In schwierigen Zeiten (eBook)
280 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7504-7827-5 (ISBN)
Der Autor ist als Jurist tätig und beschäftigte sich für dieses Buch mit dem dokumentarischen Nachlass seines Großvaters.
Die Vollstreckung des Todesurteils war auf den 26.11.1948
angesetzt worden
Der Enkel hat vom Besuch bei der Mutter einen Kasten mit alten Unterlagen mitgebracht. Eine deckellose Holzkiste, die ursprünglich ein halbes Dutzend Flaschen Cabernet Sauvignon enthalten hatte. Jetzt birgt das Behältnis die verbliebenen Akten seines Großvaters. Der Enkel hat so gut wie keine Erinnerung an ihn, denn der Großvater war gestorben, als der Enkel noch ein Kind war. Es hatte kein intensiver Kontakt bestanden; die Großeltern lebten im Norden, an der Este, die Familie des Enkels im Westen, am Rhein. Über den Großvater war auch nicht viel gesprochen worden. Später auch nicht, als der Enkel etwas älter war und der Großvater bereits tot. Das, was heute interessiert, was man hätte fragen und hinterfragen sollen, war damals kaum erörtert worden. Und in den Siebzigern, als der Enkel Jugendlicher gewesen war, schämten sich plötzlich etliche junge Deutsche, dass sie überhaupt Deutsche waren. Auch dann, wenn ihre Eltern und Großeltern während der Herrschaft der Nationalsozialisten keine Verbrechen begangen hatten. Dann schämte man sich eben, dass sie nichts getan, nicht widersprochen, nicht aufbegehrt, nicht Widerstand geleistet hatten. Die Jugend war sich sicher, dass sie aufrechter gewesen wäre, mutiger, tollkühner. Da war es allemal besser, nicht zu erwähnen, dass der Großvater Kriminalpolizist und in der NSDAP gewesen war, einer der „Nazi-Opas“, die man lieber verschweigt.
Der Enkel weiß nicht viel über seinem Großvater und hat noch weniger Einnerung an ihn. In einer der wenigen Sequenzen, die sich dem Gedächtnis eingeprägt haben, sieht er sich mit dem Großvater beim Steigenlassen eines einfachen Plastikdrachens. Ein alter Mann mit schütterem grauem Haar. Der Enkel erinnert sich seiner als sehr still, vielleicht in Kenntnis der schweren Erkrankung. Er meint, der Großvater habe ihn an der Hand gehalten, als man ins Haus zurückkehrte. Jedenfalls war er mit dem Großvater auf der Wiese vor dem Hochhaus gewesen, in dem die Großeltern damals gelebt hatten, Mitte der Sechzigerjahre. So ein richtig hohes Hochhaus war es gar nicht, aber sieben Etagen erschienen ihm als Kind schon imposant, zumal die Großeltern eine Wohnung im sechsten Stock bewohnt hatten. Im Freien, auf dem Balkon, vorsichtig über die Brüstung gebeugt, war dem Enkel auch die Tiefe gegenwärtig. Es muss wohl im Herbst gewesen sein, denn damals hatte alles noch seine feste Zeit. Da wurde nicht im Winter gegrillt und im Frühjahr hätte man auch bei bestem Wind keinen Drachen steigen lassen, weil die Zeit der Drachen eben der Herbst war. Welches Jahr es gewesen ist, erinnert der Enkel sich nicht. 1969 ist der Großvater gestorben. Am Heiligen Abend. Vielleicht war es im Jahr davor?
Der Krieg liegt ein Menschenalter zurück, der Großvater ist ein halbes Jahrhundert tot. Es ist Zeit, in den Unterlagen zu blättern, die der Enkel mitgebracht hat. Familienforschung wird ja momentan wieder intensiv betrieben, gar mit professionellen Gutachtern, wenn es sich um Unternehmerfamilien handelt. Meist sind die Erkenntnisse wenig schmeichelhaft. Auch die bisher Unbescholten finden sich plötzlich im braunen Dunstkreis wieder. Da muss der Enkel nicht viel fürchten, denn der Großvater gilt ohnehin bereits als der klassische „Nazi-Opa“, jahrelang in amerikanischem Militärgefängnis inhaftiert, dem Galgen nur knapp entronnen, schlimmer kann es kaum werden. Trotzdem greift der Enkel zu den angestaubten Akten, will wissen, ob er Näheres in Erfahrung bringen kann, Hintergründe, Motive, Einzelheiten.
Als er den Satz liest, mit dem er das erste Kapitel überschrieben hat, weiß der Enkel natürlich, dass der Großvater damals nicht gehängt wurde, wie es das amerikanische Militärgericht bestimmt hatte. Trotzdem lassen ihn die Worte schaudern. Die kühle bürokratische Ankündigung der hoheitlich angeordneten Tötung findet sich im ersten Hefter, den der Enkel aus der ehemaligen Weinkiste genommen hatte. Ein karamellbrauner Leitz-Hefter Rapid. In ordentlicher, gut lesbarer Schrift mit blauer Tinte betitelt: Betr.: Landsberg. Und in der Zeile darunter mit derselben sauberen Füllfederhalterschrift: Zusammenfassung.
