »Sieben und dreizehn«, sagte sie leise.

»Wie bitte?«

»Marlowe hat sieben Buchstaben«, sagte sie, »und Philip Marlowe hat dreizehn. Sieben und dreizehn sind zusammen …«

»Wie heißen Sie?«, knurrte ich beinahe.

»Orfamay Quest.« Sie kniff die Augen zusammen, wie am Rande der Tränen. Den Vornamen buchstabierte sie mir in einem Rutsch. »Ich wohne bei meiner Mutter«, fuhr sie fort und sprach immer schneller, als müsste sie mich nach Minuten bezahlen. »Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben. Er war Arzt. Mein Bruder Orrin wollte auch Chirurg werden, sattelte aber nach zwei Jahren Medizin auf Ingenieurswesen um. Dann ist Orrin vor einem Jahr hierher gezogen, um für die Cal-Western Aircraf‌t Company in Bay City zu arbeiten. Das wäre nicht nötig gewesen. Er war in Wichita in guter Stellung. Er wollte wohl einfach nach Kalifornien. So wie jeder.«

»Wie fast jeder«, sagte ich. »Wenn Sie schon diese randlose Brille tragen, könnten Sie wenigstens versuchen, ihr auch gerecht zu werden.«

Sie kicherte und malte mit der Fingerspitze einen Strich auf den Schreibtisch, mit gesenktem Blick. »Sie meinten diese Katzenaugenbrillen, mit denen man exotisch aussieht?«

»Genau. Nun zu Orrin. Wir haben ihn in Kalifornien, und zwar in Bay City. Was machen wir jetzt mit ihm?«

Sie dachte einen Augenblick nach und runzelte die Stirn. Dann blickte sie mich forschend an, und schließlich platzte es aus ihr heraus: »Es sah Orrin nicht ähnlich, uns nicht regelmäßig zu schreiben. Im letzten halben Jahr hat er Mutter nur zwei Mal und mir nur drei Mal geschrieben. Der letzte Brief liegt Monate zurück. Mutter und ich haben uns Sorgen gemacht. Weil ich gerade Urlaub habe, bin ich hergekommen und wollte ihn treffen. Er ist noch nie aus Kansas fort gewesen.« Sie unterbrach sich. »Machen Sie sich gar keine Notizen?«

Ich knurrte.

»Ich habe gedacht, Detektive schreiben immer alles in ein kleines Notizbuch.«

»Ich mache hier die Witze«, sagte ich. »Und Sie erzählen die Geschichte. Sie sind in Ihrem Urlaub hier raus gekommen. Und dann?«

»Ich hatte Orrin geschrieben, dass ich komme, aber keine Antwort erhalten. Aus Salt Lake City habe ich ihm ein Telegramm geschickt, darauf hat er auch nicht geantwortet. Also blieb mir nur, dahin zu fahren, wo er wohnte. Ein schrecklich langer Weg. Ich habe einen Bus genommen. Nach Bay City. Idaho Street Nr. 449

Sie hielt wieder inne, wiederholte die Adresse, und ich schrieb sie immer noch nicht auf. Ich saß einfach da und studierte ihre Brille, ihr weiches braunes Haar und den albernen kleinen Hut, die unlackierten Fingernägel und ihren Mund ohne Lippenstift und die Spitze der kleinen Zunge, die zwischen den blassen Lippen kam und ging.

»Vielleicht kennen Sie Bay City nicht, Mr. Marlowe.«

»Ha«, sagte ich. »Was ich über Bay City weiß, ist, dass ich mir jedes Mal einen neuen Kopf kaufen muss, wenn ich dort war. Soll ich Ihre Geschichte für Sie zu Ende erzählen?«

»W-w-wie bitte?« Sie riss die Augen so weit auf, dass es hinter den Brillengläsern hervor wirkte wie ein Aquarium für Tiefseefische.

»Er ist umgezogen«, sagte ich. »Sie wissen nicht, wohin. Und Sie fürchten, dass er in einem Penthouse oben in den Regency Towers in Sünde lebt, mit etwas, das einen langen Nerzmantel trägt und ein interessantes Parfüm.«

»Ach du liebe Güte!«

»Oder war das jetzt vulgär?«, fragte ich.

»Ich bitte Sie, Mr. Marlowe«, sagte sie schließlich, »das ist ganz und gar nicht, was ich von Orrin denke. Und wenn Orrin Sie so hören könnte, würde es Ihnen leidtun. Er kann richtig böse werden. Ich bin mir sicher, dass etwas vorgefallen ist. Es war ein ganz billiges Fremdenheim, der Verwalter gefiel mir nicht. Ein ganz schlimmer Mensch. Er sagte, Orrin sei vor ein paar Wochen ausgezogen, er wisse nicht, wohin, und es sei ihm auch egal, er wolle nichts als einen ordentlichen Schuss Gin. Ich weiß nicht, wie Orrin so ein Haus überhaupt betreten konnte.«

»Haben Sie ›Schuss‹ gesagt?«

Sie wurde rot. »Das hat der Verwalter gesagt. Ich gebe es nur wieder.«

»Na gut«, sagte ich. »Weiter.«

»Also, ich habe bei seinem Arbeitgeber angerufen. Der Cal-Western Company, wie gesagt. Die haben gemeint, er sei entlassen worden, wie viele andere auch, mehr wisse man nicht. Also bin ich aufs Postamt und habe gefragt, ob Orrin eine Nachsendeadresse hinterlassen habe. Und sie haben gesagt, darüber dürf‌ten sie mir keine Auskunft geben. Das sei gegen die Vorschriften. Also habe ich ihnen die Sache erklärt, und der Mann hat gesagt, wenn ich seine Schwester sei, würde er nachsehen. Er ist nachsehen gegangen...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2020
Reihe/Serie Philip Marlowe
Philip Marlowe
Übersetzer Robin Detje
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Little Sister
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1940er • 1940er Jahre • 40er Jahre • Chandler • Chandler, Raymond • Detektiv • Großstadtdetektiv • Hollywood • Hollywoodroman • Kalifornien • Krimi • Krimiklassiker • Kult • Kultdetektiv • Los Angeles • Michael Connelly • Neuübersetzung • Philip Marlowe • Privatdetektiv • Raymond • Serie • Thriller
ISBN-10 3-257-61138-2 / 3257611382
ISBN-13 978-3-257-61138-0 / 9783257611380
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