Kostbarkeiten des Lebens - Gesammelte Feuilletons und Prosa (eBook)
912 Seiten
Manesse Verlag
978-3-641-27043-8 (ISBN)
Eduard von Keyserling ist als Feuilletonist und Kritiker nicht annähernd so bekannt, wie er es verdient. Daraus resultiert das Glück, ihn mit Band 3 der großen Schwabinger Werkausgabe nun als vielseitig interessierten Kunst- und Literaturliebhaber, Theatergänger und Zeitdiagnostiker entdecken zu können. In seinen nichtliterarischen Prosatexten spiegeln sich die Dekors der Prinzregentenzeit, das bunt schillernde Geistes- und Kulturleben um 1900, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil und die Feuergarben der Avantgarde. Ob er die Goldgeschmeide Carl Strathmanns würdigt, die gleißenden Farbenspiele des frühen Kandinsky oder Alfred Kubins «Kalligraphie des Gespenstischen», Keyserlings ästhetisches Sensorium für die Modernen steht dem für die alten Meister - allen voran Tizian und Dürer - in nichts nach. Die Kritiken, selbst oft kleine Prosakunststücke, zielen weit übers bloß Ästhetische hinaus ins Seelenkundliche, Weltanschauliche, mitunter Politische. Mit luzidem Blick zeichnen sie die geistige Physiognomik einer bewegten Epoche.
Neben den Feuilletons enthält dieser mit 35 Bildtafeln bestückte Band noch weitere Funde: fünf verschollene Erzählungen Keyserlings, ein umfassendes Korpus an Briefen sowie die erste ausführliche Chronik zu Leben und Werk. Dank der Fülle an erstmals zusammengetragenen Selbst- und Fremdzeugnissen nimmt der Schriftsteller, der sich zeitlebens in nobler Diskretion übte, auch als Privat- und Gesellschaftsmensch Konturen an.
Eduard von Keyserling (1855-1918) stammt aus altem baltischem Geschlecht, studierte Kunst und Jura und begann schon früh mit dem Schreiben. Als freier Schriftsteller lebte er zunächst in Wien, später in Italien und München, wo er der Schwabinger Boheme angehörte. Durch eine Krankheit erblindet, vereinsamte Keyserling in den letzten Lebensjahren zunehmend.
Wolzogen-Konzerte
München, Anfang Februar.
Als Ernst von Wolzogen die Überbrettelära eröffnete, kam er, so schien es, damit einer temporären Erkrankung der Genussfähigkeit unseres Theaterpublikums entgegen, einer Art Kurzatmigkeit im Interesse an dramatischer Kunst. Auf den großen Bühnen herrschte der Einakter, auf den kleinen die Brettelkunst. Das Publikum verachtete feste konsistente Speise. Wie einem Magenkranken musste ihm alles in gehacktem Zustande gereicht werden. Das Ragout war Parole. Sollte das eine Kur sein, so schlug sie gut an. Der Kranke verspürte bald Widerwillen gegen die Krankenkost, der Theaterappetit wuchs, die längsten Dramen wurden wieder gut vertragen. An diesem Phänomen lag es vielleicht auch, dass das, was Wolzogen gewollt hatte, ihm unter der Hand zu etwas anderem wurde. Als er hier sein erstes «Wolzogen-Konzert» mit einer einleitenden Rede eröffnete, führte er ungefähr Folgendes aus: Die schlechten Nachahmungen haben ihm sein Überbrettel verleidet; er will damit nichts mehr zu tun haben. Dennoch erscheint ihm einiges an der Überbrettelidee der Erhaltung wert und geeignet, unser Konzertwesen aufzufrischen. Dazu gehört eine größere Abwechselung im Programm, welche die «feierliche Eintönigkeit» unserer Konzerte beleben würde, dann ein stärkeres Betonen des Mimischen.
Was uns geboten wurde, entsprach diesem Programm: Lieder, Geigenspiel, Rezitation, schöne Frauen, hübsche Kleider. Es gab einen großen, warmen Erfolg, in dessen Mittelpunkt die anmutige Gestalt der Frau von Wolzogen stand.
