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Herzensfreundin (eBook)

Die schönsten Geschichten

Julia Gommel-Baharov (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491205-9 (ISBN)

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Herzensfreundin -
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Geschichten von und für die besten Menschen der Welt - unsere Freundinnen! »Freunde sollte der Mensch schon haben, sonst wird es wirklich kalt in der Welt. Ohne die wirklich gute, enge Herzensfreundin, die alles versteht, über Jahre alles mitkriegt, alles erzählt und tröstet und getröstet wird, ohne diese Freundin ist das Leben trübe.« Elke Heidenreich Mit Texten von Julia Franck, Silvia Bovenschen, Anne Frank und vielen anderen

Zsuzsa Bánk

Lydia


Damals sind wir gesprungen, Lydia und ich, so hoch und so oft wir konnten, die Hände über unseren Köpfen, in bunten Kleidern, die Beine angezogen, die Füße in dicken Schuhen, die wir beim Springen anlassen durften und die sich manchmal lösten und hinabfielen. Dort unten am Hafen, wo hinter großen Gittern und Verbotsschildern vier, fünf kleine Boote auf dem Wasser schaukelten, nicht mehr, vielleicht, weil es kein wirklicher Hafen war, nur braunes Wasser vor einem endlosen Platz aus Beton, auf den ein Zirkus seine Wagen und Zelte und Buden stellte, in den Sommermonaten. Und ein Trampolin, ein großes Trampolin, auf dem wir für fünfzig Pfennig springen konnten, Lydia und ich.

Lydia schaute durch das Fernrohr, das man ans Wasser gestellt hatte, neben ein Gitter, lange vor unserer Zeit, als es hier noch Kräne und Schiffe und Hallen und Waggons gegeben hatte, und sie schaute auch durch andere Fernrohre, bei jeder Gelegenheit, wo immer wir waren. Ich begriff nicht, was sie daran mochte, an diesem Schauen durch ein dunkles Rohr, das die Welt verkleinerte, nur einen Ausschnitt zeigte, aber vielleicht mochte ich es bloß deshalb nicht, weil Lydia es so sehr mochte, und weil ich wollte, daß mir einmal etwas nicht gefiel, das ihr gefiel, und wenn es bloß das Schauen durch ein Fernrohr war. Ich verstand nicht, was Lydia sehen konnte, was überhaupt irgendwer sehen konnte – außer der Farbe Grün konnte ich nie etwas erkennen, und bis ich begriffen hatte, wie ich es halten und drehen mußte, klappte die Linse zu, und es wurde schwarz.

Lydia tat jedesmal so, als sehe nur sie, was sie sah, als könne es kein anderer sehen, als sei das Fernrohr, durch das sie schaute, kein einfaches Fernrohr, in das jeder eine Münze werfen konnte, sondern nur für Lydia gemacht, nur für sie da, nur von ihr zu bedienen. Auf unseren Spaziergängen, Streifzügen, Ausflügen ließ sie keines aus, nicht das auf dem Aussichtsturm im nahen Wald, nicht das auf der Besucherterrasse des Flughafens. Jedesmal stellte sie sich auf dieses winzige Podest aus Stahl, mit ihren dicken Schuhen, Sommer und Winter, hielt sich fest an den Griffen, die ein Rot auf ihren Fingern ließen, rechts und links, und zog sich hoch daran.

Irgendwann gefielen Lydia diese Dinge nicht mehr, ohne daß sie oder ich gewußt hätten, warum, nicht das Fernglas, nicht das Springen, nicht die Zuckerwatte, rosa und weiß, aus der wir mit spitzen Fingern zupften und die einen Film aus Kristall auf unseren Zähnen ließ, nicht einmal mehr der Sommerhimmel, weit über uns, mit seinen Wolken, seinen wenigen Möwen und den Spuren der Flugzeuge, dieser Himmel, den Lydia immer gemocht hatte, weil er seine Farbe änderte, jedesmal wenn wir hochschauten. Davor hatte es uns gereicht, auf diesem Beton neben Booten zu liegen, und zum Himmel zu sehen, in dem die anderen Kinder zwischen Quellwolken und Möwen Drachen fliegen ließen, die sie von den Zirkusleuten hatten und die, sobald sich der Wind änderte, neben unseren Köpfen auf den Beton krachten, mit der spitzen Seite nach unten, wie ein Pfeil, den man abgeschossen hat. Wir nannten diesen Sommerhimmel unseren Himmel, weil es uns gefiel, wie er es zuließ, daß wir Drachen hochschickten, hochjagten, hoch zu ihm, und daß er seine Farbe änderte, von Augenblick zu Augenblick.

