John Sinclair 2154 (eBook)
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-8860-2 (ISBN)
Hölle im Herzen
Die Schreie der Möwen erinnerten die einsame Gestalt an ihre eigenen Schreie, die sie ausgestoßen hatte, als sie gequält und geschändet worden war. Aber auch an die Todesschreie der Sterbenden. Sie waren ihr mindestens ebenso vertraut wie das beständige Rauschen der Wellen, die unermüdlich auf den Strand rollten und nach den nackten Füßen der Frau leckten, deren Blick über das dunkle Wasser gen Horizont schweifte, wo die Sonne vom Ozean verschlungen wurde.
Fast so wie er jenes Eiland verschlungen hatte, das über Jahrhunderte ihre Heimat gewesen war - Toghan, das entrückte Land ...
So nannten es zumindest die Menschen, die die Frau aufgenommen hatten.
Doch egal, welchen Namen man dieser verfluchten Insel auch geben mochte, für sie würde es stets die Hölle bleiben, die ihr alles genommen hatte.
Dennoch war sie ihr entkommen.
Als Einzige von Tausenden.
In Jennifer Goulds Herz herrschte seitdem gähnende, schmerzhafte Leere, ohne zu wissen, wie sie sie füllen konnte.
☆
Aus den Erinnerungen von Jennifer Gould
27. September 1587
Der Duft von frisch geschlagenem Holz lag in der milden Sommerluft und zauberte ein Lächeln auf Jennifers Lippen. Das gleichmäßige Klopfen, mit dem Simon und Benjamin abwechselnd die scharfen Klingen ihrer Äxte in das Fleisch des Baumes trieben, war das einzige Geräusch weit und breit.
Abgesehen von dem leisen Plätschern des Baches und dem Zwitschern der Vögel in den Baumwipfeln. Mit einem warmen Gefühl im Herzen beobachtete Jennifer, wie Bartholomew am Ufer des Bächleins auf den Fersen kauerte und Schiffchen aus frischem Laub schwimmen ließ. Er war jetzt fünf Jahre alt und seinem Vater Simon wie aus dem Gesicht geschnitten.
Jennifer hielt in ihrer Tätigkeit inne und nahm sich die Zeit, ihren Sohn ein Weilchen zu beobachten. In Gedanken versunken, mit einer Aufmerksamkeit, wie sie nur Kinder in jungen Jahren aufbrachten, ließ er ein Schiffchen nach dem anderen auf Reisen gehen, bis eine ganze Flotte den Bach hinunter zuckelte.
Simon hätte es zwar lieber gesehen, wenn Bartholomew sich mehr für die harte Arbeit der Männer interessiert oder zumindest mit den anderen Kindern gespielt hätte, doch Bart hielt sich am liebsten in der Nähe der Mutter auf, selbst wenn diese bloß Wäsche waschen ging.
»Wenn alles gut geht, werden wir nächsten Monat die Schule aufmachen können«, sagte Elisabeth, Benjamins Frau, die neben Jennifer am Ufer des Baches saß. »Dann wird auch Bartholomew Freunde in seinem Alter finden, wirst schon sehen. Und wenn nicht, dann bekommt er ja demnächst vielleicht ein kleines Brüderchen, um das er sich kümmern kann.«
Zaghaft lächelnd strich sich Jennifer über den Bauch. Bis ihr zu Bewusstsein kam, was Elisabeth’ Worte zu bedeuten hatten. Erschreckt blickte sie auf.