Solch eine hübsche Spezialität können wir uns wohl gefallen lassen. Wenn aber die hier angewandte Methode den Anspruch erhebt, für unser Konzertwesen überhaupt empfehlenswert zu sein, so scheint mir das zweifelhaft. Die feierliche Eintönigkeit eines Chopinabends von Stavenhagen oder eines Hugo Wolf-Abends von Anton Dressler würden wir uns um keinen Preis durch heitere Abwechslung stören lassen. Ebenso gefährlich erscheint mir das Betonen des Mimischen bei Liedervorträgen. Lyrische Dichtung und lyrische Musik sollen körperlos sein. Die Stimmen des Sängers und seine Empfindung sind das Instrument, welches uns den Gehalt des Kunstwerkes übermittelt. Die mimische Geste bindet das ausgedrückte Gefühl an die Person des Sängers. Es sind nicht mehr Leid und Freude, die namenlos zu uns herüberflattern und unser werden, sondern Leid und Freude des Herrn Soundso. Auch die Ballade verliert durch Mimik das Ferne, Verschleierte; sie wird zu deutlich, kommt uns zu nah und wird eng dadurch. Wo ein kleines Lied dazu dient, die Persönlichkeit einer anmutigen Sängerin zur Geltung zu bringen, da ist die Geste willkommen. Sonst wird es, hoffe ich, bei dem alten Brauche bleiben, der uns gestattet, im Genuss des Liedes den Sänger zu vergessen.
Unsere Jüngsten
München, im März.
In der Hand der Zwanzigjährigen liegt die nächste Zukunft, auch die unserer Literatur; es ist daher nicht unwichtig, ein wenig in die Werkstatt der jungen Herren hineinzuschauen.
Die Herren sind eifrig bei der Arbeit. Das literarische Leben unserer Jüngsten ist hier in München sehr rege. Was die literarische Jugend von heute von der früheren unterscheidet, ist, dass die jungen Leute heute gedruckt werden. Sie werden alle gedruckt. Der schüchterne poetische Versuch des Zwanzigjährigen, der keusch im Geheimfach des Schreibtisches verschlossen wurde, ist längst eine Fabel geworden. Unsere jungen Leute beginnen ihre Laufbahn und ihre Entwicklung resolut vor der Öffentlichkeit. Sie haben Vereine, in denen ihre Verse, Dramen, Novellen einem großen Publikum vorgetragen werden, die Presse bespricht sie, Zeitschriften drucken sie ab. Charakteristisch ist es, wie viele Zeitschriften hier von ganz jungen Leuten gegründet und redigiert werden. Ein Zeitschriftenbesitzer und Chefredakteur in der Uniform des Einjährig-Freiwilligen ist bei uns keine Seltenheit. Ein jeder ruft, so laut er kann, dem Publikum seinen Namen in die Ohren. Wenn wir den Herren glauben sollen, haben wir uns sehr viele Namen zu merken. Die Kunst, zu Worte zu kommen, hat die literarische Jugend unserer Tage vor der früheren voraus. Die Gefahr, dass ein Talent unbemerkt verkümmere, ist sehr gering geworden. Das mag gut sein. Das Erstarken des praktischen Sinnes, der Mut, das Leben stark anzufassen, sind ja Dinge, die an sich erfreulich sind, wenn wir auch vom Dichten absehen.
Wie früher ist auch heute noch die Lyrik die bevorzugte Kunstart der Jungen. Das erste Erlebnis des Menschen ist er selbst, so liegt die subjektivste Kunstart dem jungen Dichter am nächsten. Das stete Anrufen der Öffentlichkeit als Kontrolle hat unbedingt das formale Können unserer jungen Dichter gesteigert. Das Niveau dieses artistischen Könnens ist erstaunlich hoch. Klang, Farben, Bilder werden virtuos beherrscht. Ein wahrer Rausch der Wortpracht hat unsere Poeten erfasst. Farbe, Glanz, Musik – die Bilder können nicht neu genug sein, die Sprache wird bis zum Überschäumen mit Stimmung gesättigt. Das alles ist zuweilen recht hübsch und meist sehr geschickt, nur etwas kommt dabei zu kurz, und das ist der Gedanke. Er wird immer gespenstischer, immer schwerer zu finden. Er erstickt unter der Wortpracht. Trotz allen Talentes und allen Könnens wird, fürchte ich, die Diagnose für diese Dichtungen lauten: Anämie des Gedankens, Hypertrophie des Wortes.
Nicht unwichtig ist es, darüber nachzudenken, wie dieses Kunstideal unserer jungen Dichter auf die Zukunft unserer Literatur wirken muss. Nun, ich glaube eine starke Sehnsucht nach Klarheit, nach dem knappen Worte, dem festen Umriss, nach Ehrlichkeit vor dem Leben muss auf diese Orgie der Farben und Stimmungen folgen. Gott, wir Deutsche haben doch eine unglückliche Liebe zu all diesen Dingen, wir vermögen nur nicht lange bei ihnen auszuharren. Wir müssen immer wieder ein Nebelbad nehmen, um uns von der Klarheit zu erholen. Dürfen wir die Dichtung unserer Jüngsten als solch ein Bad betrachten, so wäre Aussicht, dass die deutsche Literatur sich in absehbarer Zeit wieder daranmacht, die Kunst aus dem Leben aufwachsen zu lassen.