An ihrem sechzehnten Geburtstag legte Lydia die Kleider ab, die ihre Mutter für uns gekauft hatte, und faßte sie nicht mehr an. Kleider, die Lydias Mutter damals für uns bestellt hatte, mit dem wenigen Geld, das ihr blieb, aus Katalogen, die in den Hauseingängen lagen, im Frühling, im Herbst, und durch die Lydias Mutter tagelang, wochenlang blätterte, um Klammern an die Seiten zu stecken, Büroklammern aus Metall, jedesmal wenn ihr etwas gefiel, wenn sie glaubte, es könnte hübsch aussehen, an Lydia und an mir.

Zwei Jahre später packte Lydia ihre Taschen, die zwei kleinen, die sie hatte, mit dem Nötigsten, zwei Büchern, zwei Heften, einem Foto, nur wenigen Kleidern. Sie hatte uns, ihrer Mutter und mir, lange genug ihr neues Leben angekündigt, und ausgemalt, wie sie es sich vorstellte. Sie kannte es schon, jetzt, da es noch nicht angefangen hatte, selbst ihr neues Zimmer, das sie bald haben würde, richtete sie ein, in Gedanken, mit Möbeln und Teppichen, die anders aussehen würden als die ihrer Mutter. Handschuhe würde sie tragen, sagte Lydia damals, aus hellem Leder, zu jeder Jahreszeit, ihre Kleider würde sie in London kaufen, und nur noch dort, in keiner anderen Stadt der Welt. Und wir, Lydias Mutter und ich, ließen sie reden und glaubten nichts davon, weil Lydia oft von Dingen redete, die sie zu vergessen schien, sobald sie ausgesprochen waren, die auch nie eintrafen, wenigstens nicht so, wie Lydia es sich ausgemalt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Vielleicht wollten wir ihr auch nicht glauben, weil wir nicht wollten, daß unser Leben eins ohne Lydia sein würde. Zu mir sagte Lydia, wenn wir alt sind, du und ich, ganz alt, werden wir einander haben, immer noch, oder wieder, und dann wird uns nichts mehr etwas ausmachen, nicht der Herbst, nicht der Winter, nicht unser weißes Haar. Wir werden einander haben, wiederholte sie, zwei Monate bevor sie verschwand und mich zurückließ mit der Frage, wann.

Lydias Mutter saß lange vor dem Fenster auf einem Stuhl, auf einem, den Lydia und ich weiß gestrichen hatten, im Sommer davor, weil wir in jenem Sommer alle Möbel von Lydias Mutter weiß strichen. Lydias Mutter hatte es erlaubt, wie sie alles erlaubte, was Lydia vorhatte, und dann, nachdem Lydia gegangen war, saß sie vor dem Fenster, auf diesem einen Stuhl, auf den Lydia mitten ins Weiß einen Streifen und zwei Blumen in Blaßrosa gesetzt hatte, mit einer selbstgeschnittenen Schablone. Sie zog ihren Mantel nicht mehr aus, ihren alten karierten Mantel, der nicht zu ihrem Rock paßte und den Lydia immer schon hatte verstecken, verbrennen wollen, auch die Handschuhe ließ sie an und hielt sich mit einer Hand fest, an ihrem Mantel, als könne dieses Stück Stoff sie halten.