»Was meinst du damit? Woher weißt du das?«
Lächelnd zog Beth die nassen Hosen aus dem Wasser und rieb sie heftig auf dem Waschbrett. »Ich bin eine Frau. Ich spüre so etwas. Ich hoffe nur, dass Simon es verkraftet, in nächster Zeit etwas kürzertreten zu müssen.«
Jennifer spürte, wie sie rot wurde. »Waren wir denn so laut?«
»Laut genug!«, erwiderte Beth und musste lachen, als Jenny beschämt den Kopf senkte. Die Rothaarige legte ihrer Freundin die Hand auf den Unterarm. »Nun mach nicht so ein Gesicht. Da ist doch nichts dabei. Wir sind schließlich nicht mehr in England. Und wer weiß, wenn eure Liebe Früchte trägt, wird dein Kind das zweite sein, das in Roanoke das Licht der Welt erblickt.«
»Hoffentlich! Sofern uns die Indianer nicht vorher massakrieren!«
»Mach dir darüber mal keine Sorgen. Solange sie genug Feuerwasser bekommen, sind sie viel zu beschäftigt, um uns zu drangsalieren.«
Die Frauen beendeten ihre Arbeit und machten sich beladen mit Körben feuchter Wäsche auf den Rückweg zu den Blockhütten, die die Männer im Schweiße ihres Angesichts förmlich aus dem Wald herausgeschlagen hatten.
Das lag bereits sechs Wochen zurück, und Jennifer konnte ihr Glück immer noch nicht fassen.
Sie hatten es geschafft!
Nachdem die erste Kolonie es sich vergangenes Jahr mit den Wilden verscherzt hatte, waren die Siedler von Sir Francis Drake zurück nach England gebracht worden. Nur eine Handvoll Männer war zurückgeblieben, denn Drake hatte versprochen, zurückzukehren, doch dazu war es nie gekommen. Stattdessen hatte sich John White mit hundertfünfzig Männern und Frauen ein Jahr später auf den Weg gemacht, um einen zweiten Versuch zu wagen.
White, der bereits zu den ersten Kolonisten gehört hatte, befand sich in Begleitung seiner schwangeren Tochter Eleanor und ihres Gatten Ananias Dare, deren Töchterchen Virginia als erstes Kind englischer Siedler auf amerikanischem Boden zur Welt gekommen war. Aus diesem Grund war Jennifers Nachwuchs nur der zweite Platz vergönnt.
Beunruhigend war lediglich der Umstand, dass keiner der zurückgelassenen Männer bei ihrer Ankunft vor wenigen Wochen auf sie gewartet hatte. Die Kolonie war menschenleer gewesen, die Indianer wussten angeblich von nichts!
Ihre Angst dagegen war deutlich spürbar gewesen.
Doch davon hatten sich die Siedler nicht abschrecken lassen. Da die ursprüngliche Kolonie zu klein gewesen war, hatten die zurückgebliebenen Behausungen für die Neuankömmlinge nicht genug Platz geboten. Daher hatten sich die Gebrüder Gould mit ihren Frauen freiwillig bereit erklärt, abseits der eigentlichen Kolonie neue Blockhütten unter den Kronen der Pinien zu errichten.
Simon und Benjamin hatten darauf geachtet, dass sie nicht zu weit entfernt lagen, denn es konnte gut sein, dass man schnell Hilfe benötigte. Und so hatten sie einen schmalen Pfad in den dichten Wald geschlagen, über den die Goulds die Hauptsiedlung in nur dreißig Minuten erreichen konnten.
»Wenn wir die Wäsche aufgehängt haben, kannst du mir helfen, das Mittagessen vorzubereiten, Bartholomew.«
Der Junge trottete mit gesenktem Kopf neben seiner Mutter her und nickte stumm.
»Dad wird auf dem Rückweg die Fallen kontrollieren. Wer weiß? Mit ein wenig Glück gibt es einen saftigen Braten.«
»Kriegt Francis dann auch was ab?«, fragte Bart neugierig und blinzelte seine Mutter von unten her an.
»Francis kann sich selbst was zu Fressen fangen. Wenn Katzen zu dick werden, werden sie träge und fangen keine Mäuse mehr.«
»Hm, na gut.«
Jennifer lächelte und strich ihrem Sohn durch das dichte braune Haar, als sie bemerkte, dass Elisabeth stehen geblieben war. Irritiert wandte sich Jennifer zu der Frau ihres Schwagers um, deren Blick starr nach vorne gerichtet war, wo bereits die Dächer der Blockhütten durch die Kronen der Bäume schimmerten.
Rauch kräuselte sich aus den Schornsteinen und verfing sich zwischen den Ästen wie dünne Spinnweben. Kein Laut war zu hören, dabei hätten sie doch das Grunzen der Schweine und das Gackern der Hühner vernehmen müssen.