Der Sammelordner klingt vielversprechend, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er riecht alt, muffig, etwas stechend. Als Erstes: ein beinahe durchsichtiges Durchschlagpapier. So etwas wird heute gar nicht mehr verwendet. Mit rotem Farbstift noch einmal: Zusammenfassung, und daran anschließend mit Tinte: 1 Exemplar hat ihr Zeuge – Herr Dr. Meuschel – Innenministerium (Disziplinarverf.). Die Heftung stammt offenbar von Großvaters Rechtsanwalt. Aus der Zeit, als er um seine Rehabilitierung kämpfte. In der Folge ein zehnseitiger maschinegeschriebener Schriftsatz zum case of Hch. Baumann et al – Case Nr. 12–3193 B. Die gleiche Art von windigem Durchschreibepapier, das fast den gesamten Hefter durchzieht. Der Enkel grübelt zunächst erfolglos, wofür das Kürzel Hch. steht, das weder zu einem gängigen Dienstgrad passen mag noch zu einem Ehrentitel. Tatsächlich ist es nur die simple Kurzform für Heinrich, denn die weitere Lektüre offenbart ihm, dass von zwei Mitangeklagten des Großvaters, die den Familiennamen Baumann trugen, einer auf diesen Vornamen hörte. Der Schriftsatz informiert den Enkel über die wichtigsten Umstände des Militärgerichtsverfahrens. Immer wieder wird vom Rechtsanwalt auf eine Unmenge von Anlagen Bezug genommen, so dass nicht alles sofort klar wird. Aber der Enkel liest zuerst die zehn Seiten der Zusammenfassung zu Ende, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Bei dem Prozess ging es offenbar um einen im ganzen Deutschen Reich zu befolgenden Tötungsbefehl für abgeschossene oder notgelandete alliierte Piloten. Hatte der Großvater das befohlen? Hatte er überhaupt die Befugnis gehabt, ewas so Weitreichendes anzuordnen? Der Enkel weiß, dass der Großvater bis zum Kriegsende bei der Kriminalpolizei gewesen war. Aber in einer so hohen Position, dass er eine allgemeine Anordnung dieser Tragweite hätte erteilen können? Die Durchsicht des Hefters zieht sich länger als erwartet. Es ist ein Sonntag im Januar und der Enkel hat Zeit, die vielen eng beschriebenen Seiten durchzuschauen. Vor dem Wohnzimmerfenster glitzert harscher Schnee in eisiger Kälte. Nachts sinkt die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt. Auch tagsüber ist es frostig. Der Enkel wendet sich im Warmen der dunklen Vergangenheit zu.
Die erste Anlage im Hefter ist die Anklageschrift (CHARGE SHEET) des Gerichts der Militärregierung (MILITARY GOVERNMENT COURT) gegen Heinrich Baumann et al. Der Großvater ist einer der alii, der anderen. Die Anklageschrift ist abschnittsweise auf Englisch und anschließend auf Deutsch und enthält vier Vorwürfe:
„Anklage 1: Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges.“ Eine konkrete Norm wird nicht genannt. Auch die folgenden Einzelheiten klingen etwas diffus: „Dadurch, dass“ – es folgen die elf Namen der Angeklagten, der letzte ist der des Großvaters – „,deutsche Staatsangehörige, vom 7. Dezember 1941 bis zum 8. Mai 1945 an verschiedenen Orten innerhalb des damaligen Deutschen Reiches einzeln und gemeinsam als Haupttäter, Teilnehmer, Anführer, Anordner, Anstifter und Helfershelfer sich in einem gemeinsamen Plan oder in ein Vorhaben, Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges zu begehen oder begehen zu lassen, eingelassen, ihn gefasst und daran teilgenommen haben und demzufolge rechtswidrig dazu angestiftet, dabei geholfen, darin unterstützt, angeordnet, und daran teilgenommen oder durch Zustimmung dazu beigetragen haben, Angehörige der bewaffneten Streitkräfte von Staaten, die sich damals im Kriegszustand mit dem damaligen Deutschen Reich befanden, die sich damals dort ergeben hatten und sich als unbewaffnete Kriegsgefangene im Gewahrsam des damaligen Deutschen Reiches befanden, Grausamkeiten und Misshandlungen einschließlich der Tötung, Schlägen, Quälereien, Beschimpfungen und unwürdiger Behandlung auszusetzen.“
Als Strafrechtler denkt der Enkel, da müsse doch jetzt noch etwas kommen, etwas, das präzisiert, was der Großvater wann und wo und mit wem konkret gemacht haben soll. Aber zu diesem ersten Anklagepunkt folgt nichts Erläuterndes. Die Tatzeit bleibt ungenannt – irgendwann zwischen dem Kriegseintritt der Amerikaner nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und der Kapitulation des Deutschen Reiches. Auch die Örtlichkeit ist mit „at sundry places within the then German Reich“ so weitläufig gefasst, dass man eigentlich nicht von einem Tatort sprechen kann. Die konkrete Tathandlung wird ebenso wenig erwähnt. Auch nicht, ob der Großvater mit allen Mitangeklagten gehandelt haben soll oder nur mit einigen von ihnen, ob er Haupttäter gewesen sein soll, Anstifter oder Gehilfe, vielleicht „Anordner“, was im Englischen etwas nachvollziehbarer als „organizer“ beschrieben wird. Wenn der Enkel nicht dem...
Erscheint lt. Verlag | 29.1.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7504-7827-9 / 3750478279 |
ISBN-13 | 978-3-7504-7827-5 / 9783750478275 |
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