Terror - Das Recht braucht eine Bühne (eBook)
In diesem Band widmen sich namhafte Expertinnen und Experten den politischen, juristischen, ethischen und künstlerischen Fragestellungen des Stücks. Sie beleuchten Hintergründe, schildern persönliche Erfahrungen, geben Denkanstöße. Außerdem enthalten ist Ferdinand von Schirachs Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele sowie ein umfangreiches Interview mit dem Autor.
Ferdinand von Schirach
Salzburger Rede
Die Festspiele zeigen Gesichter der Macht. Die Macht der Vergebung, die Macht der Besiegten, die Macht der Frauen und die der Gewalt. Es ist ein Programm für unsere Zeit. Stefan Zweig beschreibt in »Die Welt von Gestern« eine Szene, an die ich in diesen Tagen immer wieder denken muss. Er sitzt auf einer Bank im Badener Kurpark bei Wien, wie immer ein wenig abseits der Menge. Die Frauen tragen helle Sommerkleider, der Tag ist lind und wolkenlos und von sattem Grün. Er liest und hört, halbbewusst nur, der Kurkapelle zu. Plötzlich bricht die Musik mitten im Takt ab.
»Instinktiv sah ich vom Buche auf. Auch die Menge, die als eine einzige flutende helle Masse zwischen den Bäumen promenierte, schien sich zu verändern; auch sie stockte plötzlich in ihrem Auf und Ab. Es musste sich etwas ereignet haben.« Das Ereignis, von dem Zweig spricht, gilt als Auslöser des Ersten Weltkriegs, es war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers.
Heute stehen wir wieder an einer Schwelle. Wieder geht es um Macht, aber jetzt ist sie ganz anderer Natur, sie wurde von den Librettisten der Opern nicht beschrieben. Sie ist unsere höchste Autorität, sie wurde zur Grundlage aller modernen Staaten, und sie lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: »Alle Macht geht vom Volke aus.« Nach langer Dunkelheit war das die eine strahlende, die ganz und gar menschenfreundliche Idee – und zugleich kann sie alles zerstören, was wir sind.
Heute gibt es rasend schnelle Äußerungen über Facebook, WhatsApp und Instagram, auf den Nachrichtenportalen der Zeitungen kann jeder alles kommentieren, Meinungsumfragen werden in kürzester Zeit erstellt. Die Politiker haben längst begonnen, damit zu arbeiten. Vor wenigen Jahren noch fanden die entscheidenden Debatten in unseren Parlamenten statt, dann wurden Fernsehtalkshows zum wichtigsten öffentlichen Forum, und jetzt regiert ein amerikanischer Präsident praktisch via Twitter – Millionen Menschen lesen jeden Tag seine ungezügelten Gedanken. Das Internet hat das Gefüge der Demokratien schon grundlegend verändert. Aber das Entscheidende ist: Die Bürger sind nicht mehr nur Empfänger von Nachrichten, sie wurden zu sehr mächtigen Sendern. Revolutionen sind nicht mehr nötig – nie zuvor haben Menschen so mühelos ihre Stimme erheben können, nie zuvor wurden sie so deutlich gehört. Noch scheint das Schrille, das Vulgäre und Bösartige in den Kommentaren zu überwiegen, politische Karrieren werden so in ein paar Stunden beendet, Belanglosigkeiten zu Staatsereignissen stilisiert. Aber auch viele Nachdenkliche fordern heute in den westlichen Staaten, die Wähler unmittelbar an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Die Bürger glauben, sie könnten es besser als ihre gewählten Politiker. Es sei ihr Staat, sagen sie, nur sie wüssten wirklich, was für sie gut und richtig ist. Volksentscheide sollen jetzt im großen Umfang möglich werden.