»Was ist los?«, erkundigte sich Jennifer bang.
»Da stimmt was nicht!«, murmelte Beth. »Es ist viel zu still. Hör mal, selbst die Vögel haben aufgehört zu zwitschern.« Sie hob den Kopf und ließ den Blick über die Baumkronen schweifen.
Jennifers Magen zog sich zusammen.
Sie erschrak, als sie aus der Ferne das Brechen und Bersten des Baumes hörte, den ihr Mann und sein Bruder gefällt hatten. Sie sah das leichte Zittern benachbarter Kronen, und kurz darauf senkte sich die Stille erneut über den Wald.
Beth nickte ihrer Freundin zu. »Lass uns weitergehen, sonst …«
Sie verstummte abrupt, und jetzt sah auch Jennifer die dunklen Erhebungen auf dem freien Platz zwischen Blockhütte und Hühnerstall. Der Wäschekorb entglitt ihrem Griff, die feuchte Kleidung fiel in den Schmutz.
Jennifer schlug die Hand vor den Mund. Ihr entsetzter Blick schweifte über die Kadaver der Hühner, die mit beispielloser Grausamkeit getötet worden waren.
»Das waren keine Tiere!«, flüsterte Beth betroffen. Sie stellte den eigenen Wäschekorb ab und ging auf die abgeschlachteten Hühner zu. Jennifer schob Bartholomew hinter sich und beobachtete, wie die Freundin vor dem Hahn stehen blieb, der aus zwei Hälften bestand.
»Er wurde mit einer Axt oder einem Beil getötet«, rief Elisabeth mit zitternder Stimme, während Jennifers Blick zum Schweinekoben glitt. Selbst aus der Entfernung sah sie die Pfeilschäfte aus den Kadavern ragen.
»Francis!«, kreischte Bartholomew in diesem Augenblick und warf sich gegen seine Mutter. Das Gesicht an ihrer Schürze verborgen, fing er hemmungslos zu Schluchzen an. Sie selbst musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um es ihm nicht gleichzutun.
Der Kater war an die Tür ihrer Blockhütte genagelt worden!
☆
Heute
»Sie sitzt jetzt schon seit Stunden dort draußen!«
Chloe Maxwell warf einen Blick aus dem Küchenfenster, das zur Rückseite des kleinen Häuschens am Strand von Kill Devil Hills wies. Gedankenverloren trocknete sie die Gabeln und Messer ab, die vor ihr im Besteckkorb standen, den sie aus der noch warmen Spülmaschine genommen hatte.
»Du musst ihr Zeit lassen! Du kannst nicht von ihr erwarten, dass sie einfach zur Tagesordnung übergeht. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hat.«
Rudy Grenville wischte die Restfeuchtigkeit von der Unterseite eines Tellers und stellte ihn zu den anderen auf den Stapel im Hängeschrank.
»Das tue ich auch nicht. Aber es ist bereits zwei Wochen her, seit wir sie aus Toghan zurückgebracht haben. Ich mache mir Sorgen!«
»Vergiss nicht, wie viel Zeit sie auf der Insel verbracht hat. Mehr als ein Menschenleben. Trotzdem ist sie um keinen Tag gealtert, wie sie gesagt hat.«
Chloe nickte und legte das Messer, das sie gerade abgetrocknet hatte, in die Besteckschublade.
»Das stimmt, auch wenn die Zeit dort schneller ablief als hier. Ich verlange ja auch gar nicht, dass sie so tut, als ob nichts gewesen wäre.« Sie lachte bitter. »Das ist auch wohl kaum möglich. Immerhin stammt sie aus einer Zeit, die über vierhundert Jahre zurückliegt. Genau das ist ja mein...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2019 |
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Reihe/Serie | John Sinclair |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Academy • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • e Book • eBook • E-Book • e books • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horrorthriller • Horror-Thriller • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Tony-Ballard • Top • Walking Dead |
ISBN-10 | 3-7325-8860-2 / 3732588602 |
ISBN-13 | 978-3-7325-8860-2 / 9783732588602 |
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