Die Schlaf-Tänzerin
Ein plastisches Kunstwerk muss seinen eigenen, idealen Raum haben. In sich geschlossen steht es da, nur für sich, auf seinem eigenen Boden. Wollen wir es genießen, dann müssen wir von uns und unserer Alltagswelt fort in seine Welt hinüberkommen. Madame Madelaine G., die Schlaftänzerin, rückt durch den hypnotischen Schlaf für uns in diese Kunstdistanz. Der Saal, in dem sie auftritt, das Publikum, das Leben um sie her, alles versinkt für sie. Sie ist mit der Musik und den Träumen, welche die Musik ihr gibt, ganz allein. Zwingt sie uns, ihr Leben und ihre Kunst mit zu erleben, mit zu empfinden, dann zieht sie uns von unserer Welt in ihre wunderbare Traumwelt hinüber. Die Hypnose ist das Postament, auf dem dieses Kunstwerk steht.
In dem schönen Saal eines Privathauses führte die Psychologische Gesellschaft Madelaine G. einem geladenen Publikum vor. Dr. von Schrenck-Notzing gibt mit diskreter Stimme einige Erklärungen: Die Dame ist Russin und in Tiflis geboren. Der Magnetograph Herr Magnin entdeckte bei Gelegenheit einer hypnotischen Kur ihre Fähigkeit, auf Musik und auf das gesprochene Wort in rhythmischer Bewegung und mimisch zu reagieren. Das Publikum wird ermahnt, die Künstlerin nicht durch Geräusch, durch Beifall zu stören. Das Licht wird gedämpft. Auf der Bühne gehen Herren auf den Fußspitzen hin und her und sprechen leise miteinander. Es ist wie in einem Krankenzimmer. Eine junge Frau erscheint, eine zierliche Gestalt in einem blauen griechischen Gewande. Das bleiche, runde Gesicht hat weiche, ein wenig slawische Züge und schöne, dunkle Augen. Sie setzt sich gemütlich auf einem Sessel zurecht und gibt Herrn Magnin lächelnd ihre Hände. Nun herrscht tiefe Stille. All das hat den Charakter des Operationszimmers eines Arztes. Das Publikum wacht schweigend und gespannt bei einer Kranken. Jetzt ist sie in hypnotischen Schlaf gesunken. Glanzlos und leblos starren die Augen in das Licht. Das Gesicht ist ausdruckslos, erschreckend leer in seiner toten Ruhe.
Mit den ersten Tönen, die auf dem Klavier angeschlagen werden, erhebt sie sich. Ein leichtes Beben durchläuft ihren Körper. Es ist, als würden die Glieder leichter, als lösten sie sich von etwas, das sie band. Eine wunderbare Bewegungsbereitschaft spannt sie. Die Arme heben sich, strecken sich gerade aus; der Oberkörper wird sachte hin- und hergewiegt. Wie eine Sehnsucht zu fliegen, zittert in der ganzen Gestalt, zu fliegen wie Möwen, die mit den geraden, weißen Flügeln die Luft durchschneiden, und bei denen jeder Flügelschlag eine Wollust erscheint. Jetzt ist der ganze Körper auf das bewegte Leben der Musik gestimmt; ihr gehorcht er bedingungslos und mühelos. Er ist ganz von Musik getränkt, nur sie lebt in ihm. Ton und Bewegung wachsen so eng zusammen, werden so sehr eins, dass es zuweilen scheint, als gehorche der Ton der Bewegung, als klinge und singe die Bewegung.
Bei der süßen Klage einer Chopinschen Nocturne lächelt das Gesicht, aber das Lächeln wird kummervoll, wird zum Ausdruck einer inneren Qual; die Hände ringen sich leicht ineinander; die Gebärden sind weich und unruhvoll, als suchten sie den Schmerz herauszusagen, der in der Musik ringt, und verständen...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2021 |
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Reihe/Serie | Schwabinger Ausgabe | Schwabinger Ausgabe |
Nachwort | Lothar Müller |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Albrecht Dürer • Alfred Kubin • Alltag • Ästhetik • cottagecore • Deutsche Literatur • deutschsprachiger Klassiker • eBooks • Essays • Feiertagskinder • Florian Illies • Gustav Klimt • Kunst • Landpartie • Lovis Corinth • München • Philosophie • Psychologie • Schwabing • Sezession • Tintoretto • Tizian • Wassily Kandinsky • Weihnachten Buch • Weihnachtsgeschenke • Wellen |
ISBN-10 | 3-641-27043-X / 364127043X |
ISBN-13 | 978-3-641-27043-8 / 9783641270438 |
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