Die Medien, die Wege sind neu, ja, aber die Idee einer umfassenden Bürgerbeteiligung ist schon sehr alt. Athen war bereits vor 2500 Jahren eine solche absolute Demokratie. Und schon lange vor dem Begriff Schwarmintelligenz glaubte Rousseau, der Volkswille würde stets die richtige Entscheidung treffen. Seine Souveränität, schrieb er, könne nicht vertreten werden. Jedes vom Volk nicht persönlich ratifizierte Gesetz sei nichtig. Technisch wäre eine ständige Mitbestimmung heute wohl kein Problem – man kann sich eine BundesApp vorstellen, durch die der Bürger sich abends nach der Tagesschau zur Politik erklärt. Und nach Rousseau können ja Trump, Putin, Erdoğan oder der Brexit gar nicht falsch sein – eben weil die Menschen sich so entschieden haben. Aber stimmt das wirklich? Oder lehrt uns die Vergangenheit doch etwas ganz anderes? Erlauben Sie mir, Ihnen dazu eine Geschichte zu erzählen.
Am 13. Oktober 1761 sitzt Jean Calas mit seiner Familie und einem Gast beisammen. Es ist ein netter Abend, man isst gut, unterhält sich über die Geschäfte und die Politik. Calas ist ein erfolgreicher Kaufmann in Toulouse.
Der älteste Sohn der Familie, damals 28, verlässt die Gesellschaft gegen halb neun. Vor zwei Jahren hat er sein Jurastudium beendet, Anwalt durfte er jedoch nicht werden. Er sei der Sohn eines dogmatischen Hugenotten, hieß es – die Behörden verweigerten die Zulassung. Die Calas sind zwar katholisch getauft, aber sie praktizieren den protestantischen Glauben. Das spielt in Toulouse eine wichtige Rolle. Die Stadt ist die Hochburg des Antiprotestantismus, Calas gehört zur Minderheit.
Kurz vor 10 Uhr bringt Callas den Gast nach unten. Das Kontor ist im Erdgeschoss, die Tür dorthin steht offen. Im Türrahmen hängt der Sohn tot an einem Strick. Der Vater schneidet ihn los und legt den Leichnam zu Boden.
Die Ermittlungen beginnen noch in der Nacht. Jean Calas erklärt, er sei sich sicher, dass sein Sohn ermordet wurde.
Vier Tage später müssen die Katholiken den Priestern Auskunft zu dem Verbrechen geben – Verweigerung wird mit Exkommunikation bestraft. Das Ergebnis der Befragung ist erstaunlich: Der Sohn habe sich zum katholischen Glauben bekennen wollen und der Vater gedroht, ihn dafür umzubringen. Es finden sich jetzt sogar Zeugen, die aussagen, der Sohn habe in der Nacht um Hilfe gerufen.
Die Kirche lässt den Toten öffentlich aufbahren und erklärt ihn zum Märtyrer des katholischen Glaubens. Das bringt die Stimmung in der Stadt vollends auf. Alle sind sich einig: Der Mörder ist Calas selbst. Niemand zweifelt an seiner Schuld.
Am 9. März 1762 wird er zum Tod auf dem Rad, seine Frau, sein Sohn und der Gast zum Tod am Galgen und die Haushälterin zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. An Calas wird schon einen Tag später das Urteil vollstreckt. Nur mit einem Hemd bekleidet, barfuß und mit einem Strick um den Hals, wird er wie ein Stück Vieh durch die Straßen der Stadt gezogen. Dann wird er auf ein Rad geflochten und gefoltert. Seine Arme, seine Beine und sein Rückgrat werden gebrochen. Er soll den Mord gestehen, aber Calas schreit immer wieder, er sei unschuldig. Schließlich wird er erhängt, seine Leiche auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Immerhin sind die Richter von seiner Haltung beeindruckt, sein fehlendes Geständnis rettet den anderen das Leben. Ihre Strafen werden erlassen, nur der Sohn wird lebenslang verbannt.
Der Fall Calas hätte an dieser Stelle zu Ende sein können, es gab so etwas öfters. Aber dann geschieht etwas völlig Unerwartetes, etwas, was Stefan Zweig eine Sternstunde der Menschheit genannt hätte. Ein einzelner Mann erhebt sich und verändert die Geschichte. Seine Waffen sind nur sein brillantes Gehirn, seine unglaubliche Arbeitskraft, seine Abscheu vor der Ungerechtigkeit und sein Glaube an das Recht. Er hält »die Toleranz für das heiligste der Menschenrechte«. Es ist Voltaire.