Wir warteten, Lydias Mutter und ich, und es dauerte, bis wir begriffen, daß Lydia nicht mehr da war, daß sie die Tür hatte hinter sich ins Schloß fallen lassen und weggeschwebt war, in ihrer dunklen Jacke, ihrer Mütze, die Treppe hinab, die Straße hinunter, bis zur Haltestelle, mit ihren zwei kleinen Taschen und ihrem Ticket, für das sie lange gespart hatte und mit dem sie jetzt zum Flughafen fuhr und dann in einer Maschine saß, der wir nicht nachschauen wollten, Lydias Mutter und ich. Aber wir stellten uns all das vor, während wir weiter auf weißen Stühlen am Fenster saßen, auch in den Tagen und Wochen danach, wir stellten uns auch vor, wie Lydia mit ihren zwei Taschen vor dem Einsteigen zur Besucherterrasse geeilt war, in den letzten Minuten, die ihr blieben, bevor ihr Flug aufgerufen wurde, um noch einmal durch dieses Fernrohr zu schauen, die Hände an den Griffen, rechts und links, ein letztes Mal.

Und jetzt liegt diese Karte auf meinem Bett, daneben ein Schlüssel, an einem roten Band, einem feuerroten, und eine Adresse, eine Londoner Adresse, Lydias Kußmund, auch in Feuerrot, den sie auf all ihre Briefe setzt, daneben der Pin-Code, den man eingeben muß, wenn man will, daß sich ihre Haustür öffnet, und sechs Worte, so wie sie immer schreibt, kein Brief, eher eine Parole, die sie ausgibt: Come to see – fall and me.

Es dauert, bis ich anrufe, vielleicht, weil ich zu oft daran denke, daß Lydia nie zu uns gekommen ist, nicht für einen Tag, nicht einmal, um ihre Mutter zu sehen, daß sie jeden Sommer Erklärungen fand, die nie Erklärungen waren, und weil ich immer noch zu oft daran denke, daß sie nicht nur so tat, als paßten wir nicht länger zu ihr, sondern weil sie mich glauben ließ, es habe nie gepaßt, mit uns, es habe sie und mich nie gegeben, keine Kleider aus Katalogen, keinen Platz, den wir Hafen nannten, keinen Zirkus, der ein Trampolin aufstellte und Drachen verteilte, keine Fernrohre, durch die Lydia sehen konnte. Ich bin erleichtert, jetzt, da nur das Band anspringt und Lydias Stimme auf Englisch die Telefonnummer wiederholt, die ich gewählt habe, und ich sage etwas, mit schwacher, zögerlicher Stimme, etwas, das anfängt mit: Hallo, Lydia, ja, mit einem schwachsinnigen, nichtssagenden Ja, das nichts einleitet, und später, wenige Stunden später, ruft Lydia zurück und fragt: Hast du was, du klingst so komisch?

Sie holt mich ab am Flughafen, lacht ihr weites Lachen, hört nicht auf damit, legt den Arm um meine Schulter, nimmt ihn nicht mehr weg, auch nicht später, in der Bahn, nicht auf der Rolltreppe, nicht im Hausflur, neben den Briefkästen, in dem kleinen Aufzug, der seine schwarzen Scherengitter schließt, uns nach oben trägt. Sie läßt mich aufschließen, mit dem Schlüssel an dem roten Bändchen, den sie mir geschickt hat, steht daneben, schaut auf meine Hände, darauf, wie ich den Schlüssel drehe, und sieht aus dabei, als habe sie auf diesen Augenblick gehofft, ihn herbeigesehnt.

Ihre Wohnung ist weiß gestrichen, in einem Weiß, das ins Cremefarbene kippt, ihr Bett mit weißer Wäsche bezogen, die Tücher in Bad und Küche sind weiß. Lydia sagt, eine andere Farbe kann sie nicht ertragen, nicht an Möbeln und Wänden. Ein Foto hat sie an die Wand gesteckt, mit zwei Nadeln, in der Küche, über der Spüle, neben weißen Kacheln, eines, das Lydias Mutter damals von uns gemacht hatte: Lydia und ich, ohne Köpfe. Der Ausschnitt zeigt nicht uns, er zeigt die neuen Kleider an uns, aus einem Stoff voller Blumen, voller winziger Blumen. Jeder kann uns sofort unterscheiden, auch ohne Köpfe, schon weil wir unsere Hände so halten, wie wir sie halten, jede auf ihre Art. Meine Hände sind geballt, es sieht aus, als wollte...

Erscheint lt. Verlag 28.10.2020
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beistand • Freude • Freundschaft • Glück • Treue • Verbundenheit
ISBN-10 3-10-491205-X / 310491205X
ISBN-13 978-3-10-491205-9 / 9783104912059
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