Das ganze gebildete Europa liest seine Bücher, er war Gast von Königen und Kaisern, wurde verbannt, saß im Gefängnis und legte sich mit der Kirche an. Er ist elegant, skeptisch, sarkastisch, und vor allem ist er stur. Das Sture, meine Damen und Herren, das Unbeugsambleiben, das ist ja oft ein Schlüssel. In der Rechtswissenschaft ist die sogenannte »herrschende Meinung« das Maß der Dinge – in der Kunst, der Literatur, der Philosophie und in gewisser Weise auch in der Strafverteidigung ist sie es nicht. Im Gegenteil. Noch nie ist ein Kunstwerk demokratisch entstanden, noch nie beruhte ein bedeutendes Buch auf Kompromissen, und Prozesse werden nicht dadurch gewonnen, dass alle einer Ansicht sind. Voltaire wusste, dass es eben nicht nur eine Schwarmintelligenz gibt, sondern auch eine Schwarmdummheit, eine Schwarmbösartigkeit und eine Schwarmgemeinheit.
Voltaire ist schon ein alter Mann, als er von dem Fall Calas hört. Er trifft den jüngsten der Calas-Söhne, und der erzählt ihm die Wahrheit: Sein Vater habe sofort erkannt, dass sein Junge Selbstmord begangen habe. Aber damals wurden Selbstmörder nackt an den Fersen durch die Straße geschleift, dann als Verbrecher aufgehängt und mit Steinen beworfen. Diese Entehrung wollte Calas ihm ersparen, und deshalb habe er gelogen.
Voltaire ist entsetzt. Er schreibt hunderte Briefe, wütende, anklagende Briefe an das Gericht, den Hof, an Honoratioren, Grafen und Herzöge und unterrichtet sogar Madame Pompadour, die Geliebte des Königs. Die Antworten sind verhalten – es klingt fast wie heute: Man habe weder die Informationen noch die Mittel, etwas zu unternehmen.
Voltaire begreift, dass er seine Strategie ändern muss – und endlich tut er das, was ein guter Schriftsteller immer tun sollte: Er erzählt eine Geschichte. Geschichten berühren uns mehr als philosophische Abhandlungen und Bittbriefe. Voltaire schreibt über einen englischen Kriminalprozess, in dem eine sehr erotische Frau auftritt und dann auf mysteriöse Weise verschwindet. Ein Gelehrter klärt das Verbrechen auf. Die Geschichte beruht auf Tatsachen, ist aber viel interessanter als die Wirklichkeit. Und damit deutlich wird, dass es eigentlich um Calas geht, lässt Voltaire zwei Anwälte ein Nachwort über seinen Fall schreiben. Es funktioniert – erotische Frauen kamen schon damals gut an, das Büchlein kostet nicht viel, es wird zum Verkaufsschlager.
Der Druck wird für die Gerichte zu groß. Der Conseil d’État tritt zusammen und beschließt das Wiederaufnahmeverfahren. Es dauert noch zwei Jahre, bis der Kampf endgültig gewonnen ist, aber dann wird Calas rehabilitiert. Es war das erste Urteil in Frankreich, das aufgehoben wurde, und darüber hinaus lässt sich Voltaires Eingreifen als der eigentliche Beginn der Aufklärung begreifen. Sein Handeln war ein Trotzdem, trotz der herrschenden...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Anthologie • Bedrohung • Catrin Misselhorn • Detlev Baur • Dirk Diekmann • eBooks • Ferdinand von Schirach • Ferdinand von Schirach: Terror • Franz-Josef Jung • Kampfpilotin • Mathias Kepplinger • Menschenwürde • Nicola Baumann • Otto Depenheuer • Robert Habeck • Sabine Leutheusser-Schnarrenberger • Sara von Schwarze • Terrorgefahr • Theaterstück • Ursula Kagerer |
ISBN-10 | 3-641-25857-X / 364125857X |
ISBN-13 | 978-3-641-25857-3 / 9783641258573 |
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